Speed Dating, Teil 2

„Ich heiße Johanna und bin Cellistin im Rundfunkorchester des NDR. Was machst du beruflich, Franz?“
„Ich bin wissenschaftlicher Autor.“
„Cool! Ich kannte noch nie einen Schreiberling.“
„Ich auch nicht. Wer will schon einen Schreiberling kennen?“
„Was ist schlimm an einem Schreiberling?“
„Ich sage ja auch nicht über dich, du wärst Musikantin. Die von der Straße wie einst die Kelly-Family, das sind Musikanten. Und Boulevardjournalisten wie die Schmocks von der Bildzeitung sind Schreiberlinge.
„Oh! Tut mir leid, ‚Schreiberling‘ hatte ich freundlich gemeint.“
„Schreiberling“ ist leider abwertend. Überhaupt sind die meisten Wörter mit dem Suffix -ling abwertend.“
„Ach ja? Das ist mir neu.“
„Feigling, Finsterling …“
„Und was ist mit Liebling, Säugling, Schützling?“
„Fiesling, Fremdling, Günstling, Häftling.“
„Jüngling, Sprössling, Winzling, Lehrling, Sperling?“
„Lüstling, Naivling, Primitivling, Schönling, Schwächling, Sträfling.“
„Beinling, Bratling, Bückling, Däumling, Steckling, Täufling, Zögling?“
„Weichling, Wüstling, Eindringling, Emporkömmling, Frechling, Mischling, Rohling, Schädling, Sonderling, Schreiberling.“
„Du machst mich schwindling! Fäustling, Fingerling, Findling, Frischling, Frühling, Häuptling, Keimling, Pfifferling, Riesling… äh … mir fällt kein Positiv-Beispiel mehr ein.“
„Mir keine negativen mehr.“
„Das wäre schon mal eine Übereinstimmling. Ach Herrjeh, ich bin ganz verwirrt! Ein Glück, dass uns der Gong gleich erlöst. Was schreibst du eigentlich, Franz?“
„Sachthemen.“
„Beispielsweise?“
„Über die Gaumenform der alten Inkas und wie sie das Wort Rasierpinsel ausgesprochen hätten, wenn sie es gekannt hätten.“
„Uff!“
„War nur Spaß, hehe.“

Fortsetzung

Speed-Dating, Teil 1

„Du kannst Lisette nicht ewig nachtrauern.“
„Mach ich ja gar nicht. Langsam kommt meine Ataraxie zurück.“
„Ataraxie?“
„Die Seelenruhe.Warum sollte ich sie für eine neue Frau aufs Spiel setzen? Ich kenne die ja nicht mal, hehe.“
„Allmählich wirst du kauzig. Du bist doch gerade erst 55 und viel zu jung für ein Leben als Einsiedler. Und du kannst nicht erwarten, dass eines Tages eine passende Frau bei dir klingelt, sich bis zur fünften Etage hinauf quält, um dich kennenzulernen.“
„Warum nicht?“
„Weil man dem Schicksal schon mal auf die Sprünge helfen muss.“
„Sagst du.“
„Ja, sage ich als deine Schwester. Weil ich mir Sorgen mache. Und deshalb habe ich dich zum Speed-Dating angemeldet.“
„Speed-Dating. Schon vom Wort kriege ich Herpes. Speed-Dating gehört für mich zur Prollkultur wie Essen vom Bringdienst und das „Manni“-Schild hinter der Windschutzscheibe eines LKW. Und das Geschehen erst. Da sitzen langweilige Menschen, krampfhaft darauf bedacht, ihre Einsamkeit zu verbergen und reden Blabla. Ich heiße Franz und du? Blablabla. Wohnst du auch in Münster? Blablabla. Warum bist du beim Speed-Dating? Blablabla.“
„Ist dir aufgefallen, dass nur die Antworten bei dir aus Blablabla bestehen? Man muss sich schon für sein Gegenüber interessieren.“
„Ich muss mich überhaupt nicht für wildfremde Frauen interessieren.“
„Du sollst sie ja auch kennenlernen.“
„Nervensäge!“
„Lieber Franz, bitte tu mir den Gefallen und geh da hin!“

