Knalljournaille

Das flämisch/niederländische Wort „Valpartej“ – wörtlich Fallpartie klingt in meinen Ohren verharmlosend, weil es ans deutsche „Kahnpartie“ erinnert, mithin an ein gesellschaftliches Ereignis. Unser „Massensturz“ ist eindeutiger. Die Frau, die am Sonntag bei der Tour de France mit einem Pappschild einen Massensturz auslöste, ist flüchtig. Die Gendarmerie des Departements Finisterre in der Bretagne konnte sie nicht finden und geht davon aus, dass sie das Land verlassen hat. Vermutlich ist sie wieder zu Hause in Schilda, wie die FAZ weiß. Oder ist die Überschrift einfach nur dummes Zeug?

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Bodensee-Kursplitter IX

Jugend in der Unterwelt
In der vierten Woche, von Dienstag bis Dienstag werde ich unbegleitet sein. Die Schwäbin meines Herzens reist nach drei Wochen Kur weiter zum Verwandtenbesuch in die Schweiz. Am Pfingstmontag müssen wir ihr Mietfahrrad abgeben. Weil der Radolfzeller Fahrradladen geschlossen hat, sollen wir das Rad in einer Tiefgarage abstellen. Radolfzell ist an diesem trüben Regentag wie ausgestorben. Leben gibt es nur in besagter Tiefgarage. In Ermangelung besserer Orte hat sich dort eine Gruppe Jugendlicher versammelt. Einer fährt kunstvolle Figuren mit seinem BMX-Rad, aus einer Ecke klingen neckisch die hellen Stimmen junger Mädchen. Dazwischen tönen brüchig-raue Stimmen junger Männer. Im Hall der Tiefgarage nicht genau zu verorten, sind das unwirklich-surreale Klänge. Ich bin froh, als wir dieses Schattenreich der Automobilhölle verlassen können.

Bahnfahrers Klagelied
In Deutschland mit mächtiger Automobilindustrie und Verkehrsministern, die schon Jahrzehnte im Hintern der Autolobby zu Hause sind, darf man sich über den desolaten Zustand der Bahn nicht wundern. Da haben Streckenstilllegungen Methode, denn wo kein Zug mehr fährt, müssen pro Haushalt ein, zwei oder mehr Autos her. Die Deutsche Bahn verballert Milliarden für aberwitzige Prestigeobjekte wie „Stuttgart 21.“ Das Geld fehlt überall, beim Erhalt des rollenden Materials und des Schienensystems. Im Grenzgebiet zur Schweiz trifft das Deutsche-Bahn-Elend auf die Philosophie der Pünktlichkeit der Schweizerische Bundesbahnen AG (SBB), schließlich baut man dort überwiegend Uhren.

„Querende Züge“
Auf der Hinfahrt nach Radolfzell sind wir in Singen in einen IC der SBB umgestiegen. Obwohl man von Singen nach Radolfzell spucken kann, fahren wir dort 45 Minuten Verspätung ein. Der Zug bleibt immer wieder auf der Strecke stehen und ein Schweizer Zugchef versorgt die Fahrgäste mit verzweifelten Erklärungsversuchen von „langsam vorausfahrenden“ und „querenden Zügen“, was immer das ist.

Ein Fahrer muss leiden
Jedenfalls langen wir in Radolfzell an, nachdem der Fahrer der Kurverwaltung bereits Feierabend hat. Er sitzt offenbar auf heißen Kohlen, fährt uns im halsbrecherischen Tempo zur Kurverwaltung und derweil wir einchecken unsere Koffer zur Unterkunft, steht wieder vorm Gebäude, um uns zu unseren Koffern zu bringen, bricht schier zusammen, als die Schwäbin zurück zur Rezeption eilt, weil sie ihre Tasche vergessen hat. Beim Ausstieg geben wir ihm sechs Euro Trinkgeld in die offene Hand. Er schaut nicht mal hin, und wirkt, als wollte er sich verächtlich in die Hand spucken. Wir sind unschuldig, schon gegen sieben Uhr in Hannover losgefahren: „Nimm den Rotz, Andreas Scheuer!“

