Die Trilogie des Schrägen

Zu meinem neuen Buch: „Das Ächzen der Dinge“ erreichte mich eine erste Rezension:

Ein bunter Strauß von Kurzen Geschichten, die mehr als einmal das Fantastische und Magische aus dem Alltäglichen wuchern lassen, versehen mit absurden Details. Geschichten wie (Alp-)träume, die inspiriert scheinen von E. T. A. Hoffmann oder Edgar Allan Poe, die bisweilen aber einfach nur witzig sind wie „Wir trinken sowieso lieber Bier“ oder „Page Theo erzählt.“ Köstlich amüsiert habe ich mich bei „Die Wahrheit über Familie Oberbeck.“ Es gibt Texte, die historisch korrekte Informationen enthalten, beispielsweise über Signaltürme, über die Nachrichten des Königspalastes weitergegeben werden, bei denen sich der Leser jedoch zunächst einmal fragt, ob er elegant an der Nase herumgeführt wird, bis eine Wikipedia-Recherche ergibt, dass hier das Schwindler-Gen von Trithemius nicht am Werke war. Manches ist schlicht amüsanter Nonsens, wie „Silberfisch und Silberfischchen, bisweilen Pataphysik, bisweilen von einem Schwindler-Gen gesteuert.
(Klaus-Peter Denhardt)

Jules van der Ley; Das Ächzen der Dinge, 227 Seiten, Hannover 2022 – gibt es hier hier, am schnellsten hier – für Geduldige im Buchhandel unter der ISBN 9783754958735

Das ideale Geschenk: Die Trilogie der schrägen Geschichten. Sie wird vervollständigt durch:
Goethes bunter Elefant erhältlich hier und hier und für Geduldige im Buchhandel unter der ISBN 9783750250451

Die schönsten Augen nördlich der Alpen gibt es hier, am schnellen hier und für Geduldige im Buchhandel unter der ISBN 9783745071344

No smoking

Seit ziemlich genau zehn Jahren rauche ich nicht mehr. Das Rauchen ist mir so fremd geworden, dass mir bei „ich rauche nicht mehr“ eine rauchende Steinkohlenhalde in den Sinn kam. Derlei Halden kann man in Kohlerevieren finden. Im Revier nördlich von Aachen etwa gibt es Halden, auf denen nichts wachsen mag, weil sie innerlich brennen, wegen der Kohlegase, die sich immer wieder entzünden. Ich hätte nichts gegen die Analogie, innerlich für etwas zu brennen, wollte aber nicht verrauchen und irgendwann ausgebrannt sein. Noch unschöner ist die Vorstellung von inwendigen, sich selbst entzündenden Gasen, von den brennbaren austretenden ganz zu schweigen.

Als Raucher habe ich Zigaretten gedreht, was mir das Beste am Rauchen war. Aus einer Packung Feinschnitttabak eine wohl portionierte Menge zu zupfen, in ein Zigarettenblättchen zu geben, um daraus mit den Fingern eine perfekte Zigarette zu drehen, hatte etwas Ästhetisches, an das Rauchen selbst nie herankam. Wer gerade für eine Liebste brannte, konnte ihr die fertig gedrehte Zigarette reichen und sie bitten, die Gummierung mit der Zungenspitze anzufeuchten. Aber man muss nicht alles noch toppen.

Wie geht es denn jetzt weiter im Text? Wenn mir früher der Gedankenfluss stockte, vielmehr sich staute, bin ich aufgestanden, habe mir eine Zigarette gedreht und rauchend aus dem Fenster geschaut. Es kann nicht ganz ungesund gewesen sein, weil es doch heißt: „Sitzen ist das neue Rauchen.“ Trotzdem habe ich aus medizinischen Gründen aufgehört zu rauchen. Es ist mir leicht gefallen. Natürlich hätte ich weiter Zigaretten drehen können, aber es wäre Ästhetik ohne Grund gewesen. Es ist jedoch nichts dabei, grundlos aufzustehen und aus dem Fenster zu schauen.

