Von den Lippen lesen – Groteske in einem Aufzug

Es klingelte an der Wohnungstür. Da standen zwei junge Frauen. Ich fragte: „Sie wünschen?“
„Wir sind die Lippenleserinnen vom ZDF und der ARD.“
„Ach, Sie lesen Lippen, wozu?“
„Angenommen, sie schauen eine Sendung der ARD oder des ZDF und verstehen die Dialoge nicht. Dann könnten wir den Schauspielern den Text von den Lippen lesen und ihnen zuflüstern, was gesagt wurde.“
„So so. Ich weiß nicht, ob ich Ihrer Hilfe bedarf, zumal sie ja nur bei deutschen Filmen von den Lippen lesen könnten.“
„Wir beherrschen Fremdsprachen, so dass wir auch in synchronisierten Filmen von den Lippen lesen könnten.“
„Und Sie würden simultan übersetzen oder was?“
.
„Außer Finnisch“, sagte Dame ZDF.
„Außer Baskisch“, ergänzte Frau ARD.
„Und warum können Sie nicht für beide öffentlich-rechtlichen Anstalten Lippen lesen?“
„Das wäre doch ungewöhnlich“, sagte die eine.
„Unüblich, Sie verstehen“, ergänzte die andere.
„Nein, eigentlich nicht. Es ist doch unökonomisch, Sie doppelt zu besetzen. Natürlich fände ich es durchaus apart, von zwei attraktiven jungen Damen flankiert zu werden, den Ton meines Fernsehgerätes auszuschalten und eine Kostprobe Ihrer Fähigkeiten zu hören. Aber angenommen ich schaue einen ganzen Abend das Programm des ZDF oder seiner Ableger. Dann würde sich die Dame für die ARD, welchen von Ihnen ist’s noch?“
„Ich“, sagte die linke.
„Also, dann würden Sie sich den ganzen Abend langweilen, es sei denn, Sie würden mir die Nägel feilen und polieren, derweil Ihre Kollegin Lippen liest.“
„Sehen Sie“, meinte die Dame ARD triumphierend.
„Ich weiß ja nicht mal, ob Sie dazu qualifiziert sind.“
„Lippenlesen? Wir haben Diplome.“
„Nein, Pediküre!“

Die beiden wurden ungeduldig, traten einen Schritt vor und drängten: „Wir dürfen doch hereinkommen!?“
„Hinein! Aus Ihrer Sicht wäre es hineinkommen, hereinkommen wäre es aus meiner Sicht. Also entbehrt Ihr Ansinnen nicht einer gewissen Dreistigkeit. Sie sagen ‚herein‘, als wären Sie schon drin. Außerdem besitze ich nur einen Fernsehsessel. Sie beide müssten sich leider neben mich hocken. Da fürchte ich, fängt bald schon eine von Ihnen zu jammern an, die Hockerei so auf den Pömps wäre unbequem, die schönen Fesseln würden dabei überstrapaziert, vom Rücken erst zu schweigen. Und ich müsste dann den Kavalier spielen und der Jammernden den Sessel anbieten.“
„Der da?“, fragt Dame ARD und zeigte auf Frau ZDF.
„Ihre Frage enthüllt das Problem. Ließe ich Sie sitzen, würde Frau ZDF sich beschweren, und umgekehrt. Am Ende fangen Sie an zu zanken und ich verstehe von der Fernsehsendung kein Wort.

Darum danke ich Ihnen für Ihr Angebot, aber muss bedauerlicherweise verzichten. Guten Tag.“
Das letzte hatte ich geflüstert, quasi tonlos gehaucht. Ich schloss die Tür. Die beiden staken die Treppe hinunter.
Lippenlesen konnten sie. Das musste ich ihnen lassen.

Die atlantische Küste – Versuch einer Rekonstruktion

In einem antiquarisch erstandenen Taschenbuch fand ich einen Zettel. Das Buch ist ; Wilhelm Weischedel: Die philosophische Hintertreppe, (34 große Philosophen in Alltag und Denken), 1975, dtv.
Was mich am Zettel sogleich faszinierte, war die geläufig wirkende Handschrift. Es ist eigentlich Lateinschrift. Trotzdem wirkt sie wie die Schrift eines älteren Mannes. Denn sie weist Stilmerkmale einer einstmals gelernten Kurrentschrift auf. Das D im Wort „indem“ ist eindeutig Sütterlin. Desgleichen die Schlaufen beim kleinen F. Da die Fraktur mit ihren Handschriftvarianten Sütterlin und der älteren Kurrent im Jahr 1941 von den Nationalsozialisten verboten wurde, muss der Schreiber sie noch gelernt, aber genug Zeit gehabt haben, sich die Lateinschrift anzueignen und eine geläufige Handschrift daraus zu entwickeln. Hätte er etwa 1940 in der 1. Klasse Schreiben gelernt, wäre er im Jahr 1934 geboren. Beim Kauf des 1971 erschienen Buches wäre er demnach 41 Jahre alt gewesen. Im Text findet sich aber die Angabe „Herbst 83“. Da war der Schreiber also knapp 50.


