Das Murmeln der Mönche und Mitreden wollen

Wir sehen eine aktuelle Anzeige des Medienkonzerns Madsack für seine beiden Hannoveraner Zeitungen, Neue Presse und Hannoversche Allgemeine (größer: klicken) mit der Headline: „Weil mich jedes Wort mitreden lässt.“ Was ist die Botschaft?

mitredenDie Werbefuzzis des Madsack-Verlags meinen vielleicht, dass inhaltlich mitreden kann, wer ihre Zeitungen Wort für Wort liest. Sie meinen vermutlich nicht die Erkenntnis, dass die Stimmritze des Menschen sich beim leisen Lesen mitbewegt, dass wir also unwillkürlich nachsprechen, was wir lesen.
Das tonlose Lesen ist eine noch relativ junge Kunst. Die frühmittelalterlichen Bibliotheken waren von einem ständigen Murmeln erfüllt. Die unübersichtlichen Zeilen mit ihrem Buchstabeneinerlei, zwangen die lesenden Mönche zum lauten Buchstabieren, worauf der Philosoph Ivan Illich hingewiesen hat, wobei er die wunderbare Metapher prägte: „Murmler im Weinberg des Textes“.

Illich hat auch als erster darauf aufmerksam gemacht, dass der Übergang vom lauten zum leisen Lesen ein geistesgeschichtlicher Umbruch war. Er wurde erst möglich, nachdem im 7. Jahrhundert die Worttrennung eingeführt worden war, damit irische Bauern (idiotae) leichter Latein lernen konnten, wenn sie zu Mönchen ausgebildet wurden, um hinfort auf Europas Festland zu missionieren. Erst die Einteilung der Zeilen in Wörter, und in der Folge die Wortbilderkennung erlaubt das schnelle und leise Lesen. “Der Murmler im Weinberg des Textes” nimmt noch eine unterwürfige Haltung vor seinem Text ein. Denn er lässt die heiligen Texte ertönen, wodurch Schriftzeichen wieder zum gesprochenen Wort werden. Der leise Leser hingegen kann sich vom Text distanzieren, indem er ihm die Vertonung verweigert. Ein Text muss jedoch tönen, damit er seine volle Kraft entwickeln kann. Darum die Vorlesung an der Universität und die Autorenlesung. Ein Notarvertrag muss ebenfalls laut vorgelesen werden, um gültig zu werden.

Heutiger Schriftgebrauch hat sich weit vom Laut entfernt. Weil wir vermeintlich leise Leser sind, neigen wir auch zum leisen Schreiben, sind also versucht, Papierdeutsch zu schreiben, das heißt Sprache, die nicht tönt. Papierdeutsch wird vom Leser unbewusst abgelehnt. Deshalb sollte man beim Schreiben immer prüfen, ob der Text gut klingt, ob man ihn also gut vorlesen kann.

Ein anderer Aspekt ist das Mitreden. Der griechische Philosoph Platon hat im Phaidros schon früh eine Kritik an der Schrift formuliert, die gewiss heute noch gilt. Er lässt Sokrates vier Einwände gegen die Schrift vorbringen. In Kurzform:

1. Die Schrift schwäche das Gedächtnis.
2. Sie scheine zu sprechen, antworte jedoch nicht.
3. Sie richtet sich nicht an einen ausgewählten Adressatenkreis, sondern „schweife unter denen umher, die sie verstehen und unter denen, die sie nicht verstehen, weil sie gar nicht für sie gedacht ist.“
4. Der Autor stehe nicht mit seiner Person für die Rede ein.

Gerade Punkt 3 bringt nach Platon Scheinweise hervor, Leute also, die glauben aus der Schrift etwas verstanden zu haben und deshalb überall mitreden, auch bei Dingen, die sie nicht verstehen oder sich nur sinnlich erfahren lassen. Leider sind wir fast alle in der letzteren Situation. Außer den Alltagsbeobachtungen können wir nur in Erfahrung bringen, was irgendwo geschrieben steht. Das macht den jungen Mann aus der Zeitungswerbung zur Karikatur. In seiner Zeitung steht, „was schlau macht.“ Der amerikanische Journalist und Schriftsteller Ambrose Bierce höhnte schon Anfang des 20. Jahrhunderts in seinem sarkastischen Wörterbuch: The Devil’s Dictionary

„Erfrischend: Einen Menschen treffen, der alles glaubt, was in den Zeitungen steht.“

Schrecklich, wenn so ein Schlauberger auch noch überall mitreden will.