Bodensee- Kursplitter VIII

Vom anderen Stern
Bei der Wassergymnastik betritt ein Mann mit gewaltigem Bauch die Schwimmhalle. Am Beckenrand stolziert die gertenschlanke Sportlehrerin und demonstriert mit selbstverliebter Perfektion die Übungen. Wir im Wasser können nur staunen über diese Selbstinszenierung in koboldartiger Überdrehtheit. Bauchmann und Sportlehrerin wie Wesen von verschiedenen Planeten.

Kleine Freuden
Am Yachthafen von Moos bei den dümpelnden Booten schön in der milden Abendsonne gesessen und Pizza Funghi gegessen. Dabei empfinde ich eine fast diebische Freude, das gesunde, fettreduzierte Abendessen in der Kur zu verpassen.

Der einzige Kunde
In Radolfzell öffnen die Geschäfte wieder. In einem Sportkaufhaus erstehe ich Laufschuhe. Der Seniorchef und eine Verkäuferin kümmern sich gut eine halbe Stunde darum, die richtigen Schuh für mich zu finden.

Rechts-Links-Schwäche
Weil ich die Kur um eine Woche verlängere, muss ich in ein anderes Zimmer umziehen. Es ist genau spiegelverkehrt zu meinem alten Zimmer. Die Umstellung fällt mir schwer, namentlich das Betreten der engen Dusche. In drei Wochen haben sich die Bewegungsabläufe anders herum eingeschliffen, dass mein inneres Ich nicht umlernen mag.

Handwerkskunst
Seitdem ich einst im eigenen Haus das Bad gefliest habe, interessiert mich an fremden Bädern die Arbeit des Fliesenlegers. Einmal nächtigte ich bei einer Radtour entlang der Ruhr in einem Hotel, das von Chinesen geführt wurde. Die Wirtin trug stets ein kleines Kind auf dem Arm. Beim Duschen erfasste mich das große Staunen. Das perfekt geflieste Bad war derart eng und klein, dass man sich nur nach gezielter Überlegung drehen oder wenden konnte und trotzdem überall aneckte. Hinfort zwängte ich mich nur nach gründlicher Planung in dieses Bad. Ich war sicher, dass die chinesische Wirtin, obschon dicker als ich, dieses Bad bis in den letzten Winkel putzen würde, und dabei hätte sie natürlich im linken Arm das kleine Kind. Auch hätte ich gerne den Installateur gesehen, der in dieser Enge alles sauber angebracht hatte. Diesem Mann hätte ich gerne die Hand geschüttelt.

Wenn das Herr Litfaß wüsste
Neben dem anzüglichen Inhalt und der kuriosen kontextualisierung der beiden Plakate zeigt sich bei der unteren Plakatwerbung eine Mehrfachkodierung des Vokals O.
(Litfaßsäule auf der Halbinsel Mettnau
Foto: JvdL
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Bodensee Kursplitter VII

Die Sterne müssen warten
Über dem Starnberger See habe ich einst einen prächtigen Sternenhimmel gesehen, sogar die Milchstraße, die Stadtbewohner nur noch vom Hörensagen kennen. Ähnlich frei von Lichtverschmutzung müsste der Himmel über dem Bodensee sein. Bei einer Flasche Pinot Grigio sitzen meine aparte Begleiterin und ich auf dem Balkon und warten den Sonnenuntergang und die Dunkelheit ab. Leider wird es rasch so kalt, dass wir es selbst unter einer gemeinsamen Kuscheldecke nicht lange genug aushalten.