In der Kur habe ich viele Elendsgestalten gesehen. Doch die trübseligste Versammlung von Jammergestalten fand sich am Fuß des Kurhauses im Unterstand für Raucherinnen und Raucher. Der Unterstand bot Schutz vor Wind und Wetter und war sogar ganz hübsch in der lindgrünen Hausfarbe der Klinik angestrichen. Trotzdem sprach der Chefarzt der Klinik von einer „dunklen Ecke“, wo medizinisch Unwägbares geschehe bis hin zur Ansteckung mit Covid 19 oder Affenpocken, weil alle so eng beieinander hocken. Aber was will man tun? Den Unterstand größer machen und so dem Rauchen neuen Freiraum zu verschaffen, das geht ja auch nicht. Kaum zu fassen, wie Orte des Genussrauchens mit großzügigen Rauchersalons und Raucher-Abteilen in Zügen verkommen sind zu solchen der sozialen Deprivation, über die nicht nur Chefärzte die Nase rümpfen. Sorry, ich muss grad Möhren schneiden, weil ich heute Linsensuppe kochen will. Einstweilen Musik:

Editors
Smokers Outside The Hospital Door

Über Brillen und Wahrnehmung

Früher war alles besser. Aber was nicht besser war, das war natürlich schlechter. Zuerst, was besser war: Als junger Mann hatte ich beim Sehtest eine Sehfähigkeit von 110 Prozent. Im Mittelalter meines Lebens fragte ich während des Unterrichts, wer wisse, aus welcher Zeit ein Gemälde sei, das im Lesebuch abgedruckt war. Ein Schüler nannte die Jahreszahl. Erstaunt fragte ich: „Woher weißt du das?“
„Es steht doch drunter!“, sagte er. Da fielen mir die 110 Prozent wie Schuppen von den Augen und mir wurde klar, dass ich eine Lesebrille brauchte. Es ist zwar hübsch, kleingedruckte Unterzeilen für graue Linien zu halten, aber grenzt an funktionalen Analphabetismus.

Etwas in mir wehrte sich gegen die plötzliche Überlast an Information. Gleich am ersten Tag des Brillenbesitzes habe ich mich auf die Brille gesetzt. Sie war platt. Weil ich meinem Hintern kein Mitspracherecht in Fragen der Weltwahrnehmung einräumen wollte, holte ich mir eine Ersatzbrille.

Gut zwanzig Jahre später besorgte ich mir auch eine Brille für die Fernsicht. Zum zweiten Mal wurde mir klar, dass unscharfes Sehen auch etwas Segensreiches hat. Der visuelle Kleinscheiß wird quasi automatisch weggefiltert. Mit Brille fühlte ich mich überfordert. Wenn auf dem Weg zum Bäcker schon tausend marginale Kleinigkeiten um Aufmerksamkeit buhlen, wird das Brötchenholen zur intellektuellen Herausforderung. Dabei ist doch klar, dass Wahrnehmung selektiv sein muss, um Handeln zu ermöglichen. Es muss ja nicht gleich der Tunnelblick sein. Dagegen hilft auch die schärfste Brille nicht, wenn der Blick von alltäglichen Erwartungen gesteuert ist.

Bei einem Bummel durch Hannovers City sah ich, dass das Karstadt-Gebäude leer steht. Erst das Bedauern über das Verschwinden dieses Kaufhauses ließ mich an der stirnseitigen nackten grauen Fassade hoch oben eine Zeigeruhr entdecken, die mir zuvor niemals aufgefallen war. Im Kleinen verhindern Erwartungen, eigene Tippfehler zu entdecken, und das trotz Lesebrille. Man selbst weiß ja, welches Wort da stehen soll, und da man als geübter Leser nicht buchstabiert, sondern Wortbilder erkennt, fallen geringfügige Abweichungen nicht auf.

Mancher wird fragen, „Ja, wann gibt es die Brötchen?“ „Was ist denn besser geworden, was früher schlechter war?“ Kürzlich war ich beim Optiker, um mir eine Ersatzbrille für Fernsicht zu besorgen. Nach der Vermessung der Sehfähigkeit teilte mir die Optikerin mit, auf dem rechten Auge habe sich die Sehfähigkeit um eine Dioptrie verbessert, also auf meinem, nicht auf ihrem.