Fortsetzung folgt: „Über die Kraft des Mündlichen“

Bürogymnastik in der Teestübchen-Redaktion

fitnessbeauftragteHerrje, was war das heute Morgen wieder für ein Gedöns in der Redaktion. Volontär Hanno P. Schmock, Frau Kirchheim-Unterstadt und Frau Erlenberg sollten Frühsport nach einem Animationsvideo im Internet machen. Und der Vorturner wurde ihnen angekündigt als Stefan Raab. Aber dann wars im Video ein drahtiger Typ, der etwas mit einem schwarzen Theraband vorführte. Das war an der Wand befestigt, er stützte die Füße an die Wand und hielt sich mit dem Theraband in der Schwebe. Frau Kirchheim-Unterstadt und Frau Erlenberg waren offenbar enttäuscht, dass sie nicht vom beliebten TV-Moderator Stefan Raab animiert wurden. Mit den Worten „Bürogymnastik geht anders!“ gab sich Frau Kirchheim-Unterstadt überhaupt keine Mühe. Schreibkraft Frau Erlenberg ließ sich anstecken, und die beiden hingen bald durch wie, mit Verlaub, nasse Säcke, aber Volontär Schmock strengte sich an und es gelang ihm, auf der Wand zu stehen. Er wusste nämlich, dass dieser Stefan Raab nicht der vermeintlich Falsche war, sondern lange Zeit in München der Leiter Advertising beim Bauer Verlag gewesen war. Schmock kannte ihn vom Sehen, weil Raab der Chef seiner Exfreundin gewesen, die jetzt, nachdem Raab beim Verlag gekündigt hatte, zur stellvertretenden Leiterin der Anzeigenabteilung aufgestiegen war. Da wollte Volontär Schmock sich nicht blamieren, obwohl ihm klar sein musste, dass Raab ihn überhaupt nicht sehen könnte. Aber wer weiß das schon. Vielleicht waren die Computer-Bildschirme in der Redaktion längst gegen Zweiwegschirme ausgetauscht worden und sendeten alles ins Internet, mindestens aber in die Chefetage, wo Chefredakteur Trittenheim ein strenges Auge auf den Fitnesszustand seiner Mitarbeiter hatte.

Lange duldete er jedenfalls nicht, dass Frau Kirchheim-Unterstadt und Frau Erlenberg faul am Boden lagen und überhaupt nichts für ihre Fitness taten. Plötzlich stand er in der Tür und knurrte: „Wird heute vielleicht noch was gearbeitet?“
„In Vorbereitung, Chef“, beeilte sich Schmock zu versichern, stand stramm auf der Wand und versuchte sogar zu salutieren, “den Artikel heben wir heute noch ins Blatt.“
„Na, dann bin ich gespannt“, sagte der Trittenheim zweifelnd, „wie Sie auf der Wand stehen, wird das wohl ein Text über Wackelpudding.“

Ein blöder Untertitel und Bestrickendes von Tante Liesel

Herrje, was war das heute Morgen wieder für ein Aufruhr im Teestübchen-Bildarchiv. Ein Bild mit vielen Leuten drängte sich nach vorne. „Wenn wir jetzt nicht veröffentlicht werden, geht es uns wie diesem blöden Urban-Knitting-Bild. Wir müssen ein Jahr warten, bis wieder Endsommer ist und wir dem Trittenheim in den Kram passen.“
„Also gut“, sagte der Trittenheim, „eigentlich habe ich keine Verwendung für euch, aber wenn ich euch auf den Titel hebe, schreibe ich wohl was Blödes drunter.“ Er wusste nämlich, dass nicht nur die Titel totalitär sind, wie Kollege Merzmensch in seinem Video sagt, sondern auch und besonders die Untertitel.

fuck„Die Fuck family kommt!“ – Foto: Trithemius

„Die Fuck family hat doch keine Ahnung“, meckerten die bestrickten Bäume, „wer sagt denn, dass wir im Endsommer gut platziert wären. Es muss schließlich mindestens Herbstlaub an den Bäumen hängen, damit …“
„Stänkert hier nicht so rum, sonst hau ich euch heute schon raus!“, drohte der Trittenheim. Gesagt getan.