Eingriff in die Natur
Einige Kurgäste und ich sitzen auf der Sonnenterrasse neben dem Speisesaal. Da kommt quer über die Wiese hinweg eine Schar Gänse im Gänsemarsch. Vorneweg die beiden Alten, dahinter die Gänseküken. Eine fette Krähe fliegt heran und hüpft auf das letzte Küken zu. Da springt ein Kurgast auf und mit den entrüsteten Worten: „Sag mal!“ verscheucht er die Krähe. Sie hüpft aber nur ein wenig zur Seite. Erst jetzt haben die beiden Alten die Bedrohung ihres Kükens bemerkt und jagen mit gestreckten Hälsen und aus offenem Hals fauchend auf die Krähe zu, die nun endgültig auffliegt.

Die Entrüstung des Kurgastes kann ich verstehen. Niemand mag mitansehen, wie vor seinen Augen sich ein blutiger Kükenmord vollzieht. Da wird der Mensch zum „Tierfreund“, indem er einseitig Partei ergreift. Aber hat er das Recht, derart in den Lauf der Natur einzugreifen? Beutegreifer wie die Krähe haben auch ein Lebensrecht, genau wie der Mensch, der bedenkenlos Fleisch aus Massentierhaltung verzehrt.

Vertragsbruch
Im Traum sollte ich ein Kleid vorführen und darin fotografiert werden. Aber ich zog nicht den vereinbarten Lappen an, sondern ein schönes Kleid von Schiesser. Tags zuvor hatte ich gehört, dass die Schiesser AG ihren Hauptsitz im angrenzenden Radolfzell hat. Dass ich die Neigung hätte, Frauenkleidung zu tragen, behaupten nicht mal böse Zungen.

Sozialdarwinismus
Auf dem Gelände der Kurklinik erhebt sich das Scheffelschlösschen. Es war der Sommersitz des Dichters Joseph Victor von Scheffel. Bei seinen Naturbeobachtungen kommt er zum Fazit:
„Denn der Große frißt den Kleinen, /
Und der Größte frißt den Großen, /
Also löst in der Natur sich /
Einfach die soziale Frage.“

Was gibt’s denn da zu sehen?

In einem Radolfzeller Garten fotografiere ich diese Badenixen. Claus Kleber kommt mit dem Fahrrad vorbei und schaut neugierig, was es da zu fotografieren gibt. Später kaufe ich just dort bei einem Hausflohmarkt für vier Euro ein weiteres Engelchen für Jeremias Costers Hausaltar. (Leider bin ich derzeit nicht in meiner Wohnung und kann nicht fotografieren, wie die Engelchen seine Asche bewachen, die sich im Filmdöschen befindet.)

Bodensee-Kursplitter VI

Alarm unterm Dach
Das Haus, in dem wir untergebracht sind, liegt direkt am See. Die Zimmer haben Balkon und Seeblick. Das Gebäude hat den Charme einer Jugendherberge und ist gedeckt mit gewellten Eternitplatten. Nah der Regenrinne nisten unter den halbrunden Enden der Platten offenbar Spatzen. Allmorgendlich landen dort fette Krähen und versuchen ein Frühstück zu räubern. Da erhebt sich ein wüstes Schimpfen in der Spatzenkolonie. Wo der Mensch ein Naturidyll erlebt, findet simultan ein ständiger Überlebenskampf statt.

Impf-Alpträume
Aus dem Vorhang staken türkisfarbene Hände, hat meine aparte Begleiterin nach der Impfung mit AstraZeneca geträumt. Ihr Nachbar berichtet von seiner Impfung mit AstraZeneca: Nach einem nächtlichen Toilettenbesuch hätten in seinem Bett zwei Kopfkissen gelegen. Ein Mann, der aussah wie er selbst, kam hinzu und legte sich neben ihn. Dann schrumpfte er zum Zwerg und sprang unermüdlich ums Bett. Aus der nahen Schweiz erreicht mich dieses Video:

Zwielaut spezial
Ich habe bei der Schwäbin meines Herzens festgestellt, wie sie den Diphthong (Zwielaut) „ei“ spricht, beispielsweise in „Schweiz.“ Hinter dem „ei“ erklingt immer noch ein einzelnes „i“, so dass es klingt „Schwei-iz.“ Versuche es und fühle dich wie ein halber Schwabe, eine halbe Schwäbin.