„Ich heiße Franz und du?“
„Ich bin die Gundula.“

„Du schreckst zurück. Gefällt dir mein Name nicht?“
„Doch! Gundula. Warum nicht? Aber ‚Ich bin die Gundula‘ verstößt gegen mein Sprachgefühl.“
„Warum?“
„Das willst du nicht wissen.“
„Doch! Sags mir!“
„Aber nicht, dass es nachher Beschwerden gibt“
„Ich beschwere mich nicht. Wir müssen die Zeit ja irgendwie rumkriegen.“
„Also: Die Konkreta des deutschen Substantivs haben zwei Untergruppen: Name und Klassenbezeichnung. Klassenbezeichnungen wie: Frau, Bömmelmütze, Marderhund, Pelztierfarm können mit einem Artikel versehen werden. Personennamen jedoch bezeichnen Einzelwesen und keine Klasse von Wesen. Deshalb benötigen sie keinen Artikel. Es ist irreführend, wenn eine Frau sich vorstellt: „Ich bin die Sandra.“ Gehört sie also einer Klasse der Sandras an? Was kennzeichnet diese Klasse? Sind alle Sandras blond, aufgebrezelt und arbeiten in einem Fingernagelstudio?“
„Klingt, als hättest du heute Morgen den Duden gefrühstückt.“
„Besser als einen Clown.“
„Aber du bist schon ein komischer Kauz, gell?“
„Sagt meine Schwester auch. Ihretwegen bin ich überhaupt hier. Wenn sie mich nicht so gedrängt hätte …“

    Es gongt.

„Unsere Zeit ist um, Franz. Machs gut. Und vielen Dank an deine Schwester für die spezielle Erfahrung.“
„Hast du Lust, dass wir uns wiedersehen? Ich soll das fragen, hat sie mir aufgetragen.“
„Sag ihr einen schönen Gruß, bevor ich mich mit dir treffe, lackiere ich mir lieber mal in Ruhe die Fußnägel.“

Fortsetzung

Vorsicht! Nächtliche Aufhocker

Unweit der Aachener Bordellstraße steht eine Springbrunnenplastik namens Bahkauv. Die Plastik erinnert an einen nächtlichen Aufhocker, den angeblich schon Pippin der Jüngere, der Vater Karls des Großen, bekämpft hatte, leider vergeblich. Das Bahkauv lauerte noch Jahrhunderte an den Aachener Bächen. Bei Nacht erschreckte es betrunkene Männer, sprang in ihren Nacken und ließ sich tragen. Vermutlich haben notorische Zecher sich das Bahkauv ausgedacht, um ein für allemal ihr spätes Heimkehren zu erklären. Denn dass es schier unmöglich war, auf den wackligen Beinen der Trunkenheit ein schweres Bachkalb zu tragen, musste selbst die erboste Ehefrau einsehen, zumal es nicht ratsam war, das Bahkauv mit nach Hause zu bringen. Kam ein vom Bahkauv Befallener auf die Idee, um Erlösung zu beten, machte sich das teuflische Untier immer schwerer. Allein von Fluch und Schimpf wurde es leicht und hob sich davon. Das erklärt, warum im Herzen friedliche Mannspersonen nach einer Zechtour leider fluchen und schimpfen müssen, wenn sie es nach Hause schaffen wollen.

Eigentlich verbieten sich Witze oder Spekulationen über Familiennamen, doch manchmal kommt ein Name einfach zupass, weshalb man ja auch gerne „Nomen est Omen“ sagt. Jedenfalls hat eine Frida Hockauf, geborene Kloß, Weberin im Volkseigenen Betrieb (VEB) „Mechanische Weberei Zittau“, die Frida-Hockauf-Methode erfunden, eine in der DDR verwendete Methode zur Steigerung der Arbeitsproduktivität. Aufhocker fallen offenbar nicht vom Himmel, sondern werden von Menschen wie Frida Hockauf erdacht.