Äbtissin hat die Händlerkarte

„Ich freue mich, dass ich die Händlerkarte bekommen habe“, freut sich Elisabeth Vaterodt, Äbtissin des Klosters Marienthal in Ostritz. Sie ist wild entschlossen, Kunstschätze aus der Klosterbibliothek zu verscherbeln. „Bares für Rares.“ Wertvollstes Objekt ist der Marienthaler Psalter, ein prachtvoll illustriertes, handgeschriebenes Gebetsbuch vom Beginn des 13. Jahrhunderts. Nicht Horst Lichter, sondern der Schweizer Kunsthändler Jörn Günther soll den Verkauf des Kunstschatzes einfädeln. Experten schätzen den Wert auf vier Millionen Euro. Das Geld solle dazu dienen, so die Äbtissin, Schäden aus dem Neiße-Hochwasser 2010 zu beseitigen und den Bestand des Klosters zu sichern.

Einige Zeit hatte ich beruflich mit dem Kloster Marienthal zu tun. Die großen Nebengebäude sind nämlich mit Mitteln der Bundesstiftung Umwelt zum internationalen Begegnungszentrum (IBZ) mit Seminarräumen und Gästezimmern ausgebaut worden. Da die Stiftung auch Schüleraustauschprojekte wie „Jugend und Umwelt“ fördert, trafen sich dort regelmäßig Schulklassen aus östlichen Ländern der Europäischen Union mit deutschen Schulkassen. Die Schülerinnen/Schüler recherchierten Umweltthemen und schrieben Artikel für örtliche Zeitungen. Dazu fanden medienkundliche Seminare unter meiner Leitung statt. Diese und ähnliche Veranstaltungen sind im Corona-Lockdown ausgefallen, weshalb dem Kloster Einnahmen fehlen. Deshalb jetzt der skandalöse Ausverkauf von Kulturgütern, auf den der Archivar der RWTH Aachen, Klaus Graf, auf seinem Archivalia-Blog aufmerksam gemacht hat.

Wenn ein missratener Spross in der TV-Sendung „Bares für Rares“, wertvolle Erbstücke verramscht, wird das oft euphemistisch verbrämt mit der stereotypen Aussage: „Damit es in gute Hände kommt“, und man versteht die ehrliche Selbsteinschätzung, wer verramscht, was Generationen getreulich verwahrt haben, hat keine guten Hände. Wenn der Marienthaler Psalter in „bessere Hände“ gerät, verschwindet er vielleicht im Safe der Villa eines Oligarchen. Dann ist er so gut wie verbrannt.

Unterwegs

Guten Tag, meine lieben Damen und Herren,
heute lesen Sie gerne etwas über Sprachmoden und dumme Floskeln. Die lauern wie Wegelagerer hinter Hecken und Mauerecken auf ihre Opfer. Da kommt ein Menschlein nichts ahnend pfeifend daher, und schon springt ihm die Floskel in den Nacken, packt es bei den Ohren und übernimmt die Kontrolle. Fragst du es jetzt nach seinem Beruf, stammelt es: „Ich bin in Design unterwegs.“ „Ach, wie hübsch“, sagst du, „als Zeichner auf der Walz oder als Handelsreisender mit Musterkoffer?“ Und du fährst fort: „Ich bin als Sprachkritiker unterwegs und treffe immer wieder Deppen, die gerade mit den neuesten Sprachfloskeln hausieren.

„Ich bezweifle, dass Sprachkritik überhaupt sinnvoll ist“, erwidert das Mensch, das in Design unterwegs ist. „Gehören Sprachmoden nicht zum Sprachwandel, von dem ja bekannt ist, dass er unabdingbar ist für eine lebendige Sprache? Nur tote Sprachen verändern sich nicht mehr. Mithin können am Ende des Tages auch keine Sprachmoden mehr eindringen. Sprachwandel ist anarchisch, und da ist es albern, dass ein selbsternannter Sprachkritiker daher kommt und eine Entwicklung schurigelt, nur weil sie ihm gegen den Strich geht.“

