Entlegen

Der gestrige Text im Teestübchen brachte mir die Idee für eine neue Rubrik, „Archiv des Entlegenen.“ Das Foto der Vignette zeigt ein Gebäude aus Aachens Altstadt, in dem einst das Stadtarchiv untergebracht war. Der Schriftzug „Archiv des Entlegenen“ ist gesetzt in der Schrifttype Birch, einer Gemeinschaftsarbeit der Designerin Kim Buker Chansler mit Barbara Lind und Joy Redick aus dem Jahr 1990. Birch basiert auf einer schmalen Buchdruck-Holzschrift, die in einem Musterbuch des Malers William Page 1879 gefunden wurde. Die Schrift wurde für die Displaydarstellung überarbeitet. Die Kontur habe ich hinzugefügt. Welche Beiträge werden in dieser Rubrik erscheinen?

Als Beispiel mag dieser Text dienen, der bislang unter „Kurzgeschichten“ abgelegt war:

Hier hängen nur Zettel, wenn du befugt bist zu lesen

Die Archivare des Entlegenen

Wer genötigt ist, einen Artikel für eine große Zeitung zu schreiben, dem stellt deren Dokumentationsabteilung eine Mappe mit Artikeln zusammen, die zu diesem Thema bereits erschienen sind. Die gilt es zu sichten und beim Schreiben auswertend heranzuziehen. Beim Denken scheint es mir ähnlich zu sein. Man hat ein Thema gewählt, und sogleich eilen willfährige Archivhelfer umher und sammeln ein, was im eigenen Kopf über das Thema zu finden ist. Besonders lieb sind mir jene, die etwas Entlegenes anschleppen, egal, ob es zu gebrauchen ist. Es darf auch verstaubt sein oder nur noch in Fetzen vorliegen wie ein Jahrhunderte Jahre altes Schriftstück.

Möglicherweise regt es ja Gedanken an, auf die man sonst nicht gekommen wäre. Darum ist es ratsam, in der Sammelphase offen zu sein und nicht etwas sofort zu verwerfen, nur weil es auf den ersten Blick unnütz erscheint.

Man darf nämlich die Archivare des Entlegenen nicht vor den Kopf stoßen. Lässt man sie gleichberechtigt hantieren, stärkt das ihr Selbstbewusstsein und fördert ihren Arbeitswillen. Ich habe mich Zeit meines Lebens für das Entlegene interessiert, auch und besonders in den Jahrzehnten der Forschung zum Thema „Buchkultur.“ Heraus kam ein Werk, das die Gegenstände und Phänomene durchaus plausibel beschreibt, quasi von ihren Grenzbereichen her.

Geht es denn hier noch weiter im Text? Leider ist den Archivaren zu warm, und das Entlegene herbeizuschaffen, ist ihnen heute zu mühsam. Man wird sich gedulden müssen.

Rücksichtsloses Selbsteinladen

„In aller Bescheidemheit möchte ich mir den Hinweis erlauben, dass auch und gerade in den Vor-Telefonzeiten das überraschende Klingeln an der Haustür, also das rücksichtslose Selbsteinladen bei einem Nachbarn oder Bekannten, nicht unüblich war, wie ich von Zeitzeugen weiß“, schrieb mir ein Freund, nachdem er meinen Telefonhassertext gelesen hatte.
Tatsächlich kenne ich das Verhalten auch noch gut aus der Zeit von Kindheit und Jugend in den 1950-1960-er Jahren. Beispielsweise luden wir Kinder der Bruchstraße uns am Samstagnachmittag beim Bauern Balzer ins Wohnzimmer ein. Balzers hatten als einzige in der Nachbarschaft ein Fernsehgerät.

Nach und nach trudelten die Kinder dort ein, suchten sich wortlos einen Sitzplatz, um die Kindersendung „Samstagnachmittag zu Hause“ anzuschauen. Intro war ein kurzer Zeichentrickfilm, in dem eine mütterlich dicke Frau vors Haus trat und die Straße hinauf und hinab rief. Von links und rechts kamen die Kinder angerannt und versammelten sich in perfekter Übereinstimmung mit der Realität vor dem Fernsehgerät. Innerhalb dieses Sendeformats wurde jeweils eine Folge von Lassie gezeigt, glaube ich mich zu erinnern.