Aber jetzt fehlte Text. „Ich hätte da noch einen alten Riemen“, schlug Volontär Schmock vor, der in seiner kargen Freizeit unentgeltlich das „Lager“ genannte Archiv betreut, weil er endlich den Volontärstatus gegen den eines Redakteurs tauschen will.
„Dann hau ihn drunter, Schmock, brummte der Trittenheim genervt, „aber schreib ihn um, dass es keiner merkt!“
„Zyniker!“, entfuhr es Frau Kirchheim-Unterstadt aus der Registratur. Aber als sie „Tante Liesels Erbinnen“ gelesen hatte, zeigte sie sich gleich begeistert.
„Ist nur eine Fingerübung“, sagte Schmock verlegen, weil er doch schon lange in Frau Kirchheim-Unterstadt verliebt war.
5x-urban-knitting
Strickguerilla-Aktivistinnen – Tante Liesels Erbinnen
von Volontär Hanno P. Schmock

Die Texanerin Magda Sayeg aus Texas hat angeblich das Urban Knitting erfunden. Aber ich glaube, die erste Strickguerilla-Aktivistin war meine Patentante Liesel. Freilich hat sie nicht den öffentlichen Raum bestrickt, sondern mich. Ich erinnere mich mit Schaudern an einen grünen Pullover, den ich ihr zu Ehren tragen musste, weil sie ihn selbst gestrickt hatte, und er engte mich ein wie eine Wurstpelle, da Tante Liesel nie daran gedacht hat, ich könnte etwa seit dem ersten Pullover, den sie für mich gestrickt hat, gewachsen sein.

Später entwickelte ich eine Wollallergie, das hatte ich davon, und wer wie ich als Kind schon bestrickt wurde, ist für sein Leben gezeichnet. Alle möglichen Frauen verstanden und verstehen bis heute, mich zu bestricken. Sie verwenden mit Rücksicht auf meine Wollallergie unsichtbares Garn, das aber so reißfest ist wie der magische Faden Gleipnir, mit dem der Fenriswolf gefesselt wurde.

Ähem, vom Thema abgekommen. Es geht um Urban Knitting. Auf dem Höhepunkt der Emanzipationsbewegung hat so ziemlich jede Frau gestrickt, die etwas auf sich hielt. Frauen saßen nicht nur strickend in den Frauenteestuben, in denen kein Mann geduldet war, selbst nicht männliche Säuglinge im Kinderwagen. Sie strickten in den Seminaren, saßen da in ihr Strickzeug versunken, dass man dachte, die kriegen nichts mit, aber ab und zu hob eine den Kopf und gab ein harsches Statement gegen Frauendiskriminierung durch die männliche Sprache ab. Geblieben sind das scheußliche Binnen-I und noch scheußlichere Doppelformen wie Verwaltungsinspektoranwärter und Verwaltungsinspektoranwärterinnen. Alles nebenher herbeigestrickt.

Als das erreicht war Ende der 1980er Jahre, hörte die Strickerei auf. Erst im Jahre 2005 erfand die Texanerin Magda Sayeg das Stricken erneut, und weil vermutlich kein unschuldiges Patenkind in der Nähe war, bestrickte sie Bäume und andere Objekte im öffentlichen Raum. Prompt finden auch deutsche Frauen das Stricken wieder chic.
Urban-Knitting-an-der-Uni
In Hannover bestrickten Strickguerillia-Aktivistinnen letztens die berühmte Kröpke-Uhr im Stadtzentrum, und später verhüllten Strickwaren die hübschen Betonpoller vor dem Hauptgebäude der Leibniz-Universität. Da sehen sie fast aus wie kondomisierte Klopapierrollen auf den Hutablagen der Autos. Das hat nichts mit Penisneid zu tun. Strickguerilla-Aktivistinnen haben ein gutes Herz. Sie verschönern die Welt. Erst haben sie Mützchen für ihre Puppen gehäkelt, jetzt kriegen die Poller und auch nackte Bäume Mäntelchen, damit sie in den kommenden kalten Herbstnächten nicht frieren. Und natürlich sind die Pollerkondome und Baumstammmäntelchen nicht knallgrün, sondern bunt. Meine Tante Liesel würde staunen, wenn sie sehen würde, wie ihre Handarbeit sich weiterentwickelt hat. Aber vermutlich würde sie die Pollermützen zwei Nummern zu eng stricken und den Bäumen bliebe die Luft weg.

Fotos und Gif-Animation: Trithemius

Einiges über lange Wörter und die Innere Sprachpolizei

Ich möchte endlich mal einen richtig langen Text schreiben dürfen mit lauter breiten Wörtern wie Gesundheitswiederherstellungsmittel und Gesundheitswiederherstellungsmittelzusammenmischungsverhältniskundiger, ohne dass gleich so ein neumalkluger Sprachpolizist mit dem Zollstock kommt und sagt: „Ihr Text ist mindestens fünf Zentimeter zu breit für den Bürgersteig. Schreiben Sie doch statt Gesundheitswiederherstellungsmittel Arznei, Medizin oder von mir aus Medikament, obwohl Medikament hinsichtlich seiner Länge mit seinen zehn Buchstaben schon hart an der vom Ordnungsamt erlaubten Grenze ist. Aber hören Sie mal, Herr Trittenheim, Gesundheitswiederherstellungsmittelzusammenmischungsverhältniskundiger geht gar nicht. Jetzt stellen Sie sich das Wortungetüm doch mal für eine Zeitungsanzeige korrekt gegendert vor:

Rathausapotheke sucht freundliche Gesundheitswiederherstellungsmittelzusammenmischungsverhältniskundige bzw einen ähnlich freundlichen Gesundheitswiederherstellungsmittelzusammenmischungsverhältniskundigen

oder noch schlimmer als Kompositum mit Auszubildende.“

„Hallo, Herr Sprachpolizist, ist Ihnen jetzt vielleicht das Polizeipferd durchgegangen? Gehört mir etwa die Rathausapotheke? Ich hatte überhaupt nicht vor, eine Anzeige aufzugeben und diese Wörter zu gendern, sehe mich aber jetzt vor die Situation gestellt, dass die Aufmerksamkeit der Leserinnen und Leser durch Ihre blöden Beispiele schon überbeansprucht wurde und einige möglicherweise einen Angstzustand bei sich entdeckt haben, nämlich die Hippopotomonstrosesquippedaliophobie, womit in Fachkreisen die Angst vor langen Wörtern bezeichnet wird.“

„Was heißt denn hier Fachkreise? Diese Fachkreise sollten wissen, dass der gemeine Leser, die durchschnittliche Leserin lange Wörter überhaupt nicht liest. Wenn ich hier mal rumfrage, wer sich das Buchstabieren der langen Wörter einfach geschenkt hat, werden einige rot. Diese Damen- und Herrschaften könnten nicht mal zu ihrer Entschuldigung sagen, sie wären Hippopotomonstrosesquippedaliophobikerinnen bzw. Hippopotomonstrosesquippedaliophobiker, weil sie das Wort nämlich überhaupt nicht gelesen, sondern nur überflogen haben.“

„Ehrlich gesagt habe ich mal einen Text verfasst, worin Hippopotomonstrosesquippedaliophobie
vorkommt. Den würde ich mich auch nicht trauen bei einer Lesung vorzutragen, weil ich das Wort dann komplett lesen müsste. Da hätte ich Angst, mich zu verhaspeln oder die Leute wären schon eingeschlafen, wenn ich grad erst bei Hippopotomonstroses angekommen wäre. Dann hätte ich das elend komplizierte „quippedaliophobie“ ganz umsonst gelernt. Dabei ist der Text ganz interessant. Er handelt von einer alten Dame, die von der Vorstellung gepeinigt wird, in der Nacht würden kleine Männchen aus dem Fernseher steigen und ihre schönen Sachen gegen blödere Sachen austauschen. Mein Freund Filipe d’Accord, also der Musiker, mit dem ich letzten Samstag aufgetreten bin, der hat die Frau als Zivildienstleistender betreut. Einmal hat er zu ihr gesagt: „Da haben Sie aber einen schönen Blumenstrauß!“ Die alte Dame hat abgewunken, der wäre vorher noch viel schöner gewesen. Aber dann wären die aus dem Fernseher gekommen und hätten den Strauß gegen einen blöderen ausgetauscht.

Interessant ist ja, dass in den menschlichen Phobien nichts korrekt gegendert wird. Korrekt müsste es heißen, dass aus dem Fernseher Männchen und Fräuchen klettern, die alle schönen Sachen gegen blöde austauschen. Aber in einem solchen Fall höchster Gemeinheit will Frau eben nicht unbedingt mitgenannt werden.

Übrigens habe ich bei meiner Lesung am Samstag gemerkt, wie plötzlich im gesamten Auditorium die Aufmerksamkeit wegsackte, und das bei einer Textstelle, die überhaupt nicht langweilig, sondern im Gegenteil sehr lustig war und wo gelacht wurde. Da war ich für einen Moment irritiert, konnte das unkonzentrierte Volk aber durch meine geschickte Wortwahl und Beschreibung verrückter Vorgänge wieder einfangen. Da dachte ich nebenher, dass es nichts mit dem Lesen im Blog zu tun hat, wenn lange Texte nicht angenommen werden. Es ist nur so, dass die Aufmerksamkeit der Leute früher viel besser war. Aber dann kamen die aus dem Privatfernsehen und haben deren gute Aufmerksamkeit gegen eine Form von Aufmerksamkeit auf die blöden Werbepausen ausgetauscht, so dass die Leute sich mitten in meinem schönsten Text plötzlich fragen, wo eigentlich die Erdnüsse sind oder merken, sie müssen mal unbedingt Pipi machen.