1 Die atlantische Küste
2 Herbst 83 sich für un
3 stem Sohne – ereignete
4 Vergangenheit Gemüt
5 indem Foucarville a
6 die Stätte, da ich ein
7 semester in Lebensphil
8 guerre zu absolvieren
9 ner Küstenbereich

In Zeile 1 ist von der atlantischen Küste die Rede. In Zeile 5 ist der Ort Foucarville genannt. Es ist also die französische Küste in der Normandie gemeint.

Bei „Foucarville“ fällt die lateinische Druckschrift auf. Das ist ein weiterer Beweis, dass der Schreiber die Fraktur noch gekannt haben muss, deren handschriftliche Varianten ja Kurrent und Sütterlin sind. In der gedruckten Fraktur wurden fremdsprachige Wörter grundsätzlich in Antiqua, also Lateinschrift gedruckt. Das Wort „guerre“ am Anfang von Zeile 8 hat freilich keine Druckschrift. Trotzdem scheint hier franz. guerre = Krieg gemeint zu sein. Laut Text hat der Schreiber in Fourcarville ein (…)semester in Lebensphil(osophie) (verbracht?) Was sich aber un(serem) (jüng)/(älte)stem Sohn ereignete, erschließt sich nicht.
Auch die Reihung der Substantive „Vergangenheit Gemüt“ ohne Komma verstehe ich nicht. ChatGpt ist daran ebenfalls gescheitert:

    „Es tut mir leid, aber der gegebene Text ist zu stark verstümmelt und unvollständig, um ihn sinnvoll zu ergänzen. Bitte gib mir mehr Informationen oder einen vollständigen Text, damit ich dir helfen kann.“

Wer kann mehr entschlüsseln?

Wer fürchtet sich vor …

In geselliger Runde wurde über das Verschwinden der Straßenspiele gesprochen. Wie selten sieht man noch ein auf das Pflaster gezeichnetes Hüpfekästchen. Die fröhlichen Rufe: „Wer fürchtet sich vor dem Schwarzen Mann?“ „Niemand!“, habe ich zuletzt in den 1990-er Jahren gehört. [Siehe Tagebuch weiter unten) Derlei Straßenspiele sind uralt und aus tiefer Vergangenheit von Kindergeneration zu Generation übermittelt. Dabei ist der tiefere Sinn in Vergessenheit geraten. Vom Hüpfekästchen oder Hickelkasten lies hier, vom Klicker- oder Murmelspiel hier. Generell stammen die im Frühling aufkommenden Straßenspiele aus Zeiten des Mangels.

Wo es Ablenkung durch Digitalmedien gibt, wenn Kinder bereits einen Terminkalender brauchen, um die diversen Kurs- und Frühbildungsangebote zu koordinieren, versammeln sich höchst selten genug Kinder auf der Straße zum gemeinschaftlichen Spiel. Man braucht schon eine größere Schar, um „Wer fürchtet sich vor dem Schwarzen Mann?“ zu spielen. Zudem haben besorgte Eltern und eifrige Antidiskriminierungsaktivisten das Spiel längst in die verbotene Ecke verdammt. In Zeiten der oberflächlichen Betrachtungen und Urteile wird der „Schwarze Mann“ aus dem Kinderspiel gleichgesetzt mit einem Menschen aus Schwarzafrika. In Umkehrung heiße das Spiel in Ghana „Wer fürchtet sich vor dem Weißen Mann“, teilte mir Kollege noemix vor Jahren mit.

Nun haben Schwarzafrikaner mehr Grund sich vor dem Weißen Mann zu fürchten als umgekehrt, angesichts des Horrors von Völkermord, Versklavung, Folter und Verstümmelung, dessen sich weiße Kolonialherren schuldig gemacht haben. Trotzdem beruhen die Zuweisungen „Schwarzer Mann“ „Weißer Mann“ auf dem gleichen Irrtum. Unter dem Stichwort FANGEN findet sich bei Wikipedia: “Im Bestreben um politische Korrektheit wird das Spiel heute manchmal in Wer hat Angst vorm bösen/wilden/blöden Mann/weißen Hai usw. umbenannt.” (Die Umbennungen wären noch korrekt zu gendern.)