Den größten und mächtigsten Hockauf erdachte Konrad Zuse, Im Jahr 1938 baute er den ersten Computer, genannt Z (Zuse) 1. Der Z1 konnte 1536 Zeichen speichern, war aber so groß wie zwei Tischtennisplatten. Welch ein Glück für die Menschheit, dass die Nationalsozialisten mehr an Riesenkanonen, Raketen und Wunderwaffen interessiert waren und die Brisanz von Zuses Erfindung unterschätzt haben. Mein Rechner ist einer der Ururenkel. Er kommt ganz leise daher. Sein Lüfter ist kaum zu hören, und oft weiß ich nicht, ob er ausgeschaltet ist oder nur schlummert. Er ist eben ein heimtückisches Bahkauv, jederzeit bereit aufzuhocken und mich bei den Ohren zu dirigieren. Diesen Text hat es mich zu schreiben gezwungen. Seltsam, ich war nicht einmal betrunken.

Junggesellenabschied auf Pangea

Seit zwei wichtige Gründungsmitglieder des Hannover Cünstler Kollektivs (HaCK) aus Hannover weggezogen sind, versammelt sich das HaCK nur noch selten. Ich habe mich zum Ausgleich einer Autorengruppe angeschlossen, die sich 14-tägig trifft. Vor Tagen erreichte mich die Nachricht, dass es einen Junggesellenabschied zu feiern gebe. Konrad Fischer, einer der Weggegangenen, werde heiraten. Ob ich Ideen hätte, den Abend zu gestalten, fragte Herr Putzig an. Gerade ich! Freilich kenne ich derlei Veranstaltungen, aber nur aus ethnologischer Sicht:

Meistens samstags ziehen marodierende Haufen von Betrunkenen durch die Städte. Die jungen Männer tragen gleiche T-Shirts mit etwa der Aufschrift: „Wer ist der Depp?“ oder „Selbst ich habe eine abbekommen“ oder „Mach mich für meine Braut zum Affen.“ Der Anführer des Haufens ist entweder halbnackt oder trägt ulkige Frauenkleidung. Die weiblichen Haufen folgen einer mit Schleifen- und Girlanden geschmückten jungen Frau. Sie trägt einen Bauchladen mit Dingen, die man nicht haben möchte, und versucht sie „für einen guten Zweck“ zu verkaufen. Das Derbste erlebte ich in den Niederlanden. Da war der Delinquent von seinen Freunden am ganzen Körper rasiert worden und musste, nur mit einem Elefantenrüssel-Slip bekleidet, in ihrem Stammcafé heiße Bitterbollen servieren. Es hat sich um das Brauchtum des Junggesellenabschieds ein ganzer Wirtschaftszweig entwickelt. Die Kommerzialisierung (klick da mal) heizt den Brauch an, weshalb er nicht mehr aus der Welt zu schaffen ist, falls keine Steuern darauf erhoben werden oder eine EU-Verordnung ihn verbietet, weil alle die Lampen an haben.

Mein ethnologisches Wissen war nicht gefragt. Konrad wollte sicher kein albernes Brimborium. Wir trafen uns vor einem griechischen Restaurant, das Herr Putzig ausgewählt hatte, weil Konrad gerne Steaks isst. „Da gibt’s auch vegetarisch“, hatte Herr Putzig mir mitgeteilt, aber ich weiß längst, dass griechische Restaurants sich trotzig gegen den Zeitgeist anstemmen und fast nur Fleischgerichte anbieten, weshalb sie zu Reservaten verkommen, in denen der Stamm der Carnivoren unter sich bleiben kann, um lustvoll Körperteile vom toten Tier zu zersäbeln. Ich fühlte mich in die Vegetarier-Diaspora der frühen 1980-er Jahre versetzt. Aber das Bier war gut.

Draußen dann die erste Fragerunde für Konrad. Herr Putzig hatte zuvor Fragen eingesammelt und vorzügliche „Pangea-Karten“ damit gestaltet (im Bild). Irgendwann in den Anfängen von HaCK, als wir uns noch im Vogelfrei trafen, hatte Konrad uns verblüfft, weil er vom Urkontinent Pangea berichtete, als wäre er persönlich dort herumgelaufen. Überhaupt ist seine Fähigkeit legendär, abstruse Theorien zu entwickeln, die ihm so schnell keiner widerlegen kann. „Pangea“ ist daher zum geflügelten Wort geworden, mit dem wir uns erwehren, wenn die Fabulierlust mal wieder durchgeht mit Konrad.


