Die letzte Freinacht (5) – Sabines Bruder

Folge 1Folge 2Folge 3 Folge 4

„Jetzt besuchen wir Sabine, das scharfe Luder!“, hat Neuhaus gesagt. Sie ist eine erst kürzlich Zugezogene und erregt unsere Phantasie. Im Schein der Straßenlaterne legen wir an der Front des Hauses die Leiter an. Im Giebel sitzt ein einziges Fenster, und dahinter soll Sabine schlafen. Neuhaus gibt mir die Taschenlampe, und ich klettere die Leiter hoch. Am Fenster knipse ich die Lampe an und leuchte ins Zimmer. Natürlich hatte ich erwartet, Sabine zu sehen. Ein scharfes Luder zwischen den Kissen. Aber wie der Lichtkegel durch das Zimmer wandert, wird ein Plumeau hochgerissen und eine Gestalt taucht weg. Und dann ruckt und zuckt es komisch unterm Plumeau. Eine ganze Zeit beleuchte ich das Gezappel, doch dann tut sich plötzlich nichts mehr. Auch als ich mit der Lampe an die Scheibe ticke, bekomme ich nicht mal eine Nasenspitze zu sehen.
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Die letzte Freinacht (4) – Langer Heimweg

Folge 1Folge 2Folge 3
Wie wir den Baum freudig durch den Wald begleiten, kommt einer von der Straße her. Er trägt sein Fahrrad durch den Matsch. Den Förster hat er gesehen. Der lauert oben am Beginn der zweiten Bruchstraße, und allein wär er auch nicht. Das ist schlechte Nachricht. Solche überbringt man nicht. Zur Strafe müsste der Bote geschlagen werden. Dann werden wir eben einen Umweg machen, entscheiden die Jungbauern. Soll er warten bis er schwarz wird, der Scheißförster. Wenn wir uns weiter links halten, können wir einen Bogen beschreiben.
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Die letzte Freinacht (3) – Der Baum muss dran glauben

Folge 1Folge 2
Es ist einsam im Bruch. Und trotzdem müssen wir uns vor dem Förster in Acht nehmen. Am Wald wird der Anhänger entladen und abgekoppelt. Die schwere Kette wird um die Anhängerkupplung des Traktors gewunden, Sägen und Äxte müssen wir tragen. Der Traktor fährt voran, biegt bald in einen matschigen Weg ein, wo er schwer mit den Hinterreifen arbeiten muss. Schlammspritzer fliegen vom Profil der durchdrehenden Reifen, und wir belachen die Leichtsinnigen, die direkt dahinter gegangen sind. Kletschauge und Schmiermaul.
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Die letzte Freinacht (2) – Vom Lesen der Landschaft

Folge 1Folge 2

Es ist viel Unruhe in der Landschaft, wenn man auf einem Traktorgespann über Feldwege fährt. Das Bild schaukelt und ruckelt, kippt mal zur Seite, wieder nach hinten, und plötzlich ist es ganz weg. Da liege ich auf der Ladepritsche und gucke erstaunt in den dämmernden Himmel. Das macht der Korn. Das Gespann biegt in die Bruchstraße ein.

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Die letzte Freinacht (1) – Der Maibaum wird geholt

Die Tür zur Kneipe wird aufgestoßen, und Mistgeruch weht herein. Büb, der Jungbauer, steht in der Tür. Er hat sein Gespann draußen, es kann los gehen. Wir sind guter Dinge, die Dämmerung naht. Es geht durch den Hohlweg in den Bruch hinunter. Im Ausläufer des mächtigen Auwaldes finden wir unseren Baum. Die meisten von uns sitzen auf dem Anhänger, wo Äxte und Sägen und eine schwere Kette liegen. Will und ein anderer stehen hinten auf dem Traktor, rechts und links der Anhängerkupplung, und manchmal rufen sie Büb etwas in den Nacken.
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An der Y-Gabel (2) – Achterbahnfahrt mit Lisette

Meine Exschülerin Christine, mit der ich 25 Jahre nach ihrem Abitur 1995 noch brieflichen Kontakt halte, schrieb mir eine Ansichtskarte aus Aachen. Sie sei nach zehn Jahren mal wieder dort gewesen, habe an mich denken müssen und die Ansichtskarte im Buchladen neben dem Café Kittel auf der Pontstraße gekauft. Wie schön, dachte ich, und dass es beides noch gibt, weil das Café Kittel entscheidende Bedeutung für meinen Lebensweg hatte. Ich säße nicht hier, wäre ein anderer und würde vermutlich nicht einmal bloggen, wüsste auch gar nicht, dass sich im Jahr 1998 mein Leben verzweigt hat wie an einer Ypsilongabel, dass mein altes beschauliches Dasein als Familienvater und Lehrer auseinanderflog und mein Leben den Weg nahm, in dessen Folge ich in Hannover landete und diese Zeilen schreibe. [Kartentext Aachener (Öcher) Platt: „Was du erzählst, das muss nicht stimmen. Es muss nur schön sein.“]