Kur statt Urlaub

„Im Lesebereich saß kein Geringener als Klaus Kleber“, sagt sie eines Morgens. Tatsächlich steht er bald darauf am Büfett. Meine Begleiterin findet ihn kleiner als er im Fernsehen wirkt. Ich höre ihn später auf der Terrasse reden. Ein alerter junger Türke hat ihn vereinnahmt, und Kleber gibt ihm Karrieretipps beim ZDF: „Du, ich finde klasse, dass du dich so interessierst.“
Die ihre Sätze mit dem kumpelhaften „Du“ beginnen, sind mir nicht geheuer.

Bodensee – Kursplitter V

Das Wetter wird gebracht
Nach dem heftigen Regen der Nacht ist im Kurpark das Kneippbecken randvoll. Zwei Arbeiter sind daran beschäftigt, haben den Gullydeckel zu einem Schacht geöffnet, woraus das Rauschen einer Pumpe zu hören ist. Ich frage im Vorbeikommen, was passiert ist. Die Pumpe spiele verrückt, sagt einer und geht mit mir weiter. Wie wohl das Wetter wird, frage ich. „Wenn des Weddr kommd, des sie brochd hend, hörd’s bald auf zu soicha“, sagte er. Gemeint ist wohl die im Fernsehen gebrachte Wettervorhersage.

Schwäbische Mediennutzung
„Em Fernseh wird ebbes brocht, em Radio au,
aber im Intenet und in der Schwäbische Zei-itung stohts.“

Oma bekommt Besuch
Ein kurdischer Masseur schildert mir eine Entwicklung: „Früher hatte Oma Geburtstag, und die ganze Familie fuhr mit einem Auto hin. Heute gleiche Oma, gleicher Geburtstag, die Familie fährt mit fünf Autos hin.“

Der Zeller See im Nebel – Foto: JvdL


Auf Schwaden starren
Sauwetter seit Tagen, Wind und Regen bei Temperaturen um 15 Grad. Der Zeller See ist allmorgendlich nebelverhangen. Über den jenseitigen Hügeln steigen Nebelschwaden auf. So kenne ich den Bodensee. Vor genau 56 Jahren bin ich als Jugendlicher schon einmal hier gewesen. Vier Freunde und ich radelten von Nettesheim eine Woche hin, eine Woche zurück. Eine Woche blieben wir am Bodensee und erlebten ihn fast nur im Regen. Auf der Hinfahrt durch den regenverhangenen Schwarzwald nächtigten wir in der Jugendherberge von Freudenstadt. Wir teilten uns die Dachstube mit zwei niederländischen Studenten. Indem der Regen aufs Dach prasselte, ein Freund eine Reportage über seine auf- und abschwellende Erektion gab, geschah meine politische Erweckung. Die Studenten klärten uns darüber auf, welches Unrecht der Vietnamkrieg war. Bis dahin hatte ich derlei nie gehört, hatte in einer Filterblase gelebt, denn in den Nachrichten von ARD und ZDF wurde es nicht ausgesprochen, auch die Neuß-Grevenbroicher Zeitung war voll auf US-Kurs gewesen. Jetzt verstand ich, warum zu Karneval in Köln die Jugendlichen „Ho-Ho-Ho-Chi-Minh!!“ skandiert hatten.

Nicht meine Schuld
Nach der missglückten Kahnpartie wasche ich meine verschlickten Sneakers am Badestrand und gehe Barfuß Richtung Unterkunft. Unterwegs raste ich auf einem Stein.Unzählig Tagesausflügler ziehen vorbei. Zwei türkische Jugendliche fragen, ob es wo was zu essen gibt. Wegen Corona hat auch das Restaurant am See geschlossen. „Hier gibt’s nichts.“
„Keinen Döner?“, wundern sich der eine.
„Auch keine Pommes?“, fragt der andere aggressiv.