Das Straßenspiel „Wer fürchtet sich vor dem Schwarzen Mann?“ stammt aus Zeiten der Pest in Europa und knüpft an Frühlingsreigen, Pest- und Totentänze an. Dieser düstere Inhalt ist den Generationen von Kindern über die Jahrhunderte mündlicher Überlieferung verloren gegangen. Der Schwarze Mann symbolisiert ursprünglich die namenlose Bedrohung der Ansteckung durch die Pest, im Volksmund „der Schwarze Tod“ genannt, nach den am Körper der Pestkranken auftretenden schwärzlichen und braunen Flecken.

Unabhängig davon ist das Spiel ein Relikt unsicherer Zeiten, war vielleicht ein didaktisches Hilfsmittel, den Kindern richtiges Verhalten bei einem Überfall auf das heimatliche Dorf beizubringen. Dann hilft nämlich keine schockstarre Furcht, sondern nur im Schwarm auf die Bedrohung zuzulaufen. [Im Bild: Die Zeichnung zeigt etwa, wie ich mir als Kind den Schwarzen Mann vorgestellt habe.]

Spielverlauf: Einer spielt den Häscher, und die anderen Kinder stellen sich in Reihe vor ihm auf. Der Häscher ruft: “Wer fürchtet sich vor dem Schwarzen Mann?” Die anderen rufen “Niemand!”, – der Häscher: „Und wenn er kommt?“, – die Kinder: „Dann laufen wir!“ – laufen auf den Häscher zu und versuchen an ihm vorbeizukommen, ohne dass er sie berührt. Wer berührt oder eingefangen wurde, muss in der nächsten Runde den Schwarzen Mann spielen. Variante: Die gefangenen Kinder gesellen sich zum Schwarzen Mann und müssen ebenfalls fangen. Dass schon die Berührung durch den Häscher ausreicht, verweist auch auf den Faktor Ansteckung. Da hinter allem Schaden im Volksglaube der Teufel steckt, wäre der Häscher letztlich mit ihm gleichzusetzen. Dabei ist zu bedenken, dass man im Mittelalter große Scheu hatte, den Teufel beim Namen zu nennen, weil es einer Anrufung gleichkam. Daher gibt es eine Fülle von Hüllwörtern, etwa Der-Gott-sei-bei-uns, der Gehörnte, der Bocksbeinige, der Leibhaftige, der Höllenfürst usw. In Aachen hat sich bis heute das Fluchwort „Sauaas!“ erhalten, was die Verballhornung von lat. „Satanas“ ist.

Fünfhundertmal Mona Lisa

Der in seinem Alltag gefangene Mensch erlebt selten den Zustand der Gnade einer originellen Idee. Selbst wenn er künstlerisch tätig ist, und wäre er Zeichner oder Maler, könnte er nur eine begrenzte Zahl an Werken schaffen. Wenn diese Werke sein Gefallen finden, könnte er sich eine Weile an seinen Schöpfungen erfreuen, bis ihn der Schöpferdrang erneut überkommt. Doch die Endlichkeit seines Gesamtwerks hat etwas Tröstliches und gehört zwingend zur menschlichen Schöpferkraft. Man stelle sich vor, Leonardo da Vinci würde noch leben und hätte nicht eine Mona Lisa geschaffen, sondern in jedem Jahr eine. Diese Inflation an Genialität würde zurückwirken auf das erste geniale Werk und würde es entwerten.

Vor Jahre habe ich mich bei der Online-Pinnwand Pinterest angemeldet, weiß nicht mal mehr warum, nutze es auch nicht für eigene Arbeiten. Täglich sendet mir Pinterest per E-Mail eine Auswahl an Zeichnungen zu. Da ich ein stark visuell interessierter Mensch bin, lasse ich mich oft verführen, mir das eine oder andere Bild auf Pinterest anzuschauen. Da findet sich neben dem von mir gewählten Bild eine Überfülle ähnlicher Bilder. Heute beispielsweise verlockte mich ein im Wald aufgerichtetes Ei mit Außentreppe, Tür, Schindeldach und rauchendem Kamin. Ein Schnitt zeigte die darin sich befindenden Räume, wie Keller, Bad, Wohnküche und Schlafempore. Die Darstellung erinnerte mich stark an das erste Bilderbuch, das ich mit etwa vier Jahren sah. Mein älterer Bruder hatte es mir aus der Borromäusbücherei mitgebracht. Es handelte von einer Osterhasenfamilie, die in Ostereierhäusern wohnte. Da gab es viel zu gucken, zu deuten und zu vermuten, doch wie die Dinge in der Osterhasenwelt nun wirklich zusammenhingen, konnte ich den Bildern nicht entnehmen. Dazu brauchte ich das Geheimwissen, das aus den Buchstaben kommt. Die Bilder dieses Buches haben meinen Wunsch geweckt, lesen zu lernen. Deshalb habe ich es so nachhaltig in Erinnerung.