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Hinter der Tür (3) – Der entsprungene Küster

Hinter der Tür (1) – Die abwesende Italienerin
Hinter der Tür (2) – Die oude man
Die Hausgemeinschaft war eigentlich keine, denn jede der 16 Mietparteien lebte für sich. Man grüßte sich bei zufälligen Begegnungen im Treppenhaus, aber ein Wort mehr wurde nicht gewechselt. Darum hatte Herr Dumont sich angewöhnt, Pakete anzunehmen. Auf diese Weise bekam er die anderen Mieter wenigsten zu Gesicht und konnte die Namen auf den Briefkästen zuordnen. Irgendwo über ihm wohnte der Mann, den er bei sich „Der entsprungene Küster“ getauft hatte, weil er, nachdem ihn seine Frau aus wohl guten Gründen verlassen hatte, wie ein liebestoller Kater um die Häuser zog. Über Dritte hatte Dumont erfahren, dass er Küster in der Marktkirche war, jener Kirche, an deren östlichen Klinkerwand sich ein riesiges Pentagramm befindet. Es steht auf der Spitze, und Herr Dumont wusste, dass dieses umgekehrte Pentagramm „Drudenfuß“ genannt wird. Druden sind nächtliche Spukgeister, die einen vogelartigen Fußabdruck hinterlassen, der an ein verkehrtes Pentagramm erinnert. Das Pentagramm stammt aus vorchristlicher Zeit, jener Zeit, die gemeinhin als graue Vorzeit bezeichnet wird, weil es aus ihr keine Geschichtsschreibung gibt. Von dort ist das Pentagramm überliefert, frag lieber nicht wie, und galt schon in der Antike als Glückssymbol. Der Drudenfuß jedoch ist das Zeichen der Teufelanbeter.

    „Nur dumme Leute glauben, dass man das Pentagramm auf den Kopf stellen muss, um es zum Drudenfuß zu verwandeln“,

hatte Herr Dumont einmal aufgeschrieben. Er hatte herausgefunden, dass es reicht, das Pentagramm nur um 36 Grad zu drehen, und schon wird aus ihm der Drudenfuß. „So eng liegen Glück und Satan beisammen“, befand Herr Dumont.

    „Und ist nicht überhaupt Glück ein Geschenk des Satans?“,

hatte er weiter in sein Tagebuch geschrieben. Schon seit er schreiben konnte, damals während seiner Unglückszeit in der Grottenwohnung der Großeltern, führte Herr Dumont Tagebuch. Kürzlich hatte er noch schaudernd die Aufzeichnungen seiner Horrornächte nachgelesen. Er hatte sein Tagebuch trotzig auf Deutsch verfasst, obwohl doch seine Großeltern nur Niederländisch mit ihm sprachen, aber das verderbte Lèmbörgs Plat, das limburgische Platt, das ihm wie der Dialekt der Hölle vorkam. Als er in seinen Tagebüchern, es waren mehr kleine Hefte, unvorsichtiger Weise gelesen hatte, da war die Furcht wieder hochgekommen, so dass er die Tür in seinem Flur mit einem Vorhang abhängen musste. Wie er dort zwei Haken in die Wand klopfte, woran die Vorhangstange hängen sollte, war ihm, als hätte er auf seine Hammerschläge ein fernes Wummern gehört – gleich einer Antwort.

Wird fortgesetzt

Empusen in der Frühlingssonne

egen meine Gewohnheit schrieb ich mir heute ein Wort in ein Buch, weil es mir völlig fremd war, aber trotzdem einen Inhalt vermittelte. Fachsprachlich: Trotz Unkenntnis der Denotation stellen sich Konnotationen ein. Es liegt vermutlich am Kontext, an der Handschrift von Saragossa. So glaube ich, dass eine Empuse eher dem Kerzenschein angehört als der Frühlingssone.

– dazu passt die vom Präraffaeliten William Morris entworfene Troy type und vermittelt mir grad das Gefühl, das Wort zu verstehen.