Bodensee – Kursplitter IV

It’s no partytime
Eines Morgens betritt ein etwa 55-jähriger gedrungener, leicht schmieriger Mann den Speisesaal. Er trägt ein schwarzes T-Shirt mit der weißen Aufschrift: „Saugen, Blasen oder mit der Hand?“ Darunter steht noch ein kleiner Text, den ich aber nicht lesen kann. Die anderen Kurgäste sind konsterniert. Die Saalchefin spricht mit ihm, gibt sich aber, wie es scheint, mit seiner Antwort zufrieden. Warum wird er mit seinem offen sexistischen T-Shirt nicht des Saales verwiesen? Später recherchiere ich mit meinem Smartphone im Internet. Die Bildersuche zeigt derlei T-Shirts haufenweise. Es ist der Sex-Party-Hit: „Saugen, Blasen oder mit der Hand“ Der klein gedruckte Text lautet: Wie bekommt man Laub am schnellsten weg?“ Der Schmierlappen hatte sich nur einfach in der Lokalität vertan.

Wozu Antisepsis-Salbe gut ist
Auch im Lockdown blieb in meiner Nachbarschaft das Real-Kaufhaus geöffnet, weil es im Supermarkt Lebensmittel verkauft. Vor der Abreise in die Kur kaufte ich dort neue Snaekers. Sie waren zu billig, um qualitätsvoll zu sein. Beim Gang über das Kurgelände drückt sich ein spitzes Steinchen durch die Sohle und dringt mir in den Fuß. Ich finde es erst nach langem Suchen und puhle es aus der Sohle. Zurück bleibt eine schmerzende Stelle in der Fußsohle. Ich bitte die Schwester der Ambulanz, die Fußsohle zu verarzten. Am Ende tut sie Antisepsis-Salbe drauf: „Die tut dann noch desinfizieren.“

Mätressenherrschaft
Beim Ausflug nach Konstanz im Hafen die Statue „Imperia“ von Peter Lenk fotografiert.

(Fotos und Gif-Animation: JvdL)

Kunststück
In einer kleinen Bucht liegen Ruderboote zum freien Gebrauch. Meine aparte Begleiterin und eine Freundin wollen mich rudern. Der Einstieg ist umständlich, vom Ufer loszukommen dauert schier ewig, und ich fürchte bald, unter der glühenden Sonne zu dehydrieren. Deshalb will ich auf die Bootspartie verzichten. Beim Ausstieg gerate ich mit einem Fuß in tiefen Schlick, habe den anderen Fuß noch im Boot, das nun langsam weg driftet. Das verlangt mir einen Spagat ab, wie man ihn zuletzt bei Jean-Claude Van Damme gesehen hat:

Bodensee-Kursplitter III

Zwangsläufig 10.000 Schritte

Seit 30 Jahren mache sie das schon, sagt die Kellnerin, nachdem sie unser Mittagessen am Tisch serviert hat. Heute habe sie Rückenschmerzen. Das überrascht mich, denn ihr Schritt wirkt stets beschwingt, ob sie zwei Teller trägt oder ein schweres Tablett mit einem Stapel sauberer Tassen. Schon eine Weile habe ich beobachtet, wie schier unermüdlich das Personal schuftet, und das für zwei Schichten der Kurgäste dreimal am Tag. Keine macht einen Leergang, immer eilen alle, in die Küche, wieder heraus, quer durch den Saal. „Sie laufen schier acht Kilometer am Tag“, schätze ich. „Mehr“, sagt sie. „Eine Praktikantin hatte an ihrem Smartphone einen Schrittzähler, und da sind mehr als zehn Kilometer zusammen gekommen.“

Kacka!