Auf den Karten waren geschlossene und offene Fragen. Die geschlossenen sollte er wissend beantworten, bei den offenen sich durch forsche Behauptungen helfen. Versagte er, musste er einen Schnaps trinken, bei Erfolg trank einer von uns. Wir stromerten durch die laue Herbstnacht und machten fürs Fragen-Trinkspiel Station an Kiosken. Es gibt davon erstaunlich viele auf Pangea. In Ermangelung einer Stammkneipe, das Leinau hat ja den Besitzer gewechselt, versammelten wir uns später bei Herrn Putzig. Inzwischen war unsere Gruppe auf zehn angewachsen und eindeutig zu groß, denn solche Gruppen zerfasern, so dass Zweiergespäche geführt werden. Ich verabschiedete ich mich gegen Mitternacht, umarmte Konrad noch und kam gut nach Hause, begleitet von Jan, dem jüngsten Freund der Runde.

Zum guten Schluss eine Anekdote:

    Einmal war ein holländischer Mann nach seinem Junggesellenabschied so betrunken, dass er ins Koma fiel. Einer seiner Freunde, ein Arzt, legte ihm aus Jux einen Gipsverband ums Bein. Am nächsten Morgen erzählten Sie ihm, er habe sich im Suff das Bein gebrochen. Der Mann ist mit seinem Gipsbein in die Flitterwochen geflogen. Die Freunde hatten sich vorgenommen, hinterher zu fliegen und ihm den Gipsverband wieder abzunehmen. Doch der Mann hatte ihnen aus Angst vor derben Streichen ein falsches Reiseziel genannt. So verbrachte er die Flitterwochen mit einem Gipsbein.

Requiem für einen verschwundenen Text

Ein Freund von mir hat einen Text verloren. Er hätte ihn schon lange schreiben wollen, er wäre auch schon im Kopf fertig gewesen. Durch eine geringfügige Ablenkung durch mich sei ihm der Text abhanden gekommen, behauptet er. Könnte mir nicht passieren. Ich fange schon an zu schreiben, wenn ich noch gar nichts im Kopf habe, hehe! Allerdings muss ich schon seit Tagen daran denken, was ich kürzlich in Lichtenbergs Sudelbüchern gelesen habe. Er hat 62-erlei Weisen gezählt, „das Gesicht mit einem Ellbogen und einer Hand zu unterstützen“, beispielsweise: „Die meditierende, da zum Exempel der Daumen der rechten Hand an den rechten Schlaf gesetzt, der Zeigefinger aber über die Stirne weggeht und die übrigen Fingen nebst dem Zeigefinger eine Art Schirm über dem Auge formieren. (…)“ [L141]

Derlei differenzierte Selbstreflexion, denn wo anders als an sich hatte er die 62 Weisen beobachten und ausprobieren können, derlei differenzierte Selbstreflexion ist vermutlich versunken wie Lichtenbergs 18. Jahrhundert. Der heutige Mensch ist viel oberflächlicher. Allein die Grenze zu ziehen zwischen den Gesten, ist eine Verstandesleistung, das alles ohne Vorbild zu tun, erst recht. Doch am meisten fasziniert mich die Beharrlichkeit, mit der Lichtenberg ein derart absolut müßiges Beobachtungs- und Klassifizierungsprojekt vorangetrieben hat, ohne einen anderen Beifall als den eigenen zu erwarten, denn dass seine Sudelbuchnotizen jemals veröffentlicht werden würden, hat er nicht erwartet und auch nicht erlebt.

„Der Dichter begann, Zeigegesten zu machen“, betitelte kürzlich Klaus Graf vom Archivalia-Blog einen kleinen Prosatext. Ich fragte mich, was unter dem Plural zu verstehen wäre, – nacheinander mit derselben Geste auf Verschiedenes zu zeigen oder verschiedene Zeigegesten? Wir kennen mehrere:

    1. den Fingerzeig mit dem gestreckten Zeigefinger. Aus den USA ist die Unsitte gekommen, mit dem Zeigefinger auf Mitmenschen zu zeigen, was ursprünglich bei uns verpönt war. Es hieß: „Man zeigt nicht mit nacktem Finger auf angezogene Leute.“ Auf Menschen zu zeigen galt allerdings in der Antike als Geste der Kraftübertragung;

    2. die nach oben sich öffnende Hand, wobei die geschlossenen Finger auf etwas zeigen.

    3. den Mittelfinger zeigen; was weniger eine Zeigegeste ist, sondern ein Vorzeigen des Fingers zum Zwecke der Beschimpfung.