Lob einer kleinen Chilipflanze

Als mein mittlerer Sohn zum Osterbesuch eintraf, trug er in der Hand einen kleinen Blumentopf, darin ein Pflänzchen. Es ist eine Chilipflanze, von denen er einige angezüchtet hat und nach deren Gedeihen ich mich bei unseren Telefongesprächen immer erkundigt hatte. Nun freue ich mich, eine solche Pflanze zu besitzen. Mich fasziniert, wie sehr das Pflänzchen meine Aufmerksamkeit fesselt. Freilich ist das Pflänzchen etwas Besonderes, ein Geschenk. Es hat eine lange Zugreise sowie eine Fahrt mit der Straßenbahn hinter sich und ist unterwegs sorgsam transportiert worden.

Aber der Grund ist noch ein anderer, nämlich der gleiche, wenn bei einer Wattwanderung so ein Wattführer einen Wattwurm ausgräbt. Er hat eine kleine Schüppe, sticht sie in den Wattboden ein und hebt die Scholle aus. Dann fummelt er aus dem Schlamm den Wurm und legt ihn in seine schlammige Handfläche, um ihn zu zeigen. Alle drängen sich um ihn herum und betrachten neugierig einen sich windenden Wurm, den der Wattführer mit dem Zeigefinger ein bisschen ärgert, falls er schreckensstarr ist. Dabei erzählt er, wie wichtig dieser Wurm für das Watt ist, und man merkt, er hat Ehrfurcht gegenüber dem Wurm. Wenn ich mal im Watt unterwegs war, es ist schon eine Weile her, dann habe ich immer gedacht, wie seltsam der Mensch ist. Dort im Watt gibt es eigentlich außer Schlamm und Prielen nicht viel zu sehen. Plötzlich ist man bereit, einen Wurm zu würdigen. Es gibt halt nicht viel mehr als diesen Wurm im Watt. Doch in touristischen Gegenden auf dem Festland, im Harz, im Westerwald oder in der Eifel, in diesen Landschaften gibt es Flora und Fauna in Hülle und Fülle. Glaubst du, wenn du dort eine Führung mitmachst, der Fremdenführer gräbt dir einen Wurm aus? Kannst es ja mal versuchen und danach fragen. Es gibt so viele andere Dinge zu sehen, dass ein Festlandwurm nie mit Fremdenführern in Berührung kommt.

Seit ich aus unserem Haus in Aachen ausgezogen bin, habe ich weder Garten noch Balkon gehabt. Vorher habe ich den eigenen Garten kaum gewürdigt. Doch allein dieses Pflänzchen zu hegen, kommt mir vor wie gärtnern. Seine Zartheit, seine sieben Blättchen haben mein Wohlgefallen, und ich stehe mehrmals am Tag von meinem Arbeitsplatz auf, um es ins rechte Licht zu rücken. (Foto: JvdL)

Einfach mal vor die Tür

Bei den besseren Häusern an der Wittekindstraße nahe dem Lichtenbergplatz sind in einem Karton wieder Bücher ausgesetzt. Im Vorbeigehen werfe ich einen Blick hinein, lese auf dem Buchrücken eines weinroten Leineneinbands Jan Graf Potocki und weiß sofort, was es ist: „Die Handschrift von Saragossa.“ Dieses Meisterwerk der Phantastik mit seiner komplexen Erzählstruktur von Rahmenhandlung und unzähligen in einander verschachtelten Binnenerzählungen habe ich Ende der 1970-er Jahre als hübsche zweibändige Insel-Taschenbuchausgabe gekauft und gelesen.

Aber das hier ist ein echtes Ostergeschenk. Ich frage mich, wer ein solches Buch vor die Tür setzt. Das würde ich nicht mal mit Herders sprachphilosophischen Schriften tun. Das Buch hatte ich mir zu Hause gegriffen, um im Park etwas lesen zu können. Nun muss ich beide Bücher tragen. Auch Herders Schriften sind mir quasi in die Hände gefallen. Ursprünglich gehörte das Buch der Aachener Stadtbibliothek. Die hatte eine Zweigstelle in meiner Schule. Ein städtischer Bibliothekar hatte es ausgemustert. Ich dachte: „Mal sehen, was Herder mir zu sagen hat“ und nahm es an mich. Leider macht mir Herder immer schon mit den ersten Sätzen Verdruss, weshalb mein guter Wille erneut versandet. Ich kanns nicht lesen! Vermutlich liegt es an der großartigen Geste, mit der Männer wie er zu schreiben beginnen, an dieser selbstverliebten Geschwätzigkeit, die einem auch aus Goethes Farbenlehre entgegenschlägt. Ich liebe die Bescheidenheit großer Geister, glaube auch fest, dass nur diese Eigenschaft rechtfertigt, von einem großen Geist zu sprechen. Weise sind nicht eitel. Weiterlesen