Um sich abzulenken, griff er nach dem Duden-Band „Richtige Wortwahl“, schlug ihn wahllos auf, las sich fest, fand auch den Eintrag „Machenschaft“. Er musste lachen. „Machenschaft“ gehörte in seinen passiven Wortschatz, will sagen, er kannte das Wort, ohne es je selbst benutzt zu haben, allerdings nur als Plural. Die Bedeutung des Wortes war im Wörterbuch umschrieben:
„Machenschaft; Substantiv, feminin – sich im Verborgenen abspielende, unlautere Handlung, Unternehmung, mit der sich jemand einen Vorteil zu verschaffen oder einem anderen zu schaden sucht.“
Woher kamen jedoch die Gefühlswerte, die er mit dem Wort verband, ohne es je vorher benutzt zu haben? Irgendwann in den letzten Jahren war seine Beziehung zu Marie verunglückt. Er konnte zusehen, wie ihre Zuneigung allmählich schwand. Maries einst flammende Liebe zu ihm schlug um in dumpfe Abneigung. Was sie vorher anziehend an ihm gefunden hatte, verlor jeden Reiz, und am Ende konnte sie nicht mal mehr seine unwillkürlichen Lebensäußerungen ertragen, etwa hören, wie er atmete. Als sich von ihm abzuwenden begann, immer schlechter auf ihn zu sprechen war, ohne dass er ihr einen konkreten Grund gegeben hatte, begann sie, ihm „Machenschaften“ zu unterstellen. Der Vorwurf „Deine Machenschaften!“ machte ihn ratlos, weil er nicht wusste, was gemeint war. Erst recht irritierte ihn, dass sie nie von einer Machenschaft sprach, sondern immer im Plural von Machenschaften. Eine Machenschaft hätte er noch in den selten besuchten Abgründen seiner Seele finden können, aber gleich ein ganzes Bündel dunkler Unternehmungen, da wusste er beim besten Willen nicht, was gemeint war. Trotzdem hatte er Bilder vor Augen, wenn sie ihm Machenschaften vorwarf.
Er war einmal im belgischen Städtchen Maaseik an der belgisch-niederländischen Grenze gewesen. Dort hatte er gehört, dass die Keller der Häuser rund um den mittelalterlichen Marktplatz einst durch ein geheimes Gangsystem miteinander verbunden gewesen waren. In einem Kellergewölbe hielt die berüchtigte Mordbrennerbande der Bokkerijders ihren irrwitzigen Initiationsritus ab und plante ihre Raubzüge bis weit ins Rheinland hinein. Er stellte sich für jedes der Kellergewölbe eine andere Machenschaft vor, hie wurde Wein gepanscht, dort Falschgeld geprägt, nebenan Hehlerware gelagert, drüben verscharrte man immer wieder Kinderleichen, unter der Apotheke hielt man einen reichen Holländer gefangen und marterte ihn bis aufs Blut. Mit der Zeit verselbstständigte sich die Phantasie. Wenn Marie von seinen Machenschaften sprach, hörte er die spitzen Schreie des gequälten Holländers, vergoss Tränen um die erschlagenen Kinder und plante brutale Raubzüge durch die Nachbarschaft.
Sie vermied es, ihre Vorwürfe von den Machenschaften zu konkretisieren. Nie entfuhr ihr eine Andeutung, so dass er sich hätte vor den Kopf schlagen können und erleichtert ausrufen: „Ach, das meinst du! Das muss ja wirklich nicht sein“, und fortan hätte er diese Machenschaft vermieden.
Indem jedoch in der Welt nichts von Dauer ist, wurde ihm der Pauschalvorwurf „Deine Machenschaften“ irgendwann egal, denn die Wortbedeutung hatte sich durch ständige Wiederholung entleert. Die Machenschaften hatten sich in eine Horde Gespenster verwandelt. Und gegen nichtstoffliche Wesen ist bekanntlich kein Kraut gewachsen. Sie jedoch war verliebt in diese Gespenster, denn mit ihrer hässlichen Schar konnte sie sein Ansehen herabsetzen, ohne dass er sich hätte verteidigen können.