Vorschau auf: Das Ächzen der Dinge

Anders als böse Zungen behaupten, habe ich den letzten Jahren fleißig geschrieben. Um das zu sichern wird in der EDITION TEESTÜBCHEN bald ein neues Buch erscheinen. Das Manuskript ist lektoriert. Am Wochenende werde ich mit Freund Christian Dümmler, dem „Overlord of Bookdesign“ (Jason Koxvold), in seinem Nürnberger Atelier das Layout besprechen. Den Umschlag habe ich entworfen und die Qual der Wahl. Christian, mein Sohn Malte und ich, wir favorisieren den zuletzt gezeigten Entwurf. Leider muss eine Entscheidung fallen, denn es kann nur einen Umschlag geben.

Größer anschauen, bitte Klicken! Was meinst du, werter Teestübchenbesucher, werte Teestübchenbesucherin? Gerne lese ich deine Meinung und Argumente.

Linie 200 – Unterwegs mit jungen Leuten

An Hannovers Südstadt grenzt die List, ein Stadtteil mit schöner alter Bausubstanz. Die prächtigen Gründerzeithäuser waren und sind bei Wohngemeinschaften beliebt, wobei die einst studentische Klientel verdrängt wurde durch solvente Akademikerfamilien, die sich eine Sechszimmerwohnung oder noch größer leisten können. Die Gentrifizierung dieses Stadtteils wurde quasi durch den sozialen Aufstieg ihrer Mieter vorangetrieben. Die Wohngemeinschaft entvölkert sich, und übrig bleibt, wer sich die große Wohnung jetzt auch allein leisten kann. Die Rolle der List hat inzwischen der Stadtteil Linden übernommen, wo ähnliche Prozesse ablaufen.

An der Musikhochschule wird der Bus voll. Zu mir in die Vierergruppe setzen sich drei Studierende, zwei junge Frauen und ein alerter junger Mann. Er, mit erkennbar türkischen Wurzeln, studiert Bauingenieurwesen und erzählt, dass er gerade an seiner Masterarbeit schreibt. Er findet viele Dinge „nice“, weiß das auch zu steigern, nämlich manches ist „nicer.“ Die beiden Frauen sind offenbar noch weit vom Bachelor entfernt. Die mir schräg gegenüber sitzt, trägt eine riesige braune Lederjacke mit dicken Schulterpolstern, wie man in den 1980-er Jahren trug und ist damit laut der GALA „wieder top gestylt unterwegs.“ Sie studiert Machinenbau an der Fernuniversität Hagen und was sie erlebt hat, war garantiert unnice. Bei Studienbeginn, auf einem Zimmer wohnend, hat sie sich einen Kreuzbandriss zugezogen „und dann Lockdown. Online-Volesungen von morgens acht bis 18 Uhr.“

Sie erzählt lachend, dass sie kaum vor die Tür kam, aber man ahnt den Abgrund von Stress, sozialer Isolation und Hilflosigkeit. Wie sie ist da manche(r) in ein Loch gefallen. So dicke Schulterpolster kann es gar nicht geben, das schadlos zu überstehen. Die neben mir ist vielleicht Iranerin, studiert dem Vernehmen nach auch Maschinenbau und findet ihr Studium überfrachtet. Man müsse soviel lernen, was später nicht zu gebrauchen ist. Der Masterstudent bestätigt, er arbeite nebenher für einen Bauträger, und vieles, was er da wissen müsse, sei im Studium nicht vorgekomen. Aber „man kann alles googeln.“

Die drei bestätigen einander, dass viele Klausuren als Multiple Choice angelegt sind. Es sei ein Irrtum zu glauben, das wäre einfacher. Die Iranerin sagt: „Man kann überhaupt keinen eigenen Gedanken formulieren.“ Ja, ist das denn nötig? Als Lehrer habe ich erlebt, dass eine Schülerin mit Deutsch-Leistungskurs die Abiturprüfung mit einer glatten Eins bestanden hat, und ich hatte keinen einzigen eigenen Gedanken von ihr gehört. Wenn man eine Idee von der Verschulung des Studiums haben will, dann scheint mir zutreffend, was die Iranerin beklagt.