Naja, besser sie gehen rechtzeitig, bevor ich einen lustigen Text lese, und es läuft vor Lachen alles in die Hose. Aber wenn das Malheur sowieso schon passiert ist, darf ich vielleicht endlich mal einen echt langen Text schreiben.

Hier stand vorher ein viel besserer Text. Kleine Fräuchen sind aus dem Internet gestiegen und haben ihn gegen einen schlechteren ausgetauscht. Wer/wie war das?!!!

Da war – ich bin – du bist! – Neues von der Historischen Avantgarde

Am rechten Gebäudeflügel des Rathauses löst sich gerade eine Hochzeitsgesellschaft auf. Vor mir über einen vom Regen aufgeweichten Weg vorbei am Maschteich stakst eine Frau mit silbernen Pömps durch den Matsch. Ein kleiner Junge, der wie ein mauretanischer Edelknabe verkleidet ist, trippelt an ihrer Seite, kann aber kaum Schritt halten. Sie denkt offenbar nicht daran, ihn unter den Schirm zu nehmen. Ihr Mohr darf ruhig nass werden, ihr roter Fummel jedoch nicht. Ich bedauere, keine Kamera bei mir zu haben, bevor ich realisiere, dass ich doch mit der eierlegenden Wollmilchsau in der Tasche meines Jacketts zumindest ein Bild knipsen könnte.
silberne-schuh
Obwohl die Frau auf ihren silbernen Pömps immer wieder einknickt, ist sie sehr schnell. Und bevor ich die Fotofunktion meines Smartphones gefunden habe, ist sie mir fast davongeeilt und hat ausgerechnet den lästigen Mohr fast abgehängt, so dass er mir ins Bild läuft. Da weiß ich sofort, das Bild ist verunglückt und wenn ich eine Karriere als Fotograf anstreben würde, könnte ich gleich nach Hause gehen.

Wie der Vlaamse Radio- en Televisieomroep (VRT) meldete, brachen in einem Brüsseler Kinocenter Krawalle aus, so dass es geräumt werden musste. Das Kinocenter hatte als Werbeaktion mit einem reduzierten Eintritt von 4 Euro gelockt und damit Tumulte ausgelöst.

Es ist Samstag. Der Erweiterungsbau des Sprengelmuseums Hannover wird eröffnet und der Eintritt ist nicht auf vier Euro reduziert, sondern sogar frei. Aber die steifen Hannoveraner verlieren nicht den Kopf, weil sie ein paar Euro sparen können. Tumulte bleiben aus. Es geht gesittet zu im vollen Eingangsbereich. In der Menge sehe ich meinen Blogfreund Merzmensch sofort. Seinetwegen bin ich hergekommen. Wir kennen uns als Blogger schon gut sieben Jahre, hatten uns vor Jahren schon einmal im Sprengelmuseum getroffen, als der junge Kunstwissenschaftler Merzmensch an einer Tagung über den Hannoveraner Dadaisten Kurt Schwitters teilgenommen hatte. Das Interesse an Kurt Schwitters verbindet uns. Schwittters hatte seine Spielart des Dadaismus Merz genannt, daher der Name Merzmensch. Die linksradikalen Berliner Dadaisten hatten den bürgerlichen Schwitters weitgehend abgelehnt. Dafür unterhielt Kurt Schwitters enge Kontakte zu El Lissizky, einem wichtigen Vertreter der russischen Avantgarde. Die beiden arbeiteten zusammen an der Zeitschrift MERZ.

Mein Freund Merzmensch kommt eigentlich aus Russland, ist aber ein weltgewandter Kosmopolit. Anders als ich ist er bestens ausgerüstet, mit Kamera, Objektivtasche und Laptop. Deshalb kann er über die Eröffnung des Erweiterungsbaus auch kompetenter berichten als ich, nämlich hier in seinem anregenden Wissenschaftsblog

Ich möchte etwas anderes zeigen, und zwar eine kuriose Parallele zwischen einem Video von mir und einem von Merzmensch. Bei 6:21 Minuten ist ein Interview mit einer Dame Pressesprecherin zu sehen, die vor lauter Erzählfreude nicht nur vergisst, was ich sie gefragt habe, sondern ein wenig selbstbezüglich meine Speicherkarte vollquatscht, bis …

Das Ende im Video von Merzmensch ist wie mir scheint, die sympathische Antwort.
Aber beide Videos lohnen sich natürlich, von Anfang an betrachtet zu werden. Viel Vergnügen!