Auch die Erwachsenen besuchten sich gegenseitig ohne Voranmeldung, drückten einfach die Türklinken der nie abgeschlossenen Wohnungen hinunter und traten ein. Noch in den 1980-er Jahren erlebte ich etwas Ähnliches. Ich war mit Frau und Kindern im niederländischen Mergelland unterwegs, steuerte den Familienbus leichtsinnig zu einem Picknickplatz auf einer abschüssigen Wiese und fuhr mich im unteren sumpfigen Stück fest. An der wenig befahrenen Straße bat ich einen einsamen Spaziergänger um Hilfe. Er sagte, er kenne einen Bauern der Gegend und werde mich hinbringen. Das Gehöft lag in sonntäglicher Ruhe. Der Mann ging trotzdem einfach ins Haus und suchte den Bauern. Wir fanden ihn später auf dem Feld, und er half mir mit seinem Trecker aus der Patsche.

Sich vor einem Besuch anzumelden, muss eine neuartige Sitte sein. Die Radiomoderatorin Siska Schoeters hatte einmal einen niederländischen Kabarettisten zu Gast in ihrer Sendung beim flämischen Musiksender Studio Brussel. Der interessierte sich für spezielle Verhaltensweisen der Flamen, denn Niederländer und Flamen haben zwar eine gemeinsame Schriftsprache, doch ganz unterschiedliche Sitten und Gebräuche. Siska Schoeters sagte, bei den Flamen sei es üblich, sich nach dem Heimkommen Hose oder Rock auszuziehen und in der Wohnung in Unterhose bzw. Slip umherzulaufen. Die Aussage wurde nie dementiert.

Privat ist der Flame/die Flämin also in Unterhose. Das ginge ja nicht, wenn man jederzeit mit dem Eindringen Fremder zu rechnen hätte, die grad ein bisschen Fernsehen möchten oder abgeschleppt werden wollen.

Wenn Sie ein Konzert besuchen – denken Sie an mich

Manchmal höre ich aus der Wohnung über mir ein Waldhorn. Es wird durchaus gekonnt geblasen, aber eine richtige Melodie ist nicht zu erkennen. Ich glaube, mein neuer Obernachbar ist Waldhornbläser in einem Orchester ohne festes Haus und demgemäß viel auf Reisen, denn seine Übungen im Tuten und Blasen dringen ja nur manchmal an mein Ohr. Es trifft mich also immer unvorbereitet und daher gelingt es mir nicht, mich gegen diese unerwünschten Töne zu wappnen, also etwa aushäusig zu sein, wenn der Waldhornbläser seine Übungen bläst. Gesehen habe ich ihn noch nie, daher könnte mein Obernachbar auch eine Waldhornbläserin sein.

Wenn das Waldhorn blasende Mensch mit seinem Orchester vor einem lauschenden Auditorium von Musikliebhabern auftritt, dann mag der Hörgenuss vollkommen sein. Doch ich bekomme nur die akustische Schattenseite ab, nur das Üben irgendwelcher Tonfolgen. Es wäre deshalb eine schöne Geste, wenn der Dirigent vor jedem Konzert sich ans Publikum wenden würde mit etwa folgenden Worten:

    „Meine Damen und Herren, bevor wir Ihnen einen musikalischen Hochgenuss bereiten, für den Sie mit Recht eine Eintrittskarte gelöst haben, wollen wir in einer Schweigeminute all jener gedenken, die meine Orchestermitglieder beim häuslichen Üben ertragen müssen. Denn nur der Duldsamkeit dieser Menschen ist es zu verdanken, dass wir Ihnen Musik in höchster Perfektion zu bieten im Stande sind.“

Das würde mich besänftigen. Von einer solchen Ansprache wurde mir aber noch nie berichtet. Eines Tages werde ich vielleicht die Treppe hinaufgehen, klingeln, und wenn der Waldhornbläser öffnet, werde ich ihm wortlos einen Kinnhaken verpassen, der sich gewaschen hat. Falls aber die Tür von einer Waldhornbläserin geöffnet wird, werde ich still verzweifeln, mich entschuldigen und sagen, ich hätte mich in der Tür vertan.