Eigene Gedanken brauchts nicht. Die Gesellschaft will perfekt funktionierende Menschen, die ihren Job machen, ohne nach links und rechts zu schauen. Gut so, alles andere führt letztlich in die Revolution. Leute, die stehen bleiben, einfach nur dastehen, sich das Rädergetriebe der Tretmühle anschauen und darüber nachdenken, die will man weder in Hannover noch anderswo. Als ich in Linden aus der 200 aussteige, habe ich eine interessante Lehrstunde in gesellschaftlicher Wirklichkeit hinter mir.

Mit der Linie 200 „Zurück zum Glück“

In Kurt Schwitters: „Ursachen und Beginn der großen Revolution von Revon“ beginnt die große Revolution, indem ein spielendes Kind einen Mann sieht und ruft: „Mama, da steht ein Mann.“ Wir errreichen die nächste Haltestelle der 200 an einer stark befahrenen Kreuzung, dem Kurt-Schwitters-Platz. Was haben sich Hannovers Stadtmütter und -väter wohl dabei gedacht, Schwitters nur eine Kreuzung zu gönnen? Sie wussten, dass Revon eigentlich Hannover meint, wenn man es von hinten liest. Darum haben Hannovers Stadtmütter und -väter gedacht, auf dem Kurt-Schwitters-Platz soll sicherheitshalber kein Mann stehen können, höchstens ein Verkehrspolizist.

Wir stehen auch nicht lang herum am schnöden „Platz“ des größten Künstlers, den Hannover bislang hervorgebracht hat, sondern wir steigen wieder in die Linie 200 und lassen das Sprengelmuseum hinter uns. Im und am Sprengel habe ich mich schon mehrmals mit Freund Merzmensch getroffen, zuletzt in den Jahren 2015 und 2019.

Vladimir Alekseev alias Merzmensch hatte im Rahmen seiner kunstwissenschaftlichen Forschungen an Kurt-Schwitters-Symposien des Sprengel-Museums teilgenomen und wir haben die Gelegenheit zum analogen Treffen genutzt. Kurios war der Besuch des Sprengel-Museums mit HaCK-Mitglied Filipe d’accord und Freunden:

Ich hätte mehr Fliegen erwartet

Der Bus fährt jetzt am Maschpark und am eklektizistischen Rathaus vorbei. Es ist an der Rückfront eingerüstet. Vermutlich restaurieren Zuckerbäcker den Protz. Wir fahren am Glaspalast der Nord-LB vorbei zum Verkehrsknotenpunkt Aegidientorplatz. Ab hier ist mir die Streckenführung der 200 nicht vertraut. Wie es weitergeht ins vornehme Südviertel weiß ich nicht.

Natürlich! Wir fahren durch Hannovers Bankenviertel ein Stück der Georgstraße und biegen vor der Oper in die Theaterstraße. Jetzt muss grüne Strickmütze aussteigen, wenn er zum Bahnhof will. Wir unterqueren die Bahnlinie und kurz hinterm Tunnel sind im vornehmen Südviertel. Irgendwo hier muss Altkanzler Schröder gewohnt haben. Unweit der Haltestelle Neues Haus liegt das Café „Zurück zum Glück.“ Hier trifft sich, wenn es die Corona-Maßnahmen erlauben, unter der Leitung eines Literaturwissenschaftlers alle 14 Tage die Schreibgruppe, deren Mitglied ich seit einigen Jahren bin. Derzeit finden die Treffen aber wieder online statt. Im „Glück“ wurde Schröder schon gesehen, nicht von mir – und der Pianist Igor Levit, denn nebenan liegt die Musikhochschule, wo er eine Professur hat. Ich habe ihn gesehen, aber nicht erkannt. Erst als die anderen ehrfürchtig über ihn redeten, wusste ich, wen ich ignoriert hatte, eine meiner leichtesten Übungen.