Unterhaltung am Wochenende – Zwischenfall auf der Autobahn – eine Krimalkurzgeschichte

verviers

„Verdammt, Alter, sorg endlich dafür, dass die Scheißköter das Maul halten und sich hinlegen! Da soll sich einer auf’s Fahren konzentrieren!“
Rosen fuhr nah auf einen LKW auf und zog erst im letzten Moment auf die Überholspur hinüber.
„Jetzt reg dich ab, pass lieber auf, wo du hinfährst, du bringst uns noch in die Kiste mit deiner bescheuerten Fahrweise. Du fährst, als hättest du deinen Bock unterm Arsch!“
„Ja, wollte ich auch! Stattdessen kutschieren wir die stinkenden Viecher da hinten durch die Gegend! – Wieso können wir dem Kerl nicht einfach den Hals durchschneiden?“
„Weil Piano gesagt hat, wir sollen ihn mit den Hunden fertig machen! Also halt endlich die Schnauze und fahr vernünftig. Hab keine Lust, deinetwegen in eine Polizeikontrolle zu geraten!“
„Du hast Schiss vor den belgischen Bullen?“
Rosen lachte. „Die werden nicht wagen, uns anzuhalten, verstehst du! Danziger lässt ihnen sonst den Arsch bis zum Hals aufreißen!“
Recker drehte sich um und sah die beiden Hunde auf der Ladefläche des Kombis an. Er wies mit dem Zeigefinger auf den Teppich, und die weißen Schäferhundmischlinge legten sich winselnd nieder.
Eine Weile fuhren sie schweigend auf der Überholspur. Vor ihnen auf der rechten Spur tauchte ein Wohnwagengespann auf, das auf einem Fahrradständer am Heck zwei Erwachsenenfahrräder und zwei Kinderräder transportierte. Kurz vor ihnen scherte das Gespann aus, um einen Lkw zu überholen. Rosen musste voll in die Eisen!
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Bericht von meiner ethnologischen Forschungsreise von Hannover nach Aachen und zurück (Folge 6)

Folge 1Folge 2Folge 3Folge 4Folge 5

Es regnet, als wir vor die Tür treten. Ein Kollege holt mich unter seinen Schirm, unter dem auch mein alter Freund und Radsportkamerad Wolf schon steht. Da kommt Max, mein Gastgeber, hinzu und gibt mir sein Schlüsselbund, falls ich frühzeitig nach Hause will. Ich ahne, dass Wolf sich erinnert, wie oft er mir damals seinen Wohnungsschlüssel überlassen hat, damit ich mit Lisette allein sein konnte, am Anfang der Beziehung, in der Zeit der Heimlichkeiten und ungeordneten Verhältnisse. Ein Stückchen bummeln wir zu Dritt unter dem Schirm Richtung Dom, dann verabschiede ich mich. Der Regen hat nachgelassen.
MünsterplatzAachener Münsterplatz – Foto: Trithemius (Größer: Klicken)

Ich gehe über den Münsterplatz Richtung Elisengarten. Dort sind vor Jahren die Archäologen auf allen Vieren durch eine weite Grube gekrochen und haben hingebungsvoll die kärglichen menschlichen Spuren aus Jahrtausenden gesichert. Die Grube war von einem Zeltdach gegen Regen geschützt gewesen. Jetzt steht ein gläserner Pavillon über dem Loch. Durch ein großes Archäologisches Fenster schaue ich hinab in 5000 Jahre Siedlungsgeschichte. Es gibt sechs mit Schildchen datierte Ebenen. Wie schwierig wird es gewesen sein, alle Ebenen sauber auseinander zu halten? Haben Maulwurf, Wühlmaus oder Erdratte die Jahrhunderte nicht durcheinander gebracht?

Noch unsicherer sind ja menschliche Erinnerungen geordnet. So viele Erlebnisse ragen willkürlich aus unterschiedlichen Vergangenheitsschichten hinauf in die Gegenwart. Das eigene Ich besteht fast ausschließlich aus Vergangenheit, die sich in Erinnerungen verfestigt hat. Daher findet man das Leben auch am Morgen genauso vor, wie man es am Abend verlassen hat.