Frau Boes und ich

Man soll nicht denken, dass Recycling eine neue Erfindung wäre. In meiner Kindheit zog ein sogenannter Lunpensammler mit seinem Karren durch unsere Dorfstraßen, läutete eine schwere Handglocke und rief in gebührenden Abständen: „Lumpen, Eisen, Papier!“ Die Leute kamen aus den Häusern und brachten ihm das Gewünschte. Weil sich in meinem Kopf die Namen unzähliger Leute aus Presse, Film und Fernsehen breitmachen, fürchte ich, mein Gehirn führt ein Eigenleben als Lumpensammler. Ich läute freilich keine Handglocke, muss das gar nicht, denn es gibt genug mediale Distributionskanäle, aus denen Unerwünschtes auf die Pfade meiner Wahrnehmung pladdert.

Die übelste Schleuder ist das Fernsehgerät mit seinem Krakenarm, der Fernbedienung. Diese Extremität verleitet zum zappenden Suchen nach lohnender geistiger Nahrung. Müsste man für jeden Programmwechsel eigens aufstehen, um einen Knopf am TV-Gerät zu betätigen, täte man etwas für die körperliche Fitness, besonders aber für die Psychohygiene. Beim faulen Zappen muss mir also irgendwann ungefiltert der Name Mirja Boes ins Hirn geschwappt sein. Ich habe sogar, ohne es zu wollen, ihr Gesicht abgespeichert, so dass ich letztens von ihr träumen konnte.
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Wie einer lernte, das Telefon zu hassen (4)

Weil es hieß: ‚Im Lehrbetrieb bleibt man immer der Lehrling‘, kündigte ich und wechselte zu einer Druckerei Ernst in Köln. Wenn Frau und Herr Ernst zu Tisch waren, versah Herr Meisel den Telefondienst. Herr Meisel hatte als Leiter der Buchbinderei ein Rudel ungelernter Buchbinderinnen unter sich, haltlose, wüste Frauen, vor denen ich Angst hatte. Wer denkt, es gäbe im Miteinander der Geschlechter nichts Schlimmeres als das Verhalten von Bauarbeitern, wenn sie den Frauen hinterherpfeifen und Obszönitäten rufen, der hat noch keine notgeilen Buchbinderinnen gehört. Weil ich damals die Haare schulterlang trug, war ich gewöhnt, dass Bauarbeiter mir hinterherpfiffen oder ,Hallo Fräulein!‘ riefen.

Das war nichts gegen die Anzüglichkeiten, die mir um die Ohren flogen, wenn ich die Buchbinderei durchquerte. Das Unglück wollte es, dass Herr Meisel dreimal Telefondienst versah, als Anrufe für mich hereinkamen. Sie waren allesamt harmlos. Einmal rief meine gleichaltrige Cousine Marly an. Sie organisierte unseren Partykeller. Der Getränkehändler vermisse einen leeren Kasten Bier, für die er uns kein Pfand abgenommen hatte. Ob ich wüsste, wo der Kasten abgeblieben war. Einmal war es Annettchen, die Schwester meines Freundes Pierro, von der ich mir eine Schallplatte ausgeliehen hatte. Sie wollte die Platte zurück. Einmal rief Sonja an. Sie hatte sich mit meinem Freund Föppes zerstritten und fragte, ob ich zwischen beiden vermitteln könne. Dass in kurzer Folge drei verschiedene Mädchen mich telefonisch zu sprechen wünschten, aus diesem Umstand schloss Herr Meisel, ich wäre ein ausgemachter Herzensbrecher.“

„Warum riefen die Mädchen dich immer in den Pausen an?“, fragte ich.