„Das ist richtig, aber leider falsch. Was ich kritisiere, sind Blähformeln. Wenn jemand sagt: ‚Ich bin in Design unterwegs‘, wo ein schlichtes ‚Ich bin Designerin‘ klarer wäre, halte ich dagegen. Meistens regnen derlei Blähformeln aus der Wirtschaft auf uns nieder, und niemand wird behaupten wollen, dass der Sprachwandel auf Sprachmüll aus der großkotzigen Wirtschaft nicht verzichten kann, wo man nicht sagt: ‚Ich bin vielseitig‘ oder ‚Ich habe viele Qualifikationen, sondern ‚Ich bin breit aufgestellt.’“

Trotzdem trifft der Hinweis auf Sprachwandel zu. Selbst dumme Sprachmoden lassen sich nicht aufhalten, wie am Beispiel „am Ende des Tages“ zu sehen. Gestern besuchte ich ein Brillengeschäft. Mich bediente eine junge Optikerin. Glücklicherweise war auf ihrem Namensschild nicht genug Platz für „Bin in Optik unterwegs.“ Die Optikerin packte in jeden Satz das Adverb „gerne.“ Vermutlich hat man sie instruiert, das zu tun. Niemand sagt aus eigenem Antrieb dauernd „gerne.“
„Nehmen Sie gerne im Sessel Platz, Herr Blindfisch.“
„Mach ich. Vorausgesetzt, Sie sind breit aufgestellt.“

Immer diese Machenschaften

Um sich abzulenken, griff er nach dem Duden-Band „Richtige Wortwahl“, schlug ihn wahllos auf, las sich fest, fand auch den Eintrag „Machenschaft“. Er musste lachen. „Machenschaft“ gehörte in seinen passiven Wortschatz, will sagen, er kannte das Wort, ohne es je selbst benutzt zu haben, allerdings nur als Plural. Die Bedeutung des Wortes war im Wörterbuch umschrieben:

„Machenschaft; Substantiv, feminin – sich im Verborgenen abspielende, unlautere Handlung, Unternehmung, mit der sich jemand einen Vorteil zu verschaffen oder einem anderen zu schaden sucht.“

Woher kamen jedoch die Gefühlswerte, die er mit dem Wort verband, ohne es je vorher benutzt zu haben? Irgendwann in den letzten Jahren war seine Beziehung zu Marie verunglückt. Er konnte zusehen, wie ihre Zuneigung allmählich schwand. Maries einst flammende Liebe zu ihm schlug um in dumpfe Abneigung. Was sie vorher anziehend an ihm gefunden hatte, verlor jeden Reiz, und am Ende konnte sie nicht mal mehr seine unwillkürlichen Lebensäußerungen ertragen, etwa hören, wie er atmete. Als sich von ihm abzuwenden begann, immer schlechter auf ihn zu sprechen war, ohne dass er ihr einen konkreten Grund gegeben hatte, begann sie, ihm „Machenschaften“ zu unterstellen. Der Vorwurf „Deine Machenschaften!“ machte ihn ratlos, weil er nicht wusste, was gemeint war. Erst recht irritierte ihn, dass sie nie von einer Machenschaft sprach, sondern immer im Plural von Machenschaften. Eine Machenschaft hätte er noch in den selten besuchten Abgründen seiner Seele finden können, aber gleich ein ganzes Bündel dunkler Unternehmungen, da wusste er beim besten Willen nicht, was gemeint war. Trotzdem hatte er Bilder vor Augen, wenn sie ihm Machenschaften vorwarf.

Er war einmal im belgischen Städtchen Maaseik an der belgisch-niederländischen Grenze gewesen. Dort hatte er gehört, dass die Keller der Häuser rund um den mittelalterlichen Marktplatz einst durch ein geheimes Gangsystem miteinander verbunden gewesen waren. In einem Kellergewölbe hielt die berüchtigte Mordbrennerbande der Bokkerijders ihren irrwitzigen Initiationsritus ab und plante ihre Raubzüge bis weit ins Rheinland hinein. Er stellte sich für jedes der Kellergewölbe eine andere Machenschaft vor, hie wurde Wein gepanscht, dort Falschgeld geprägt, nebenan Hehlerware gelagert, drüben verscharrte man immer wieder Kinderleichen, unter der Apotheke hielt man einen reichen Holländer gefangen und marterte ihn bis aufs Blut. Mit der Zeit verselbstständigte sich die Phantasie. Wenn Marie von seinen Machenschaften sprach, hörte er die spitzen Schreie des gequälten Holländers, vergoss Tränen um die erschlagenen Kinder und plante brutale Raubzüge durch die Nachbarschaft.