Wird fortgesetzt (letzte Etappe, in der es um junge Menschen geht)

Mal gucken, ob die Stadt noch steht – 2. Etappe

Im gestrigen Beitrag war von einer Ladesäule und einem Stromabnehmer die Rede. Aus einem Informationsblatt der ÜSTRA weiß ich inzwischen, dass es „Lademast“ und „Panthograph“ heißen muss. Der neue Bus hat etwas Steriles. Vertraut von außen ist das Farbkonzept, Lindgrün mit Grau. Dieses Lindgründ findet sich als verstreutes Akzent auch im Inneren. Die Sitze sind sparsam gepolstert, aber haben einen anthrazitfarbenen Plastikbezug. Gut zu reinigen, aber nicht besonders einladend. Mit mir ist eine junge Frau eingestiegen. Bis zum Siloah-Krankenhaus bleiben wir die einzigen Fahrgäste. Den Namen Siloah trug das Krankenhaus seit seiner Gründung im 19. Jahrhundert.

Das Wort „Siloah“ stammt aus dem Hebräischen und bedeutet „ausgesendet“. In der Nazizeit hieß die Klinik Krankenhaus Ricklingen. Im Jahr 2012 wurde ich erstmals zum Cyborg, als mir in der Klinik nach einem Herzinfarkt ein Stent ins Herz gepflanzt wurde. Damals war das Siloah im Umbau. Inzwischen sind im westlichen Klinikgelände eine Reihe von Neubauten fertiggestellt, und der Haupteingang wurde nach hier verlegt. Am Siloah steigen zwei Leute zu, ein Mann und eine Frau. Der Mann trägt eine Strickmütze in Lindgrün, so dass ich ihn für einen ÜSTRA-Mitarbeiter halte. Er scheint aber von außerhalb zu sein, denn er erkundigt sich später, wo er aussteigen müsse, um zum Bahnhof zu kommen. Wir fahren über die Stadionbrücke und überqueren die Ihme. Sie hat Hochwasser und leckt breit und behäbig über die Uferwiesen.

Um Hannovers Altstadt vor Hochwasser zu schützen, wird das Wasser der Leine auf Höhe des Maschsees über den Schnellen Graben in die Ihme geleitet, die vorher nichts als ein friedlich dahin murmelndes Bächlein ist. Als würde ein Säugling sich schlagartig verwandeln in einen Koloss von einem Mann, weitet sich das Bächlein unvermittelt zu einer schiffbaren Bundeswasserstraße.

Die Stürme der vergangenen Tage müssen am Oberlauf viel Regen gebracht haben. In Hannover hat es wie immer nur mäßig geregnet. Deshalb staune ich über soviel Wasser. Beim Schnellen Graben gibt es im Sommer einen Bootsverleih für Kanutouren über Leine und Ihme. Im Jahr 2017 haben mir Freunde eine solche Kanutour zum Geburtstag geschenkt. (Teestübchen berichtete)

Der Bus biegt vorher ab und nimmt schmale Wege, die hinter der HDI-Arena vorbeiführen, wo es Eingänge für Fans und eine Zufahrt für Mannschaftsbusse gibt. Im Jahr 2002 vermietete der Fußballclub Hannover 96 die Namensrechte für das ursprüngliche Niedersachsenstadion an Carsten Maschmeyers Finanzdienstleister AWD. Später gingen die Namensrechte an die Versicherungsgruppe HDI. Ab dem 1. Juli 2022 wird das Stadion den Sponsorennamen Heinz von Heiden-Arena bekommen. Das Isernhagener Unternehmen „Heinz von Heiden Massivhäuser“ hat für fünf Jahre die Namensrechte erworben. Für kurze Zeit fährt der Bus parallel zur Leine, die auch hier viel Wasser führt. Es ist trüb und hat offenbar wieder eine Menge Humus von überfluteten Feldern weggeschwemmt. Wir passieren die Robert-Enke-Straße, benannt nach dem populären 96-Torwart, der sich im November 2009 an einem Bahnübergang das Leben nahm. Die Straße heißt passender Weise vor der Einmündung in die Straße Arthur-Menge-Ufer auch Seufzerallee. Seufzend steigen wir aus und bummeln an der Maschseepromenade entlang zum Kurt-Schwitters-Platz.