„Ganz einfach, sie hatten selbst Mittagspause in ihrem Bürojob und nutzten die Verfügbarkeit eines Telefons, um ihre Umgebung zu terrorisieren. Die wenigsten hatten ja damals ein Telefon zu Hause, außer Bärbel natürlich. Sie war das verwöhnte Töchterlein eines Apothekers. Jedenfalls freute sich Herr Meisel über meine diversen Kontakte zum weiblichen Geschlecht. Er fühlte sich wie ein Postillon d’amour und genoss es. Als ich nach dem Telefongespräch zurück durch die Buchbinderei ging, steckten Meisel und sein Hühnerhaufen gerade die Köpfe zusammen und ich hörte ihn raunen: ,Heute war’s eine Sonja.‘

Hinfort war die Durchquerung der Buchbinderei für mich ein Spießrutenlaufen. Es war übel. Der Spruch: ,Dich würde ich auch nicht von der Bettkante stoßen‘, dabei noch das Harmloseste. Eine dralle Vettel rief: ,All die Mädchen bringens wohl nicht. Wir können es dir richtig besorgen!‘ und wedelte obszön mit der langen Zunge. Ich war damals noch unschuldig. Sex war erst ab 18. Die wolllüstigen Buchbinderinnen haben mir jede Illusion geraubt, das weibliche Geschlecht wäre etwas Zartes, Reines, die Liebe zu ihm etwas Poetisches.“

„Letztlich lag es nicht am Telefon, dass du mit der rauhen Wirklichkleit konfrontiert wurdest.“

„Ja, aber die Buchbinderinnen hätten niemals so über mich herfallen können, wenn das Telefon keine Missverständnisse geschürt hätte. Daraus schließe ich, dass die Wirklichkeit durch das Telefon erst richtig rauh wurde. Verstehst du jetzt, warum ich Telefon und Telefonieren hasse? Brauchst du weitere Beispiele?“

„Nein, ich habe genug gehört, mein Freund. Aber stand dieser wunderbare Sommer 1967 für dich nur unter dem Unstern Telefon?“

„No, Sir! Anfang September, als ich den Sommer schon abgeschrieben hatte, zeigte er sich von der schönsten Seite. Auf unserem Schützenfest traf ich Mareike, ein Mädchen von der Schießbude. Ich hatte mich auf den ersten Blick in sie verliebt, ein bisschen geflirtet und sie von der Schießbude weg ins Kirmeszelt zum Tanz entführt. Die besoffenen Schützenbrüder machten große Augen. Sie hatten bei der jungen Frau ihr Geld ausgegeben, hatten immer wieder versucht, blöde Plastiknelken oder Teddybären zu schießen, nur um ihr zu imponieren, und kannten sie kaum wieder. Dass eine, die hinter der Theke der Schießbude stand und Gewehre lud, sogar Beine hatte. Und was für welche! Donnerwetter! Die Dorfschönheiten guckten neidisch, weil das Mädchen von der Schießbude in seinem duftigen Sommerkleid alle an Schönheit übertraf. Doch in der Dorfgemeinschaft gab es Gerede, denn einem Mädchen von der Schießbude macht man im besoffenen Kopf anzügliche Bemerkungen, aber man führt es nicht zum Tanz. ,Mit so einer poussiert man nicht‘, erfuhr ich beim Frisör. Es war mir egal. Einige Wochen bin ich Mareike noch von Dorfkirmes zu Dorfkirmes hinterher gereist, aber sie fuhr mit ihrer Schießbudenfamilie immer weiter, bis sie für mich unerreichbar wurde.“

„Da wäre ein Telefon segensreich gewesen.“
Wilhelm schaute mich traurig an und sagte: „Ganz müder Gag!“

Wie einer lernte, das Telefon zu hassen (3)

Zu Hause hätten sie ja in dieser Zeit kein Telefon gehabt, fuhr mein Freund fort. Aber auch dort hätten ihm die liebestrunkenen Mädchen keine Ruhe gelassen. Sie riefen einfach in der Nachbarschaft beim Ehepaar Ruß an.
„Frau Ruß kam in ihren rosa Plüschpantöffelchen über den Gehweg getrippelt und klingelte mich heraus.
,Ein Mädchen ist am Telefon und möchte dich dringend sprechen. Beeil dich! Es scheint wichtig zu sein!‘
Du musst wissen“, erläuterte Carlsen, „dass Frau Ruß die Ehefrau von Herrn Ruß war.“
„Ach, das hätte ich nicht von den beiden gedacht. Es muss halt alles seine Richtigkeit haben auf dem Dorf.“
Carlsen ignorierte meine Bemerkung.

