Mensch und Silberfisch – Der ewige Kampf
Skizze aus dem Jahr 1972 von Hermann Meier-Bode
Neben der Gattung Mensch lebt unerkannt auf dem Planeten Erde eine zweite intelligente Art. In grauer Vorzeit ist sie auf die Erde gekommen und hat sich angepasst – nicht durch Evolution, sondern durch eine technische Einrichtung: den Gestaltwandelsgenerator. Ursprünglich haben diese Wesen große Ähnlichkeit mit den bekannten Silberfischchen. Mittels Generator bringen sie sich auf die Größe des Menschen, nehmen seine biologischen Eigenarten an und können so unerkannt unter Menschen leben.
Die Gestaltwandlung darf nicht perfekt sein. Wenn sich beide Arten zu ähnlich sind, sinkt die Laune auf der einen wie auf der anderen Seite. Harmonisch geht es zu, wenn man gegenseitig feine Unterschiede entdeckt. Würde der Generator einmal ausfallen, sähen die Menschen sich plötzlich von Silberfischen umzingelt, und es käme zum Mord an der anderen Art, der in gewisser Weise lustvoll ausgeführt würde, weil die andere Art, unter dem Fuß zertreten, ein liebliches Knackgeräusch von sich gibt, am Ähnlichsten noch den von Kindern so genannten Knallerbsen, botanisch Gewöhnliche Schneebeere (Symphoricarpos albus).
In der Geschichtsschreibung der Anderen wird von einer solchen Fehlfunktion des Gestaltwandlers berichtet, die fast zur Ausrottung der Art geführt hätte. Darum ist bei den Anderen der Bewahrer des Gestaltwandlers hoch angesehen. Er allein sichert das Überleben der Art. Im Laufe der Jahrtausende hat sich eine Bewahrer-Dynastie etabliert, eine Familie, die das Amt vererbt und daher eine Vorrangstellung genießt, die manchen Anderen längst ein Dorn im Auge ist. Man argumentiert, dass es unklug von den Altvorderen war, sich von einer Maschine abhängig zu machen, statt auf natürliche Evolutionsprozesse zu setzen.
Unter den Wissenschaftlern der Anderen hat sich inzwischen die Erkenntnis durchgesetzt, dass auch die menschliche Art in Wahrheit den Silberfischchen ähnlich ist und nur durch einen Gestaltwandler auf die für Silberfischdimension bedrohliche Größe gebracht wurde. Wann der Prozess begonnen hat, wird diskutiert. Vor allem muss dem ein Wettrüsten zugrunde liegen, ein Versuch einer der Arten die andere in der Größe zu übertrumpfen, vermutlich um sie unter den Füßen zerknacken zu können.
Von der gemeinen Masse beider Völker unbemerkt, tobt dieses Wettrüsten weiter. Es ist zu vermuten, dass auch bei der menschlichen Art eine vergleichbare Dynastie das Wettrüsten lenkt. Da beide Arten die biologisch sinnvolle Größe erreicht haben, hat sich der Fokus auf den kognitiven Bereich verschoben. Beide Arten bringen wechselseitig Verblödungswaffen in Stellung, überfluten einander mit geisttötenden Zerstreuungsmedien und dergleichen Spielzeug. Im kulturellen Senat der Anderen wird beklagt, dass die Menschen überdies der Welt ihre Vorstellungen von Fortpflanzung aufgedrückt hätten, dieses hässliche Eindringen männlicher Zeugungswerkzeuge in die dafür vorgesehene Körperöffnung der weiblichen Spezies. Dabei wäre doch die indirekte Spermatophorenübertragung wesentlich ästhetischer, hinsichtlich des Geschlechtertanzes kein aggressiver Akt und einfach heiterer.“

Soweit die Studie, deren Inhalt ich nicht kennen durfte, die mir vermutlich nur ausgehändigt wurde, weil Delhey aus Platzmangel zu unleserlich geschrieben hatte. Er pflegt nämlich die Ränder ausgewerteter Zeitungen abzuschneiden und als Notizzettel zu benutzen. Jetzt verstand ich endlich, welchen Pressespiegel Delhey anlegte. Vermutlich suchte er nach Berichten, aus denen auf die kriegerischen Aktionen der Anderen zu schließen war. Oder waren die Mitarbeiter des Instituts sowie die in der 14. und 15. Etage residierende Dynastie in Wahrheit Vertreterinnen und Vertreter der Anderen? Nun, ich wusste von mir, ein Mensch zu sein. „Das ist schon mal klar“, murmelte ich. Aber war das berückende Fräulein, in das ich mich verliebt hatte, in Wahrheit eine Silberfischdame?