    4. In die Kategorie „Vorzeigen des Fingers“ gehört auch der nach oben gerichtete Daumen. Er zeigt Einverständnis an. Wird er gesenkt, ist Abwertung gemeint.

    5. Aachener in der Fremde grüßen einander mit dem nach oben gereckten kleinen Finger, wobei die anderen Finger zur Faust geschlossen bleiben. Die Geste heißt „Klenkes.“

    6. Die Schläfenschraube wird mit dem gestreckten Zeigefinger ausgeführt. Im Rheinland heißt das, „einen Fimmel zeigen.“ Der Fimmel kann auch verstohlen mit leicht gekrümmtem Zeigefinger an die Stirn getippt werden. Landläufig bekannt ist die Schläfenschraube als Autofahrergruß.

Wie in der Grammatik zwischen zielenden (transitiven) und nichtzielenden (intransitiven) Verben unterschieden wird, beispielsweise „kocht die Suppe“ (transitiv), „kocht vor Wut“ (intransitiv) lassen sich Zeigegesten unterscheiden: 1 und 2 sind transitive Gesten, 3 und folgende sind intransitive Gesten. Sie zeigen etwas, nicht auf etwas.

Als ich diesen Text begann zu schreiben, lauerte weit hinten ein Gedanke, den es noch zu verknüpfen galt. Inzwischen ist er fort und im Orkus versunken wie der Text des Freundes. Leider kann ich es ihm nicht in die Schuhe schieben, denn ich habe ihn gut vier Wochen nicht mehr gesehen.

Lehrer Schulz wäre begeistert

Etwa ab meinem 12. Lebensjahr wohnten wir im Dachgeschoss der Schule. Unter uns in der großen Lehrerwohnung wohnte ganz alleine Lehrer Schulz, ein junger Mann aus dem Ruhrgebiet, den es auf unser Dorf verschlagen hatte. Lehrer Schulz war ein freundlicher Mann, der bald beim Abendessen unser Kostgänger wurde. Ich mochte ihn gern bei uns am Tisch. Manchmal kam er später noch einmal zu uns herauf und spielte eine Partie Skat mit meinem älteren Bruder und seinem Freund Oberlacks Kurti. Manchmal am Wochenende lockte er meine Mutter zu sich herunter, und wenn sie wieder hochkam, hatte sie rote Wangen und einen sitzen. Sonst war Lehrer Schulz einsam. In seinem Wohnzimmer lehnte ein Cello. Ich konnte in meinem Dachzimmer hören, wenn Lehrer Schulz dem Cello von seiner Einsamkeit klagte.

Wenn du ein Layoutprogramm benutzt, dann steht dir eine Hundertschaft von Spezialisten zur Seite. Grafiker, Typografen, Fotografen, Retuscheure, Künstler, Schriftexperten, Reprotechniker, Programmierer. Sie alle haben ihr Wissen in die Programme einfließen lassen.

Höre ich den klagenden Laut des Cellos, so ist mir, als hätten hundert Spezialisten des Wehklagens dem Erfinder des Cellos von ihrer Sehnsucht geklagt. Aus diesem Ozean von Wehmut schlugen die Wellen von unten in meine Dachstube. Ich weiß nicht, ob ich schon Sehnsucht kannte. Mir scheint, mich befiel nur ein diffuses Gefühl von Unwohlsein, wenn Lehrer Schulz Cello spielte. Ähnliches spürte ich später, wenn in einer Metzgerei Knochen gesägt wurden. Glücklicherweise fand Lehrer Schulz irgendwann eine Freundin, verlobte sich, heiratete und zog nach Essen. Aus der Zeit seiner Einsamkeit ist mir das Cello als wehklagendes Instrument in Erinnerung.

Das änderte sich, als Mitte der 1960-er Jahre im Zuge der neodadaistischen Fluxus-Bewegung die barbusige Cellistin Charlotte Moorman auftrat, wobei für mich als Jugendlichen das Cellospiel eher uninteressant war. Dann war Jahrzehnte Frieden zwischen dem Cello und mir. Zum Jahrtausendwechsel begeisterte ich mich für das Cellospiel der finnischen Musikgruppe Apocalyptica, aus eher destruktiven Gründen.