„Ja, und Herr Ruß war mein strenger Lehrer in der Volksschule gewesen. Wenn mich also Frau Ruß die Treppen hinauf zu ihrem Telefon abführte, war mir, als träte ich gleich vor meinen Scharfrichter. Mein Herz klopfte wie wild, und ich hatte die Zunge bereits quer im Maul, bevor ich die Wohnung meines ehemaligen Lehrers betrat. In der Diele der Eheleute Ruß stand auf einem Tischlein unter dem Garderobenspiegel mein Folterinstrument, das Telefon. Seine obszöne Hässlichkeit war noch unterstrichen durch eine grüne Samthaube, aus dem die Wählscheibe kreisrund ausgespart war. Die Ränder waren mit goldfarbenen Brokatborten verziert. Frau Ruß übergab mir den ebenfalls häubchenverzierten Hörer und zog sich scheinbar diskret ins angrenzende Wohnzimmer zurück. Aber die Tür blieb nur angelehnt, so dass ich mir vorstellen konnte, wie Frau und Herr Ruß begierig jedes meiner Worte aufzufangen versuchten, Frau Ruß, um zu erfahren, aus welchem wichtigen Grund ihre nachbarschaftliche Hilfe gefragt war, Herr Ruß, um zu hören, ob die Züchtigkeit gewahrt blieb und ob ich fähig war, mich mithilfe eines modernen Fernsprechapparates zu verständigen.

Ich sagte Hallo? in die Sprechmuschel hinein.
,Ich bin’s! Warum sprichst du so leise?‘, tönte es aus dem Hörer zurück.
,Bärbel?‘
,Wieso Bärbel? Ich bin’s, Monika. Machst du wieder mit dieser Bärbel rum?‘
,Nein, natürlich nicht. Du musst schon entschuldigen, aber eure Telefonstimmen sind ähnlich. Und sie hat sich auch mit Ich bin’s gemeldet.‘
Ein Augenblick war Stille, und ich hatte Zeit, mich im Garderobenspiegel zu betrachten. Meine Ohren glühten.
Monika atmete tief. ,Ich muss jetzt wissen, ob du mich wirklich liebst.‘
,Warum?‘
,Und du fragst auch noch warum?! Ich habe mich zufällig mit Bärbel unterhalten. Was war das da mit dem Gerede von Verlobungskarten? Versprichst du jeder hergelaufenen Tussi gleich die Verlobung?‘
,Hallo? Ich bin erst 17.‘
,Schlimm genug.‘
,Lass uns in Ruhe reden. Ich kann jetzt nicht gut. Wir können uns ja treffen.‘
,Ach, wie gnädig, der Herr, wir können uns ja treffen. Am Telefon geht es jetzt nicht‘, höhnte Monika.

Aus dem Wohnzimmer der Eheleute Ruß kam ein Hüsteln, erst von ihr, dann von ihm. Ich hörte beide leise diskutierten. Am Ende setzte Herr Ruß sich durch, und Frau Ruß kam in die Diele mit den Worten: ,Herr Ruß findet, du solltest jetzt das Gespräch beenden!'“

(Fortsetzung)

Wie einer lernte, das Telefon zu hassen (2)

„Ja, ach so. Normaler Weise setzte ich die Verlobungskarten. Die Vermählungsanzeigen setzte grundsätzlich der Junior. Oft stand er am Setzkasten, einen verlorenen Blick in die Ferne gerichtet und jeder mit ein bisschen Einfühlungsvermögen wusste, dass er nicht wirklich mit Winkelhaken und Bleilettern hantierte, sondern im Geiste gigantische Hochzeitstorten schuf. “
„Aber, lieber Wilhelm, was haben diese imaginären Hochzeitstorten mit deinem Hass auf Telefone zu tun?“, unterbrach ich erneut.
„Der verhinderte Konditor lebte mir das Schweigen vor, und ich lernte, wie viel schöner es ist, sich im Geiste Hochzeitstorten auszumalen, als am Telefon zu reden.

Unsere Mittagspause ging von 12:30 bis 13 Uhr, die der Sekretärin bis 14 Uhr. Bis zu ihrer Rückkehr übernahm der Seniorchef den Telefondienst. Gewöhnlich stand er an seiner Druckmaschine, dem Original Heidelberger Tiegel. Wenn durch das Zischen, Schnauben und Stampfen seiner Maschine das Telefonklingeln im Kundenempfang zu ihm durchdrang, stellte er die Maschine ab und begab sich grollend nach vorne an den Sekretärinnenschreibtisch, um unwirsch das Gespräch anzunehmen.