Sie vermied es, ihre Vorwürfe von den Machenschaften zu konkretisieren. Nie entfuhr ihr eine Andeutung, so dass er sich hätte vor den Kopf schlagen können und erleichtert ausrufen: „Ach, das meinst du! Das muss ja wirklich nicht sein“, und fortan hätte er diese Machenschaft vermieden.

Indem jedoch in der Welt nichts von Dauer ist, wurde ihm der Pauschalvorwurf „Deine Machenschaften“ irgendwann egal, denn die Wortbedeutung hatte sich durch ständige Wiederholung entleert. Die Machenschaften hatten sich in eine Horde Gespenster verwandelt. Und gegen nichtstoffliche Wesen ist bekanntlich kein Kraut gewachsen. Sie jedoch war verliebt in diese Gespenster, denn mit ihrer hässlichen Schar konnte sie sein Ansehen herabsetzen, ohne dass er sich hätte verteidigen können.

Schmarotzerpflanzen

Van Gaderen und ich schritten durch das Viertel mit heruntergekommenen Wohnblocks, für die wir als Architekten verantwortlich waren. An einer Fassade sahen wir ein gewaltiges Efeugewächs mit armdicken Ranken und Trieben. Ein Trieb war zu einem Fenster hinüber gewuchert und hatte sich offenbar längs unter der Fensterbank verankert. Wir kamen überein, dass die Ranke entfernt werden müsste, denn sie drohte das Fenster auszuhebeln. In der Wohnung lebte laut unserer Liste eine Frau Michalski. Wir beschlossen, Frau Michalski aufzusuchen und die Efeuranke von ihrem Fenster aus abzusägen. In der Halle des Wohnblocks befand sich das Büro der Wohngesellschaft.

Dort wartete eine lärmende Menschenmenge auf Abfertigung. Mir schien, dass einige Mieter bereits längere Zeit ihr Bad nicht benutzt hatten. Der Geruch war abstoßend. Aus dem Stimmengewirr hörte ich Klagen:
„Seit Tagen nur braune Brühe aus dem Wasserhahn!“
„Heizung geht nicht“
„Kein Licht, kein Strom!“
„Toilette verstopft“
„Aus der Decke tropft Wasser!“
„Schimmel an den Wänden. Mein Kind hustet ständig.“
Die beiden Mitarbeiter der Wohngesellschaft, ein Mann und eine Frau, waren heillos überfordert. Van Gaderen trat hinzu und befahl: „Ich hoffe doch, dass alle Schadensmeldungen sorgfältig aufgeschrieben werden. Dokumentation ist alles.“
„Jawohl, Herr van Gaderen. Wir haben ja unseren Meldeblock“, sagte der Mitarbeiter unterwürfig. Der Block im Format DIN-A5 mit Vordrucken war gelumbeckt. Darauf unter dem Logo der Wohngesellschaft vier Spalten: Name, Hausblock, Nummer, Schaden. Der Mitarbeiter fragte flugs die Daten ab und füllt einen Vordruck aus, um ihn abzureißen und nach hinten seiner Kollegin zu reichen. Die Mitarbeiterin nahm das ausgefüllte Formblatt entgegen und schob es, für die Menge unsichtbar, in den Reißwolf. Weiterlesen

Die Alten im Jammerholz und unterm Hammer

Im kafkaesken Film „Traumstadt“ von Johannes Schaaf nach dem 1909 erschienenen Roman „Die andere Seite“ von Alfred Kubin, gibt es eine verstörende Szene, deren Sinn ich mir erst seit einigen Tagen deuten kann. Die kranke Lebensgefährtin des Protagonisten wird von einem Pferdefuhrwerk abgeholt und außerhalb der Stadt in einen Baum gebunden. So weit der Film. Bei einer Geburtstagsfeier lernte ich ein Paar aus dem Wendland kennen. Das Gebiet nahe der Elbe ist der Siedlungsraum der Wenden, einem slawischen Volksstamm, identisch mit den südöstlich in der Niederlausitz lebenden Sorben.