Drüben am Beginn der Fußgängerzone an einem Samstagmorgen. Plötzlich tauchte Lisette aus dem Menschengewühl auf, und für einige Augenblicke wagten wir, Seit an Seit zu gehen, obwohl ihr Mann ebenfalls in der Innenstadt unterwegs sein könnte. Sie hatte dunkle Schatten unter ihren Augen, die Spuren einer schlaflosen Nacht.
„Was ist mit dir?“
„Letzte Nacht im Bett hatte ich mit Alois eine Auseinandersetzung ohne Worte“, sagte sie, und ein bitterer Zug war um ihren Mund. „Für einen Moment wollte ich nachgeben, doch ich konnte mich nicht öffnen.“

Hast du je ein Wort gehört, dass dir einen solchen Schmerz bereitet? Die Stelle in meinem Gehirn, in die sich diese Vorstellung eingebrannt hat, wie gerne hätte ich sie veröden lassen. Damals wollte ich oft nicht mehr in meinem Kopf sein, wollte die zehrende Sehnsucht, die quälenden Verlustängste und Eifersuchtsgefühle nicht mehr haben. Warum, habe ich mich da oft gefragt, warum kann ich beim Erwachen nicht jemand anders sein? Ein Seehund zum Beispiel, der einen bunten Ball auf seiner Schnauze balanciert. Und habe ich meine Sache gut gemacht, wirft man mir vom Beckenrand köstlichen Fisch zu.

Gut, dass mit den Jahren alles versteinert. Seltsam hellsichtig hatte mein junger Freund Herr Leisetöne mir letztens in unserer Hannoveraner Stammkneipe Vogelfrei gesagt, mein Gehirn habe eine kristalline Struktur und deshalb wäre ich nicht mehr so rasch im Denken. Ich hatte das unverschämt gefunden und die Idee weit von mir gewiesen. Obwohl die Vorstellung von einer verzweigten, unermesslichen Höhle mit Hallen voller Erinnerungen aus blitzenden Kristallstufen, in deren Prismen sich die Gedankenfunken tausendfach brechen, so dass sie aufgespalten werden in sich überlagernde Haupt- und Nebenregenbögen, recht artig ist.

Leider musste ich die Schilderung meines wunderbaren kristallinen Gehirns abbrechen, weil ich niemandem einen noch längeren Satz zumuten will, in dem das bedeutungstragende Verb erst ganz am Schluss erscheint, wobei „ist“ ja nur ein Hilfsverb ist und noch dieses Satzadjektiv “artig” braucht. Über Grammatik war ich später mit Leisetöne in Streit geraten, in dessen Verlauf wir uns anschrien. Ich habe das aber genossen, denn ich hatte mich noch nie zuvor mit jemandem wegen Grammatik angeschrien. Es ging um starke und schwache Nerven äh Verben.

Die meisten meiner Kollegen, die sich jetzt da drüben den Dom anschauen, hatten am liebsten über ihre Reisen, ihre Autos oder ihre Kreditkarten gesprochen, wo sie gut gegessen und wo in der Provence sie ein kleines Weingut entdeckt hatten, bei dem sie jetzt immer ihren Wein holen. Anders mein Gastgeber Max. Er ist ein vielseitig interessierter Mann, kompetenter Biologe und leidenschaftlicher Fossiliensammler, hat überall in der Wohnung Vitrinen mit Fossilien aus dem Schwarzwald, die er selbst gefunden und präpariert hat. Am Abend sitzen wir in geselliger Runde inmitten von Millionen Jahren der Erdgeschichte, Max, seine Partnerin Judith und ich. Allein diese launigen Abende rechtfertigen meine lange Reise von Hannover nach Aachen. Von der Rückfahrt gibt es kaum etwas zu berichten, nur, dass ich inzwischen wieder zu Hause bin.
E N D E

Bericht von meiner ethnologischen Forschungsreise von Hannover nach Aachen und zurück (Folge 5)

Folge 1Folge 2Folge 3Folge 4

middelbergDas Treffen der Kolleginnen und Kollegen soll im Café M. in der Altstadt sein, und anschließend wird es eine Domführung geben. An der werde ich nicht teilnehmen, weil ich den Dom und die Domführung kenne und noch durch die Stadt streifen will. Als ich im Juli die Einladung bekam und den Namen des Cafés las, konnte ich mich nicht erinnern, je dort gewesen zu sein. Aber wie wir das Caféhaus betreten und zur ersten Etage hinaufsteigen, wo ein Raum für uns reserviert ist, erkenne ich die Treppe an ihrem goldenen Handlauf. Nach dem Hallo der Kolleginnen und Kollegen, nach Händeschütteln und Umarmungen, als alle gut sitzen, schwingt sich ein besonders redefreudiger Kollege auf, den ganzen Tisch mit rasend interessanten Reiseerlebnissen zu unterhalten. Früher konnte man seine Mitmenschen quälen mit Dia-Abenden, wo alle 500 Urlaubsdias vorgeführt wurden. Das hier ist ähnlich. Da schweift meine Aufmerksamkeit ab, denn ich kann von meinem Platz aus die Rückwand des Hauptraums sehen, wo in einer Nische zwei Tische stehen. Da geht ein archäologisches Fenster auf und ich sehe hinab in den Dezember 1998.