Einmal hörte ich ihn belfern: ‚Was?! Den Wilhelm sprechen?!‘ und wusste, was mir blühte. Schon blaffte der Alte die Treppe hinauf zur Setzerei: ‚Wilhelm! Am Apparat!‘ Augenblicklich fiel mein Mund trocken. Als ich die Treppe hinunter hastete, spürte ich, wie meine Ohren sich erhitzten. Der Alte stand stirnrunzelnd da, streckte mir den schwarzen Telefonhörer entgegen und blieb heischend neben dem Apparat stehen, um zu hören, welche Katastrophe wohl über mich und meine arme Familie hereingebrochen war. Wenn ein Anruf ihn und mich aus der Arbeit riss, musste der Grund wirklich eine schreckliche Nachricht sein, die keinen Aufschub duldete.

Aus dem Hörer flötete ein Stimmchen:
,Ich bin’s! Ich war gerade mit dem Lackieren meiner Fußnägel fertig, habe bei jedem Nagel an dich gedacht und wurde urplötzlich von einer Welle der Liebe zu dir erfasst. Das musste ich dir unbedingt flüstern. Hast du vielleicht etwas Ähnliches gespürt, genau in dieser Minute? Sag, liebst du mich auch so, liebster Wilhelm?‘
,Ja, Bärbel‘
,Sag’s im Satz, bitte bitte!‘
,Kann nicht.‘
,Doch, du kannst!‘
,Ich liebe dich auch so.‘
,Und woran hast du gedacht, vor einer Minute?‘
,An eine Verlobungskarte‘, sagte ich wahrheitsgemäß, denn von dieser Arbeit hatte mich ihr Anruf fortgerissen.
,Verlobung?! Ach, Wilhelm, Lieber, du bist ja so süß! Bin ich wirklich auf immer die Einzige für dich?‘
,Ja.‘
,Was bist du denn so maulfaul?’“

„Das kenne ich“, warf ich ein. „Kaum glauben sie, dich sicher zu haben, geht die Krittelei los. Doch erzähle getrost weiter, mein Lieber!“ Wilhelm warf mir einen irritierten Blick zu, besann sich wieder und fuhr fort:

„Während all der Bekenntnisse, die mir Bärbel abrang, ruhte mein Blick bang auf dem Antlitz meines Chefs. Über seine Züge irrlichterte der Ausdruck absoluter Fassungslosigkeit. Noch nie war sein Telefonapparat so schändlich missbraucht worden. Was ich in sein Telefon stammelte, ließ in seinen Augen das Weiße aufscheinen und ich ahnte, dass er auf der scharfen Scheide zum Irrsinn balancierte. Wie konnte ich nur die heilige Arbeitszeit, die er aus seiner Geldkasse entlohnen musste, wie konnte ich meine Zeit und sein Geld für Liebesklimbim verplempern? Er hatte seine Maschine abstellen müssen für das hier. Für diese Unverschämtheit fehlten ihm die passenden Worte. Einstweilen begann es in ihm zu grummeln. Dann stieß er einen Schwall unartikulierter Laute hervor, aus dem die harschen Befehlsworte hervortraten: ,Du willst sofort Schluss machen!‘ Da war kein Widerspruch möglich, denn dieses ,Du willst …‘, mit dem er seine Befehle einleitete, stammte noch aus der Kaiserzeit. Ich wagte kaum, einen Abschiedsgruß zu struddeln, da riss er mir auch schon den Hörer aus der Hand und knallte ihn auf die Gabel. Wie ein geprügelter Hund stolperte ich hoch in die Setzerei. Da donnerte es hinter mir her: ‚DU WILLST DICH NIE WIEDER HIER ANRUFEN LASSEN!‘

Ich hatte das Telefongespräch abrupt beenden müssen, aber nicht Schluss gemacht. Das tat Bärbel, weil es für sie ,wirklich, wirklich schmerzlich und erniedrigend‘ gewesen sei, wie ich mich am Telefon verhalten hätte. Sie hätte mir ihr Herz geöffnet, und ich hätte grob hineingetreten. Und was das überhaupt für ein dummes Gerede von Verlobung gewesen sei. Ihr Vater würde nie erlauben, dass seine einzige Tochter sich mit einem ,Handwerker‘ verlobt.“

Zu Hause hätten sie ja in dieser Zeit kein Telefon gehabt, fuhr mein Freund fort. Aber auch dort hätten ihm die liebestrunkenen Mädchen keine Ruhe gelassen.