Am Pfingstmontag zieht ein übler Geruch durch Foyer und Lesesaal. Die Zimtzicke kommt vorbei und ruft: „Jetzt riecht es auch noch nach Fäkalien! Was soll denn das?!“ Bald schon parkt ein Wagen der Kurverwaltung draußen, und zwei Arbeiter spülen einen Abflusskanal. Wenig später warte ich im Untergeschoss auf die Krankengymnastik (KG): Einige Physiotherapeuten und Sportlehrer arbeiten auch am Pfingstmontag. Ein Mann in Arbeitskleidung kommt die Treppe herab und verschwindet in einem „Betriebsraum.“ Das erinnert mich an H. G. Wells „Die Zeitmaschine.“ Sein Zeitreisender gerät in ferner Zukunft in eine Welt mit zwei menschlichen Rassen. Die kindlichen Eloy leben wohlversorgt in einer paradiesischen Welt, sind aber geistig degeneriert. Sie werden versorgt von den unterirdisch schuftenden Morlocks. In der Nacht kommen die Morlocks an die Oberfläche und holen sich eine(n) der Eloy, was die anderen Eloy nur gleichgültig registrieren. Wir Kurgäste sind wie die Eloy, das allzeit dienstbare Personal, das sind die Morlocks. Nur fressen die keinen der Kurgäste. Aber weiß man’s?

Kindliches

Tatsächlich attestiert mir meine aparte Begleiterin einen neuerdings kindlichen Witz. Das kam so: Sie hatte gesagt, mit meiner Kappe sehe ich aus wie Che Guevara. Da wir etwas abseits der zentralen Kureinrichtung untergebracht sind, haben wir uns Fahrräder gemietet und sprinten damit allmorgendlich um die Wette einen kleinen Anstieg hinauf. Als Siegprämie habe ich mir ausbedungen, sie müsse mich den ganzen Tag „El Commandante“ nennen.

Es geht auch ohne

Da ich den ganzen Tag auf den eigenen Körper konzentriert bin, höre ich auf zu denken. Bin nur noch Muskel und Magen.

Die letzte Stufe

„Kalt und grausam“ sei die Auflösung des Akronyms KG, sagt die Physiotherapeutin. Sie hat bei mir eine Gangunsicherheit beim Treppenabsteigen bemerkt, wohl ein Restsymptom des Schlaganfalls, übt mit mir sogar den Treppenabstieg, allerdings aus Sicherheitsgründen von der letzten Stufe. Die habe ich kürzlich übersehen. Das musste ja schiefgehen.

Collagieren geht noch

Stummer Schrei

In letzter Zeit scheinen einige meiner Träume zusammenzuhängen, so auch der, den ich in der Kur am Bodensee geträumt habe, wo ich vier Wochen verbrachte, topfit wegfuhr, um mir in Hannover ein Bein zu brechen.

Stummer Schrei

Eine hässliche Neubausiedlung. Vor Monatsfrist habe ich dort vergeblich eine Frau Cornelius gesucht. Damals war das Viertel überwiegend im Rohbau gewesen, Betonklötze mit Flachdächern im Stil von Plattenbauten. Im Untergeschoss eines Plattenbaus war die üble Backstube einer Billigkette. Ich wollte da Brötchen holen, fand den Laden aber verwaist. Nachdem ich eine Weile vergeblich gewartet hatte und auch auf mein Rufen nichts geschah, entdeckte ich seitlich des Ladens eine Tür. Ich fand sie offen und sah in eine Lagerhalle voller Gerümpel. Das war übles Zeug, der Sperrmüll, den Plattenbauwohnungen so ausspucken. Ich rief noch einmal, aber weil niemand kam, ging ich wieder. Später war der Laden noch immer verwaist. Ein Mann kam hinzu, und gemeinsam sichteten wir die Lagerhalle. Zielsicher ging er zu einem Schrank am rückwärtigen Ende der Halle und öffnete ihn. Im Schrank stand in namenlosem Entsetzen die Verkäuferin. Ihre Augen waren schreckgeweitet, der Mund zu einem stummen Schrei geöffnet, ein Gesicht, wie man es kennt aus Edward Munchs Gemälde „Der Schrei.“ Wir befreiten sie, und sie eilte dienstfertig in den Laden, wo sie hektisch anfing zu verkaufen, denn sie hatte den Tag über noch nichts eingenommen. Freilich war die Zeit, in der die Leute Brötchen wollen, längst vorbei. Unklar blieb, ob sie sich selbst eingesperrt hatte oder es Übeltäter gewesen waren. Jedenfalls war sie im Schrank verblieben, freiwillig oder schreckensstarr. Die Schranktür war unverschlossen gewesen.