Ich befragte den Mann aus dem Wendland, ob in seiner Heimatregion noch wendische Bräuche gepflegt würden. Er berichtete eher scherzhaft vom Jammerholz. Dahin würden die Alten gebracht und an oder in die Bäume gebunden. Dieser schreckliche Brauch entstand vermutlich in Notzeiten, als hinfällige Alte entsorgt werden mussten, um die dörfliche Gemeinschaft nicht durch Versorgungsfälle zu schwächen und in ihrem Fortbestand zu gefährden. Befremdlich in unserer Gesellschaft, deren Errungenschaft eine ausreichende Altersversorgung ist. Zwar sind auch bei uns viele Geringverdiener von Altersarmut bedroht, aber unsere reiche Gesellschaft könnte sie auskömmlich ausstatten.

Dass Altersversorgung eine Erscheinung der Neuzeit ist, zeigt auch Jacob Grimm, der sich mit germanischen Rechtsaltertümern beschäftigt hat. Er berichtet von einem ähnlich derben Brauch, um zu verhindern, dass aus eigener Schuld in Not geratene Alte der Allgemeinheit zur Last fielen. An Kirchen, Stadttoren und Häusern fand sich in alter Zeit eine Keule oder ein Hammer angebracht. Die Bedeutung dieses Symbols wird in folgender Inschrift deutlich:

    Wer den Kindern gibt das Brot
    Und selber dabei leidet Not,
    Den soll man schlagen mit dieser Keule tot.

Bei Hans Sachs findet sich eine ähnliche Formel:

    Wer sein Kindern bei seinem Leben
    Sein Hab und Gut thut übergeben.
    Den soll man denn zu schand und spot
    Mit dem Kolben schlagen zu todt.

Zuletzt ein drastischer Beleg aus einer alten Handschrift:

    da was geschriben‚ swer der si,
    der ere habe unde gout,
    da bi so nerrisch muot
    daz er alle sine habe gebe
    sinen kinden unde selber lebe
    mit noete und mit gebrestenn,
    den sol man zem lesten
    slahen an die Hirnbollen
    mit diesem slegel envollen,
    daz im daz hirn mit alle
    uf die Zunge valle.

Alle Beispiele zeigen, dass dem Alten die Schuld gegeben wird, weshalb ihm der Tod zukommen soll, „gleichsam als strafe für die thorheit, sich allzu früh seiner habe zum besten der kinder abgethan zu haben“, schreibt Jacob Grimm. Grimm vermutet, dass derartig brutale Strafen nicht tatsächlich angewandt wurden, sondern als Drohung gemeint waren. Um in dieser Sache jemanden zu mahnen, war es sicher hilfreich, ihm zu zeigen,
wo der Hammer hängt.

So oder so

Wir waren eingeladen worden, den Quatenphysiker Herrn Dr. Satoris an seinem neuen Arbeitsplatz zu besuchen. In einer Halle lagen Berge von Kartons. Dazwischen hantierten viele seiner Kolleginnen und Kollegen. Es war nicht zu erkennen, was die Leute taten. Dr. Satoris öffnete einen Karton. Darin lagen lange schmale Päckchen mit grafisch interessanten Aufschriften. Dr. Satoris nahm ein Päckchen heraus, betrachtete es kurz und legte es achtlos wieder zurück. Ich sagte: „Halt!“ und holte es wieder hervor, um es in Ruhe anzusehen. Doch bei erneuter Betrachtung waren die Aufschriften verschwunden. Enttäuscht legte ich das Päckchen an seinen alten Platz. Auch die anderen Päckchen hatten Aufschriften.