Kürzlich fand ich auf Youtube die Cellistin Ghislaine Valdivia bei der Interpretation von „Kashmir“, einem Song der englischen Rockband Led Zeppelin von 1975. Lehrer Schulz wäre auch begeistert.

Teestübchen Musiktipp

Und hier das Original. Ehre wem Ehre gebührt.

Ein hilfloser Küchenmensch berichtet

Acht Wohnungen habe ich besichtigt, nachdem ich mich entschlossen hatte, nach Hannover zu ziehen. Die siebte entsprach meinen Wünschen. Ihr Vorzug: Sie hatte eine große Küche, ihr Nachteil: Das Haus stand am Bethlehemplatz. Drum nahm ich die achte Wohnung. Die Adresse „Bethlehemplatz“ wollte ich nicht haben. Die Leute würden denken, ich wäre eine Betschwester. Um dieses Missverständnis zu vermeiden, müsste ich „Atheist“ auf Visitenkarten drucken, und man würde denken, der Mann ist Atheist von Beruf, aber wohnt am Bethlehemplatz. Ist so ein Durcheinander überhaupt erlaubt?

Der Vorteil der achten Wohnung: Sie ist ähnlich geschnitten wie meine Aachener Wohnung, und unweit führt eine Güterbahnlinie vorbei, was in Aachen auch gewesen war. Zu der hatte ich eine gar mystische Beziehung. Leider ist die Güterbahnlinie nahe meiner Wohnung in Hannover stillgelegt und inzwischen völlig überwuchert. Doch der größte Nachteil der Wohnung: Sie hat eine kleine Küche. Wenn ich in dieser Küche koche, habe ich wenig Platz. Jetzt bin ich sowieso ein Küchen-Legastheniker oder wie mich eine ehemalige Blogfreundin schimpfte, ein „hilfloser Küchenmensch.“

Kürzlich bereitete im TV ein Fernsehkoch ein vegetarisches Gericht zu, und ich bekam Lust, das nachzukochen. Ich schaute mir den Beitrag mehrfach in der Mediathek an, um alles richtig zu machen, denn gemeinhin vergesse ich die Reihenfolge von Arbeitsschritten und die eine oder andere Zutat. Ich besorgte also die Lebensmittel und Gewürze, sah mir nochmals den TV-Beitrag an und legte los. Was der Fernsehkoch in 20 Minuten zubereitete, dazu brauchte ich gut zwei Stunden. Meine zu kleine Küche sah aus wie ein Schlachtfeld, und geschmeckt hat es nur so lala. Ich kann mit weniger Zutaten und geringerem Aufwand leckerer kochen.

Überhaupt finde ich die um sich greifende TV-Kocherei obszön. Das sabbernde Gewese ums Essen ist widerlich. Man stelle sich vor, so eine geschmäcklerische Kochsendung würde Hungernden in der 3. Welt gezeigt. Man treibt sie zusammen; entkräftete Gerippe schleppen sich zu einer Bretterbude, und auf einer Riesenbildwand kocht das gut gelaunte Arschgespann Martina und Moritz, also sie kochen etwas (transitiv). Würden sie im Suppenkessel sitzen und kochen (intransitiv), das Wimmern, bis sie gar sind, wollte man auch nicht sehen. Gleich wie wäre das eine Sache zum Fremdschämen.

Ich erinnere mich noch an die Anfänge der obszönen Kocherei: Der Schauspieler Clemens Wilmenroth präsentierte als Koch verkleidet seine legendäre Kreation „Toast Hawai.“ Dabei hätte es bleiben können. Doch mit Wilmenroth begann die Vergötterung der artifiziellen Fressgier und ihrer öffentlichen Darbietung. Deren trauriger Höhepunkt kam, als Roger M. Buergel, Leiter der documenta 12, den Molekularkoch Ferran Adrià zur Kunst erklärte.

Fast genauso daneben: Ich kannte eine Frau, für die es leider das Schönste war, auf der Couch zu liegen und die Sendung „Das perfekte Promi Dinner“ zu schauen. Wir entfremdeten uns, weil ich mich ums Verrecken nicht dazulegen wollte. Schon beim Wort „Promi“ kriege ich Herpes. Und die Figuren erst, die sich unter dem Etikett Promi durchs Leben mogeln, will ich lieber nicht kennen. Promis bekochen und benoten sich gegenseitig. Wenn ich irgendwo zum Essen eingeladen war, habe ich doch anschließend keine Noten vergeben. Das ist sehr sehr peinlich und pfeilgrad Geschmacksverirrung.