Wird fortgesetzt

Mal gucken, ob die Stadt noch steht – Rundfahrt durch Hannover mit der Linie 200

Meinen Stadtteil Hannover-Linden verlasse ich nicht oft, fahre gewöhnlich nur einmal wöchentlich mit der Stadtbahn der Linie 9 quer durch Hannover nach Norden, wobei die 9 das Zentrum unterirdisch passiert. Um Eindrücke zu sammeln, entschloss ich mich gestern zu einer Stadtrundfahrt mit der Linie 200. Ich hätte auch die Buslinie 100 nehmen können, denn sie befährt dieselbe Strecke im Uhrzeigersinn, gegenläufig zur 200. Von der Haltestelle in meiner Nachbarschaft fährt die 200 zunächst ein Stück den Lindener Berg hinauf, um auf halber Höhe vor dem Wasserspeicher und der Sternwarte nach links abzubiegen und an der Flanke allmählich abwärts zu fahren.

An einem Kreuzungseck, in dem ein Baumarkt liegt, staune ich, dass die Strecke offenbar verlegt wurde, denn einst führte sie am Baumarkt entlang durch ein Industriegebiet, wo es umgewidmete Hanomag-Bauten, weitere Baumärkte und einen großen Fahrradmarkt gibt. An der überdachten Haltestelle am Deisterkreisel zu sehen, muss die Veränderung der Fahrstrecke längere Zeit zurückliegen. Ich bin aber schon gut zwei Jahre nicht mehr in der Gegend gewesen. Wir fahren weiter durch Linden Süd, wo es offenbar ein größeres Fahrgastaufkommen gibt als an der alten Strecke. Doch dann biegt der Bus in die Ritter-Brüning-Straße ein. Hier verkehren parallel die Stadtbahnen 3, 7 und 17. Die Straße ist nach Ritter Brüning von Alten benannt, der im Jahr 1413 vom Ritter von dem Haus im Streit um einen Jagdfalken getötet wurde. Ein dummer Tod, wie mir scheint, aber nicht dumm genug, dem hitzköpfigen Ritter keine vierspurige Straße zu widmen.

Die Adelsfamilie von Alten besaß einst die ganze Gegend und saß im 19. Jahrhundert auf einem barocken Lindener Schloss im Von-Alten-Garten. Das Schloss ist 1945 durch britische Luftangriffe zerstört worden. Übrig ist nur eine Terrasse mit rückwärtiger Mauer und Balustrade. Ich habe dort schon schreibend in der Sonne gesesssen. Den einst weitläufigen Schlosspark haben benzintrunkene Hannoveraner Verkehrsplaner zerstört, indem sie den Westschnellweg mitten hindurch führten.

Zurück zur Ritter-Brüning-Straße, auf der jetzt drei Stadtbahnen und ein Bus verkehren, ein Überfluss, der eigentlich durch nichts zu rechtfertigen ist. Wir tuckern an der Petristraße vorbei, wo die Frau einst lebte, deretwegen es mich im Dezember 2008 nach Hannover verschlagen hat. Ich horche kurz in mich hinein, aber Erinnerungen wollen sich nicht regen. Vorbei und vorbei am S-Bahnhof Fischerhof hinein in den Stadtteil Ricklingen, wo ich mit den Worten meiner 2. Hannoveraner Liebschaft „nicht tot überm Zaun hängen möchte.“

In Ricklingen, am August-Holweg-Platz, liegt aber die Endhaltestelle der Linie 200. Der gelernte Dreher August Holweg war zur Zeit des Nationalsozialismus im Widerstand und von 1956 bis 1972 Oberbürgermeister von Hannover, ein verdienter Mann. Ich quere die Straße hinüber zu seinem Platz und möchte zur Weiterfahrt in einen wartenden Bus einsteigen. Der Fahrer lässt mich aber noch nicht, sagt: “Erst, wenn der aufgeladen ist.“ Ich trete zurück und betrachte das ganze Fahrzeug. Tatsächlich es ist einer der neuen Busse mit Elektro-Antrieb, hat auf dem Dach einen Stromabnehmer ausgefahren, der von einer L-fürmig übers Dach ragenden Ladesäule versorgt wird. Nach etwa zehn Minuten, fährt der Abnehmer nach unten, und ich kann einsteigen zur nächsten Etappe.