Bodensee-Kursplitter II

Leseschwäche und Pulsfrequenz

Während des freien Ergometer-Trainings am Morgen pedaliere ich locker bei einer Pulsfrequenz von etwa 90. Da betritt plötzlich einer den Raum und herrscht mich an: „Wieso ist denn hier offen?!“
„Das ist freies Ergometer-Training.“
„Aber draußen steht 18 bis 20 Uhr!“
„Geöffnet ist auch morgens, schauen Sie nach.“
Er geht nach draußen, kommt zurück und insistiert: „18 bis 20 Uhr! Wieso ist denn jetzt offen?“
Ich werde ungeduldig, will in Ruhe trainieren und frage: „Möchten Sie, dass geschlossen ist?“
„Nein, nein. Aber wieso ist denn jetzt offen?“, sprachs und wendet sich zweifelnd ab.
Verfluchter Korinthenkacker! Zu blöd zu lesen geht noch, aber damit anderen auf den Geist zu gehen, muss ja nicht. Tatsächlich hat der Kerl meinen Puls auf 125 gebracht.

Wieder im Land: Die Denunzianten

Er gehört zu den Neuankömmlingen. Am Frühstücksbuffet herrscht mich eine Neue vor mir an, ich solle gefälligst Abstand halten. Ich bin perplex, denn ich hatte mich an die Gepflogenheiten gehalten. Wir essen schon in zwei Schichten. Trotzdem ist Gedränge am Buffet nicht zu vermeiden. Nach dem Frühstück überbrücken manche die Wartezeit bis zur ersten Anwendung im großen, offenen Zeitungslesebereich. Hier sitzt man gewohnheitsmäßig ohne Maske. Die Zimtzicke von vorhin kommt vorbei und rennt stracks zur Rezeption, um offenbar erneut zu petzen: „Das mit der Maskierung klappt immer noch nicht.“ Die Corona-Hysterie legt bei manchen hässliche Charakterzüge frei. Mir fällt ein Spruch aus dem 19. Jahrhundert ein:

    „Der größte Lump im ganzen Land,
    das ist und bleibt der Denunziant.“

Die folgende Wartezeit verbringe ich damit, den Spruch korrekt zu gendern.

    „Des Lumpen engste Anverwandte
    das ist und bleibt die Denunziante.“

Zeitwahrfalschnehmung

Eigenartig, wieder nach der Uhr zu leben. Dabei zeigt sich, dass die Zeit nicht kontinuierlich voranschreitet. In Wahrheit vergeht die Zeit ruckartig. Wir hätten es längst gemerkt, wenn wir den gleichförmigen Lauf der Sonne nicht beobachten könnten. Angenommen, über den bewohnten Gebieten hinge eine ständige Wolkendecke. Bei immer verdeckter Sonne hätte der Mensch eine ganz andere Zeitwahrnehmung entwickelt.

Küss‘ mein Bein!

Was ich auch schon vergessen hatte: Die seltsame Anhänglichkeit von Duschvorhängen.

Regenbogen über dem Zeller See – Foto: JvdL – größer: Klicken

Dass Regenbögen paarweise auftreten, zeigt ein morgendlicher Blick vom Balkon. Auch schön zu sehen, dass die Abfolge der Farben beim größeren umgekehrt ist.