(Im Bild: documenta-Leiter Roger M. Buergel, Montage: JvdL)

Eine Frau namens Ramona

Weil ich einen frühen Termin hatte, wollte ich anschließend in der Bäckerei frühstücken, wo ich sonst meine Brötchen kaufe und zwar so, dass ich den mitgebrachten Stoffbeutel wortlos auf die Theke lege, und die großgewachsene ältere Bäckereifachverkäuferin packt mir meine tägliche Bestellung hinein. In der Bäckerei saß bereits ein vierschrötiger Mann und studierte die Bildzeitung. Die Verkäuferin saß ebenfalls an einem der Tische und las in Unterlagen. „Ich bin sofort bei Ihnen!“, rief sie mir zu, packte bald die Blätter zusammen und kam hinter die Verkaufstheke. Ein Blatt verlor sie.

Der vierschrötige Bildleser rief: „Du hast was fallen gelassen, Anne!“
„Sag nicht Anne zu mir!“, murrte sie, indem sie das Blatt aufhob. „Äh, Ramona!“, korrigierte er sich. Derweil ich einen großen Kaffee und ein belegtes Brötchen bestellte, dachte ich darüber nach, dass der Vorname Ramona ganz aus der Zeit gefallen ist. Von den Tausenden Schülerinnen, die ich seit dem Jahr 1980 unterrichtet habe, hat nie eine Ramona geheißen. Wohl war mehrmals Anne dabei. So wunderte ich mich, dass die Bäckereiverkäuferin auf ihren Namen bestand und dachte, gleich wie blöd ein Name ist, er wird doch irgendwann Bestandteil der Person. Ramona kommt mir vor wie der Name einer Bar im Hafenviertel. In meinem Kopf heben die Blue Diamonds an zu singen:

Ramona, zum Abschied sag ich dir Good by,
Ramona, ein Jahr geht doch so schnell vorbei.
Verzag‘ nicht und frag‘ nicht
Denn in Gedanken bin ich bei dir
Bei Tag bringt die Sonne
Bei Nacht der Mond die Grüße von mir.

Ramona, denk‘ jeden Tag einmal daran
Ramona, dass nichts vergeht, was so begann
Nach einem Jahr steh‘ ich mit Blumen vor der Tür
Ramona, dann bleib‘ ich bei dir.

Es ist der Schlager meiner Kindheit. Dass ein Jahr doch so schnell vorbei geht, fand ich damals gar nicht. Ein Jahr war ein Zehntel meines ganzen Lebens und kam mir vor wie eine Ewigkeit. Insofern tat mir die unzulänglich vertröstete Ramona leid. Was ist das überhaupt für eine Art, sich mit Good by für ein Jahr zu verabschieden? Das ganze verstieß gegen mein kindliches Gerechtigkeitsgefühl. Er macht sich auf die Socken, und sie soll nichts fragen, sondern brav in den Mond gucken, bis er irgendwann mit einem Strauß Gemüse vor der Tür steht.

Dass da zwei Schmalzlocken in Ichform singen, fand ich ebenso befremdlich. Wer von beiden verabschiedet sich denn jetzt von Ramona? Damals wusste ich noch nichts vom lyrischen Ich. Rückblickend würde ich besagter Ramona dringend empfehlen, dem lyrischen Ich einen Tritt zu geben, was freilich ein Kunststück wäre, quasi ein Tritt ins Leere. Ersatzweise kann sie dem Vierschrötigen die Bildzeitung um die Ohren zu schlagen. Wäre überhaupt gut. Liest einer die Bildzeitung, kommt eine Ramona und haut sie ihm saftig um die Ohren. Das würde schon mal helfen.

Im Bild: Warten auf Ramona – Foto: JvdL.