Damals war mein geordnetes Leben auseinander geflogen, und es geschah in Zeitlupe, so dass ich die Explosion und ihre verheerenden Folgen beobachten konnte. Ich hatte eine verheiratete Frau kennen gelernt, derweil ihr Ehemann beruflich für ein Jahr in Afrika war. Sie hatte den Eindruck erweckt, hatte es wohl auch selbst geglaubt, die Ehe bestünde nur noch auf dem Papier. Als er arglos zurückkam und seiner Ehe wieder Bestand verleihen wollte, war ich schon rettungslos in seine Frau verliebt. Ich liebte sie wie ich nie zuvor geliebt hatte, zumal meine Ehe lange Zeit nur noch Familienroutine gewesen war. Es folgte eine schreckliche Zeit der Heimlichkeiten in dieser engen Stadt Aachen, wo fast jeder jeden kennt.

Wir saßen im Café M., genau an der Stelle, an der einmal Lisettes Bett gestanden hatte, vor dem Umbau des Hauses, als auf der ersten Etage noch Wohnungen gewesen waren. Es war ein kalter Dezembertag, wir hatten uns am windigen Markt getroffen und uns besonders unbehaust gefühlt. Ich wünschte mir eine Zeitreise, dass wir uns in ihr Bett legen könnten, und ich würde sie aufwärmen. Freilich müsste dann etwas mit all den anderen Caféhausbesuchern geschehen. Am besten würden sie in eine Art Zeitstarre fallen, damit wenigstens Lisettes Zimmer von ihnen befreit werden könnte. Ich stellte mir vor, sie in der Garderobenecke aufzustapeln. Da hätte ich eine Menge zu tun. Als wir ankamen, hatte eine Türsteherin am Eingang den Besucherverkehr geregelt und uns zunächst gar keine Hoffnung auf einen Platz gemacht. Lisette war jedoch einfach vorangegangen, und als wir oben ankamen, standen gerade zwei feine Damen auf, richteten ihre Hütchen, hüllten sich in Mäntel, sammelten die unzähligen Einkaufstüten ein und verzogen sich. Ich betrachtete sie genau und versuchte etwas in ihnen zu entdecken, was meinen Verdacht bestätigte, die zwei wären nur Platzhalterinnen gewesen, die der kosmische Schachspieler wunschgemäß abzog, als Lisette eintraf. Ich allein hätte mich niemals freiwillig in diesen Raum begeben, in dem die Tische so klein waren, so nah beieinander standen und ein Publikum aus gut situierten älteren Damen und wenigen Herren derart dicht an dicht saß, dass mir das Herz eng wurde. Wir redeten nur halblaut, und trotzdem fühlte ich mich von dem Ehepaar gleich nebenan belauscht. Lisette rührte in ihrer heißen Schokolade und erzählte von ihrem Arztbesuch.
„Ich dachte, du wärst in deiner Ehe glücklich“, hatte Dr. Herwig gesagt und nach mir gefragt, der ich auch sein Patient war, was sie denn mit mir zu tun habe.
„Aber ich habe dichtgemacht“, sagte Lisette. „ich lasse mich doch von dem nicht aushorchen.“
„Vermutlich wird er sich seinen Teil dazu denken, dass wir beide fast gleichzeitig mit Sturzverletzungen bei ihm gewesen sind.“
Wir lachten. Lisette legte ihren Tabak auf den Tisch und ließ sich von mir eine Zigarette drehen, ein Zeichen, dass sie ihre Erkältung endlich überwunden hatte.
„Im Niederländischen gibt es das Wort ‚valpartij‘“, sagte ich. “Wenn es bei einem Radrennen zu einem Massensturz kommt, dann rufen die Reporter aufgeregt: ‚Valpartij, valpartij‘. Das klingt, als wäre es eine gesellige Veranstaltung, ein Ausflug, wie im Deutschen bei dem Wort Landpartie, Kahnpartie oder so. Was wir im November zusammen hatten, das war auch eine valpartij.“ „Ja, mit unserer valpartij hat alles angefangen“, sagte Lisette.

Der Kollege am Tisch schwärmt noch immer von seiner Reise und der gestohlenen Brieftasche und wie er alle seine Kreditkarten hat sperren lassen haben musste, gehabt worden zu sein, äh … Dingenskirchen. Ich kann ein Gähnen kaum unterdrücken. Das archäologische Fenster trübt sich ein und schließt sich.

Fortsetzung