[Fortsetzung]

Wie einer lernte, das Telefon zu hassen

„Geh mir fort mit Sommerliebe“, rief mein Freund Wilhelm Carlsen. „Der Sommer 1967, das waren nicht nur Flower-Power, die Beatles und jugendliche Liebeleien. Der ‚Summer of Love‘ 1967 war für mich der reine Stress und der Zeitraum, in dem ich lernte, das Telefon zu hassen!“ Er glaube genau zu wissen, dass damals seine Abneigung gegen dieses teuflische Gerät der Fernkommunikation entstanden sei. Er kenne auch kein anderes Gerät, mit dem man so dreist und unvermittelt in das Leben seiner Mitmenschen einfallen könne. Schon früh, lange vor dem allgegenwärtigen Mobilfunk, sei es durch das Telefon zu einer bis dahin beispiellosen Verrohung der Sitten gekommen.

Das Gerät fördere eine Rücksichtslosigkeit, die selbst die feinfühligsten Menschen befällt. Wäre er nicht traumatisch vorbelastet, ginge es ihm genauso. Doch nie sei er mit dieser Apparatur vertraut geworden, dass er unbefangen damit umgehen könne. Wenn er nach tagelangem Zögern irgendwen anrufe, sei er immer versucht, sich für die Störung zu entschuldigen oder zumindest „Stör ich?“ zu fragen. Für ihn gebiete die Höflichkeit, das zu tun. Denn als Anrufer dränge man sich so urplötzlich in ein fremdes Leben, dass man zumindest fragen solle, ob es passt. Andere würden sich frech melden mit: „Ich bin’s!“, als wäre das schon Entschuldigung genug.

Wilhelm redete sich in Schwulitäten, wie man bei uns sagt: „Der Irrsinn hat schon im Jahr 1881 begonnen. Damals erschien in Berlin das erste Telefonbuch. Es trug den sperrigen Titel ‚Verzeichniss der bei der Fernsprecheinrichtung Betheiligten.‘ Der Volksmund nannte es ‚Buch der Narren.‘ Man glaubte, es wären nur Deppen auf diesen ‚Schwindel aus Amerika‘ hereingefallen, und hatte noch keine Vorstellung von der Seuche, die flächendeckend über die Menschheit kommen würde: das Festnetztelefon! Ein Instrument der Dreistheit, Missverständnisse und Misshelligkeiten.“

„Du verlierst den Faden, lieber Freund. Wolltest du nicht eigentlich berichten, warum du das Telefon hassen gelernt hast?“

„Ja, natürlich“, besann er sich. „Als ich ein junger Mann war, begannen sich die Mädchen für mich zu interessieren und versuchten mich zu sprechen, wenn’s eigentlich nicht angebracht war, beispielsweise während meiner Arbeit in einer Buchdruckerei. Du musst wissen, dass in meinem Lehrbetrieb Privatgespräche strengstens untersagt waren. Mit den Kollegen durfte man nur Worte wechseln, wenn das für den Arbeitsablauf nötig war. Vorbild war der Setzereileiter, von allen nur der Junior genannt. Der Junior ist ein großer Schweiger vor dem Herrn gewesen. Er war ja eigentlich Konditormeister. Aber weil sein älterer Bruder im Krieg gefallen war, hatte er umsatteln müssen, um statt seiner das Erbe der Traditionsdruckerei fortzuführen.

Wir setzten und druckten in dieser Druckerei hauptsächlich Akzidenzen, also Privatdrucksachen aller Art, Briefbögen, Visitenkarten, Trauerbriefe, Totenzettel, Kommunionbildchen, Verlobungs- und Vermählungsanzeigen.

„Ähem, Wilhelm!“

[Fortsetzung]