Wird fortgesetzt

Von Armut und Schweinen

„Oach, ich bin ja so müd“, seufzte Jeremias Coster, der dubiose Professor für Pataphysik an der RWTH Aachen.
„Zu müde für das auslautende e, Professor?“
„An manchn Tagn ist halt in allm Mangl, und mit e muss ich sparsam haushaltn.“
„Wussten Sie, dass Arno Schmidt Zeit seines Lebens arm gewesen ist? Seine Frau Alice kannte nichts anderes als sparsam haushalten. Erst als im Jahr 1977 Jan Philipp Reemtsma ihm 350.000 Mark zukommen ließ, den Gegenwert eines Literaturnobelpreises, erst dann waren Schmidt und seine Frau die materiellen Sorgen los.“
„Das Geld kam offenbar zu spät.“
„Ja, Arno Schmidt ist zwei Jahre darauf gestorben.“

„Tragisch. Ich bin als Kind auch arm gewesen“, sagte Coster. „Nach dem frühen Tod meines Vaters sind wir arme Leut gewesen. Mir als Kind fiel das nur auf, wenn ich basteln wollte und meine Mutter kein Geld für ein Tübchen Uhu hatte. Sie mischte dann Kleber aus Mehl und Wasser, was ungeeignet für Papierarbeiten war, weil sich das Papier unter der Nässe wellte. Zu essen hatten wir genug, Obst und Gemüse aus dem Garten meiner Großeltern, und in einem lichtlosen, mit Ratten verseuchten Schuppen mästete meine Mutter ein Schwein. Trotz seiner erbärmlichen Umstände quiekte das Schwein schrecklich um sein elendes Leben, wenn mein Onkel, der Metzger, es an den Ohren aus seinem engen Verschlag zog, um es in der Waschküche zu töten und komplett zu zerlegen.
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Silberfisch und Silberfischchen II

Mensch und Silberfisch – Der ewige Kampf
Skizze aus dem Jahr 1972 von Hermann Meier-Bode

Neben der Gattung Mensch lebt unerkannt auf dem Planeten Erde eine zweite intelligente Art. In grauer Vorzeit ist sie auf die Erde gekommen und hat sich angepasst – nicht durch Evolution, sondern durch eine technische Einrichtung: den Gestaltwandelsgenerator. Ursprünglich haben diese Wesen große Ähnlichkeit mit den bekannten Silberfischchen. Mittels Generator bringen sie sich auf die Größe des Menschen, nehmen seine biologischen Eigenarten an und können so unerkannt unter Menschen leben.

Die Gestaltwandlung darf nicht perfekt sein. Wenn sich beide Arten zu ähnlich sind, sinkt die Laune auf der einen wie auf der anderen Seite. Harmonisch geht es zu, wenn man gegenseitig feine Unterschiede entdeckt. Würde der Generator einmal ausfallen, sähen die Menschen sich plötzlich von Silberfischen umzingelt, und es käme zum Mord an der anderen Art, der in gewisser Weise lustvoll ausgeführt würde, weil die andere Art, unter dem Fuß zertreten, ein liebliches Knackgeräusch von sich gibt, am Ähnlichsten noch den von Kindern so genannten Knallerbsen, botanisch Gewöhnliche Schneebeere (Symphoricarpos albus).

In der Geschichtsschreibung der Anderen wird von einer solchen Fehlfunktion des Gestaltwandlers berichtet, die fast zur Ausrottung der Art geführt hätte. Darum ist bei den Anderen der Bewahrer des Gestaltwandlers hoch angesehen. Er allein sichert das Überleben der Art. Im Laufe der Jahrtausende hat sich eine Bewahrer-Dynastie etabliert, eine Familie, die das Amt vererbt und daher eine Vorrangstellung genießt, die manchen Anderen längst ein Dorn im Auge ist. Man argumentiert, dass es unklug von den Altvorderen war, sich von einer Maschine abhängig zu machen, statt auf natürliche Evolutionsprozesse zu setzen.