Kölner Poller und ich

Einmal war ich in Köln, um meinen Bruder zu treffen. Wir waren in einem Biergarten verabredet. Ich war zu früh dran und bummelte zur Rheinpromenade. Dort gab ich aus Übermut einem Poller einen Tick. Der kippte sofort um, denn er war bis auf ein winziges Stück angesägt. Eine große hübsche Skaterin, die mir entgegenkam, hatte das gesehen und lachte sich schier krumm. Ich sagte: „Ich hab‘ nichts gemacht“, doch fragte ich mich, was das für ein seltsamer Zufall sei, der mich ausgerechnet diesen einen Poller berühren ließ. In ganz Köln berühre ich einen einzigen Poller, und der ist angesägt und kippt um.

Ein Herr des Stoffbeutels

Schräg links hinweg über den Gang des ICE, kann ich einen kräftigen Mann von etwa Ende 30 sehen. Er kommt wohl aus dem Urlaub, denn sein Gepäck ist ein riesiger Rucksack, ein Teil, vor dem ich Angst hätte. Wollte ich es schultern, würde es mich zu Boden reißen und erdrücken. Nachdem sein Sitznachbar in Bielefeld ausgestiegen ist, wuchtet er den Rucksack neben sich auf den Boden und kramt darin. Da kommt allerlei Zeug zum Vorschein, von dem ich weiß, man braucht’s nur, um es hervorzuholen, anzuschauen und wieder wegzupacken.

Während ich das noch bestaune, zieht er einen weißen Stoffbeutel aus dem Rucksack, legt ihn neben sich auf den freien Sitz und holt einen Stapel Kataloge und Prospekte hervor. Man weiß schon, diese reich bebilderten Druckwerke auf Kunstdruckpapier, die es überall zum Mitnehmen gibt, beispielsweise in Tourismuszentralen von Urlaubsorten. Jeder hat derlei schon irgendwo mitgenommen. Spätestens zu Hause weiß man nicht mehr, wohin damit. Angeschaut hat man das Zeug sowieso nicht. Wenns wenigstens Faltblätter, Prospekte, Broschüren und Kataloge aus Museen wären.

Was er sorgfältigst betrachtet, ja, sogar liest, sind Kunstdruckdevotionalien von Urlaubsorten offenbar aus den Alpen. Er nimmt noch das läppischste Faltblatt, studiert es ganz genau und stapelt es auf dem Schoß, orientiert an der rechten und oberen Kante. Die Pedanterie, in der das geschieht, macht mich ganz kirre, vor allem, weil es komplett sinnlos erscheint, verschieden große Druckwerke auf Kante zu stapeln, wie es sinnlos ist, einen Tourismusprospekt genau durchzulesen, wenn man auf der Heimreise ist. Vor allem dachte ich, hätte ich schon einen so großen Rucksack zu schleppen, würde ich nicht noch 25 Kilogramm Prospektmaterial mitschleppen. Schon der Sammelbegriff „Prospektmaterial“ zeigt doch, dass man komplett unbeachtet lassen kann, womit das Papier bedruckt ist. Es ist Material, letztlich nur Gewicht. Eine Schande, dass dafür grüne Bäume sterben mussten. Kein vernünftiger Mensch sammelt derlei Druckerzeugnisse. Der vernünftige Mensch, der das schreibt, muss freilich zugeben, dass er aus ethnologischem Interesse eine Weile die aufregend typografierten Werbeprospekte von Supermärkten und Discountern gesammelt hat, beispielsweise den Aldi-Informiert-Pospekt von Aldi Süd, der in der Fotomontage im Blogheader zu sehen ist. Der Fachbegriff für derlei Material ist „Graue Literatur.“ Das Zeug gehört zum kulturellen Erbe wie ein Roman von Peter Handke.

Wie heutige Archäologen glücklich sind, wenn sie in einer versunkenen antiken Stadt Graffiti von Klosprüchen finden wie beispielsweise in den Ruinen von Pompeji, werden zukünftige Archäologen glücklich sein über den Otto-Katalog. Er ist schon Geschichte seit der letzten Druckauflage im Jahr 2018. Man wäre heute schon froh, hätte man den ersten Otto-Katalog von 1950. Desgleichen wird die Plastiktüte bald museal sein, heute schon zu bestaunen in Andrea Hemings Projekt „Tüte der Woche.

Vor Hannover beginnt der Mann alles einzupacken, schultert sein Hab und Gut, steigt dann vor mir aus. Hannover ist um hundert Prospekte reicher. Juhu.