Eines faszinierte mich besonders. Es war mit drei breiten schwarzen Bändern umwickelt. Doch es entzog sich mir ebenso. Nach mehreren Versuchen gab ich auf. Alle Gestaltungen veränderten sich oder verschwanden ganz, sobald ich sie herausnahm und in Augenschein nehmen wollte. Dr. Satoris antwortete ausweichend auf meine Fragen. Worin seine Tätigkeit bestand, was er und seine Kollegen arbeiteten, konnte oder wollte er mir nicht sagen. Bevor er sich ganz entzog, stellte ich ihn zur Rede, drückte ihn mit dem Rücken an eine Säule, stützte meine Hände links und rechts dagegen und hinderte ihn am Fortkommen: „Sie müssen doch wissen, welche Aufgabe das Unternehmen hat. Schon die Bezeichnung legt es nahe. In Unternehmen wird etwas unternommen, werden neue Mitarbeiter über die Unternehmensziele informiert, in ihre Tätigkeit eingewiesen und instruiert, welche Rolle sie fürderhin zu spielen hätten.“
„Ich nicht. Mir ist völlig frei gestellt, was ich tue.“
„Und was war eben mit dem Päckchen?“
Ich nehme ein Päckchen hervor oder ich nehme es nicht hervor. Das spielt keine Rolle.“
„Aber Sie und Ihre Kollegen öffnen die Kartons. Das scheint also ein Arbeitsauftrag zu sein.“
„Nicht direkt. Die Kartons werden geöffnet oder nicht geöffnet. Auch das spielt keine Rolle.“
„Wie kommt es dann, dass viele Kartons geöffnet sind?“
„Zufall. Je nachdem, wann man in die Halle kommt, sind viele oder wenig Kartons geöffnet.“
Es war zum Verzweifeln. Ich richtete mich auf und gab Dr. Satoris frei.
„Sie können fortgehen oder an der Säule stehen bleiben. Für mich spielt das keine Rolle, denn ich verlasse jetzt dieses Tollhaus.“

Digitales Geld in Deppenhand

Eine sehr junge Frau steht vor mir in der Bäckerei und kauft ein Brötchen. Dann zahlt sie den Minibetrag mit ihrem Smartphone. Hält das Ding ans Lesegerät, dreht sich auf dem Absatz herum und eilt davon. „Halt!“, ruft die immer mürrische Verkäuferin, zieht den Bon aus dem Drucker und indem sie ihn verächtlich wegwirft, erlaubt sie: „Jetzt können Sie gehen.“ Die junge Frau hat Deutsch mit Akzent gesprochen, ist wohl aus einem slawischen Land zugewandert und wähnt sich jetzt auf der Höhe der Zeit, in der man Brötchen mit Smartphone, also mit digitalem Geld kauft. Sie bekommt etwas Materielles, ohne zu erleben, was da im Kontakt zwischen ihrem Smartphone und dem Kartenleser geschieht.

Damit liefert sie sich einem völlig unwägbaren Vorgang aus. Niemand, weder sie, die Verkäuferin noch ich, der Beobachter, hat eine Vorstellung davon. Eine gewaltige energiefressende Infrastruktur ist nötig, damit derlei Bezahlvorgänge möglich sind. Und zwischen jeder Zahloperation und dem Bezahlenden greift ein digitaler Wegelagerer eine Gebühr ab. Elon Musk hat sein Vermögen mit derlei Wegelagerei gemacht, indem er 1999 den Bezahldienst PayPal gründete. Bei der digitalen Wegelagerei muss niemandem der Schädel einschlagen werden. Aber man schaut unwägbar für den Betroffenen in seine Jacke, kennt seine Kleidergröße, seine Aufenthaltsorte, seine Routinen, Kaufakte, Vorlieben, handelt mit diesen Daten oder leitet sie an Geheimdienste.

Mit dem Verschwinden des materiellen Geldes verschwindet auch seine Wertigkeit in unserer Wahrnehmung. Goldmedaillengewinner wurden eine Zeitlang fotografiert, indem sie ihre Zähne in die Medaille schlugen, was gewiss auf Zeiten rekurriert, als die Bissprobe echtes von Falschgold unterscheiden half. Nicht beißbar, nicht einmal greifbar und darum unbegreiflich ist digitales Geld. Ein Instrument, mit dem Regierungen willfähriges Verhalten erzwingen können, ist es auch, wie in den vergangenen Jahren, als PayPal das US-Embargo weltweit gegen Kuba durchsetzte.

Ich sehe die junge Frau nochmals auf dem Gehweg, wo sie ihr Fahrrad schiebt, und denke: Du bist die Vorhut unbedarfter hipper Deppen, die das Bargeld und ihre Selbstbestimmung verlieren werden.