Unter den Wissenschaftlern der Anderen hat sich inzwischen die Erkenntnis durchgesetzt, dass auch die menschliche Art in Wahrheit den Silberfischchen ähnlich ist und nur durch einen Gestaltwandler auf die für Silberfischdimension bedrohliche Größe gebracht wurde. Wann der Prozess begonnen hat, wird diskutiert. Vor allem muss dem ein Wettrüsten zugrunde liegen, ein Versuch einer der Arten die andere in der Größe zu übertrumpfen, vermutlich um sie unter den Füßen zerknacken zu können.

Von der gemeinen Masse beider Völker unbemerkt, tobt dieses Wettrüsten weiter. Es ist zu vermuten, dass auch bei der menschlichen Art eine vergleichbare Dynastie das Wettrüsten lenkt. Da beide Arten die biologisch sinnvolle Größe erreicht haben, hat sich der Fokus auf den kognitiven Bereich verschoben. Beide Arten bringen wechselseitig Verblödungswaffen in Stellung, überfluten einander mit geisttötenden Zerstreuungsmedien und dergleichen Spielzeug. Im kulturellen Senat der Anderen wird beklagt, dass die Menschen überdies der Welt ihre Vorstellungen von Fortpflanzung aufgedrückt hätten, dieses hässliche Eindringen männlicher Zeugungswerkzeuge in die dafür vorgesehene Körperöffnung der weiblichen Spezies. Dabei wäre doch die indirekte Spermatophorenübertragung wesentlich ästhetischer, hinsichtlich des Geschlechtertanzes kein aggressiver Akt und einfach heiterer.“

Soweit die Studie, deren Inhalt ich nicht kennen durfte, die mir vermutlich nur ausgehändigt wurde, weil Delhey aus Platzmangel zu unleserlich geschrieben hatte. Er pflegt nämlich die Ränder ausgewerteter Zeitungen abzuschneiden und als Notizzettel zu benutzen. Jetzt verstand ich endlich, welchen Pressespiegel Delhey anlegte. Vermutlich suchte er nach Berichten, aus denen auf die kriegerischen Aktionen der Anderen zu schließen war. Oder waren die Mitarbeiter des Instituts sowie die in der 14. und 15. Etage residierende Dynastie in Wahrheit Vertreterinnen und Vertreter der Anderen? Nun, ich wusste von mir, ein Mensch zu sein. „Das ist schon mal klar“, murmelte ich. Aber war das berückende Fräulein, in das ich mich verliebt hatte, in Wahrheit eine Silberfischdame?

Silberfisch und Silberfischchen

Die Aussicht, das Archiv des Instituts besuchen zu dürfen, stimmte mich froh. Ich liebe Ordnungssysteme, sowohl die dazu notwendigen Aufbewahrungsmöbel, die Archivschränke, die Regale, Boxen und Schatullen als auch Karteien und Fundstellenregister. Ich stieg die Treppe hinauf und betrat das Archiv. Ein strenger Archivar mit dem Gesicht einer Maus verlangte eine Legitimation von mir.
„Herr Dr. Spiegel schickt mich“, sagte ich und dachte, das wäre Legitimation genug.
„Da könnt fei jeda kumme“, sagte der Mausartige. „Haben Sie nichts Schriftliches? Keinen Anforderungsschein?“

„Nein, die Order kam fernmündlich von Dr. Spiegel an Herrn Delhey, der mein Vorgesetzter ist. Er schickte mich zu Ihnen hinauf.“
„Ts, ts, Sie kamen also her. Man schickte Sie demgemäß herauf.“
„Aus Ihrer Sicht gewiss, aber aus meiner nicht. Es ist halt alles eine Frage der Perspektive. Ich wurde nach einer Order von ganz oben zu Ihnen hinaufgeschickt, um ein Dokument zu besorgen. Einen Anforderungsschein gab man mir nicht.“
„Das ist mal wieder typisch. Der Herr der fünften Etage setzt sich über alle Verwaltungsvorschriften hinweg.“
„Das tut mir leid. Herr Delhey hat mir lediglich eine Katalognummer auf den Rand einer Zeitung gekritzelt. Wenn Sie diese Notiz als Anforderungsschein akzeptieren mögen?“
„Geben Sie schon her!“, sagte der Archivar ungehalten, beugte sich über den Zettel, rückte seine Brille zurecht, beugte sich nochmals über den Zettel und schnaubte: „Sauklaue! Ist das eine Fünf oder ein S? Eher wohl ein S.“ Er zog eine Schublade aus einem Karteikastenschrank, blätterte darin, zog eine Karteikarte und rief „Ha! Dieses Dokument ist Verschlusssache, darf also nicht ausgeliehen werden. Sie können es einsehen, aber dürfen sich keine Notizen machen.“
„Mir wurde etwas anderes gesagt“, murrte ich, denn ich sah die Verwicklungen voraus, den Tadel, dass ich das Dokument eingesehen hätte, obwohl es mir verboten war. Maus verschwand in einem schmalen Gang, war lange weg und brachte mir ein Schriftstück erstaunlichen Inhalts, das ich aus der Erinnerung wiedergebe. Es ist überschrieben mit:

„Mensch und Silberfisch – Der ewige Kampf
Eine Skizze aus dem Jahr 1972
von Hermann Meier-Bode

Fortsetzung morgen 0:01

Lisa Rollgabelschlüssel

Schöne Namen, die im Telefonbuch leider fehlen:

Lisa Likörstube
Hans-Peter Kanaldeckel
Elfriede Heizkostenabrechnung
Karl-Josef Rollgabelschlüssel
Caro Satteltasche
Hannah Rückversicherung
Paul Bindehautentzündung
Susi Lunchpaket

Warum fehlen derlei Namen? Die Sachbereiche, aus denen unsere Nachnamen stammen, sind überschaubar
:

– Berufsbezeichnung,
– Vorname von Vater oder Mutter,
– Herkunft (Ortschaft oder Region),
– Wohnstätte,
– Körpermerkmale,
– Eigenheiten.

Da die Familiennamen ab dem 12. Jahrhundert entstanden sind und im 19. Jahrhundert standesamtlich festgeschrieben wurden, zeigt sich darin eine geschichtlich abgeschlossene Konservierung, die keine Neuheiten wie etwa Mobilfunkgerät oder Telefonzelle zulässt.

Nennen Sie mich bitte Heintzmann!

Wer die Medizinische Hochschule Hannover (mhh) zu einer ambulanten Untersuchung betritt, kriegt zuerst einen Knüttel zwischen die Hörner, denn er muss eine Nummer ziehen und sich in einen Wartebereich verfügen. Diese gewiss probate organisatorische Maßnahme hat einen unerwünschten Nebeneffekt. Sie zeigt jedem, als was er im modernen Großkrankenhaus gilt. Über Anzeigetafeln wird die Nummer in eine von acht Kabinen gerufen, wo sie sich mit ihren amtlichen Papieren ausweisen kann. Damit wird Person A062 wieder zu Frau oder Herr Sowieso. Mit dem Segen einer Verwaltungskraft bekommt die Person ein wenig ihrer Würde zurück, denn amtlich Namen sind doch Teil der eigenen Identität.

Im weitläufigen Wartebereich der Augenklinik werden Namen gerufen, immer mit dem höflichen Zusatz „bitte.“ Ein Herr Heintzmann, seinem Habitus gemäß und wie er seinen an sich überflüssigen Aktenkoffer immer mit sich schleppt, ein pensonierter Lehrer, überhört mehrmals, dass er zu einer Vermessung aufgerufen wurde. Einmal mache ich ihn darauf aufmerksam. „Sie, Herr Heintzmann, wurden aufgerufen.“ In den Anfängen der Datenschutzgrundverordnung, als noch niemand recht wusste, wie sie in der Praxis zu handhaben wäre, hätte das namentliche Aufrufen von Patienten als illegal gegolten, um zu verhindern, dass ein Unbefugter wie ich Name und Person in Verbindung bringt.
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