Pinterest zeigte mir heute eine Flut virtuos gezeichneter Darstellungen von aufgeschnittenen Häusern, dass es mich erschlug. Der Zauber der Vergangenheit, der mich angeweht hatte, war im Nu verflogen. Jedes einzelne Bild wäre wert, ausführlich betrachtet und bewundert zu werden. Ein jedes könnte für ein Kind die Bedeutung haben, die das Osterhasenhaus für mich hatte. Aber die Menge schließt das aus. Menge entwertet jede Originalität. Sie lähmt auch meinen eigenen Gestaltungswillen und die für die Ausführung nötige Kraft. Wenn sich Texte so leicht erfassen lassen würden wie Bilder, hätte das Archiv dieses Blogs die gleiche lähmende Wirkung. Zum Glück konkurrieren Texte nicht in dieser Weise nebeneinander und geraten rasch in Vergessenheit.

Nie mehr Falschgeld

„Warum ist das Leben so kompliziert geworden?“, mault die Sprechstundenhilfe mich am Telefon an.
„Fragen Sie ernsthaft mich? Ich bin schuldlos, wünsche mir nur eine korrekt ausgefüllte Verordnung.“
Inzwischen frage ich mich, ob ich wirklich schuldlos bin. Sie hat gewiss recht. Das Leben ist komplexer geworden, aus meiner Sicht, weil die Menschheit zu viel Information austauscht. Und am Aufbrausen der weltweiten Schwatzhaftigkeit bin ich natürlich beteiligt, indem ich schreibe und publiziere. Informationsökologie wäre angezeigt, schon allein, weil die Serverfarmen, die den weltweiten Informationsaustausch ermöglichen, mehr Strom verbrauchen, als alle Haushalte zusammen.

*

Die Verkäuferin schiebt meinen Fünf-Euro-Schein durch ein Prüfgerät.
„Müssen Sie sogar fünf Euro auf Echtheit prüfen?“
„Ja, die werden auch gefälscht.“
„Lohnt sich ja kaum, bei der kleinen Wertigkeit.“
„Man rechnet nicht damit. Darum werden sie gefälscht. Letzte Woche hatte ich meinen ersten gefälschten Zehneuroschein.“
„Haben Sie den erkannt oder das Gerät?“
„Ich habe es gesehen. Der sah aus wie verwaschen und hier“, sie nimmt einen aus der Kasse und deutet auf die Stelle, „stand etwas in Türkisch.“

*
In den 1980-er Jahren habe ich mir ausgedacht, wie sich Geldscheine fälschungssicher machen ließen, ohne dass besondere Sicherheitsmerkmale nötig wären. Damals dachte ich, dass die dabei anfallenden Datenmengen nicht zu händeln wären. Heute wäre es kein Problem. Drum:

    Geldscheine werden in mehreren Nutzen gedruckt, das heißt, auf einem großen Papierbogen sind mehrere Scheine nebeneinander und untereinander angeordnet. Die bedruckten Bögen werden mit einer Schneidemaschine auf Format geschnitten. So ein Schneidemesser nutzt sich beim Schneiden ab und muss regelmäßig nachgeschliffen werden, was bedeutet, dass unter dem Mikroskop kein Schnitt wie der andere aussieht. Man braucht nun die vergrößerten Schnittkanten jedes Geldscheins nur zu scannen und zu speichern. Zu jedem Schein gibt es dann mehrere Nachbarn. Prüfgeräte müssten die Daten der Schnittkanten nur vergleichen. Ein Schein, der keinen in der Datenbank gespeicherten Nachbarn hat, ist gefälscht.

Voilà. Wie es technisch umzusetzen wäre, müssten sich andere ausdenken.

Zu leichtes Heben

„Diese elende Schönschreiberei!“, fluchte Chefredakteur Julius Trittenheim „ich will und kann den Quark nicht mehr lesen.

„Was meinen Sie, Chef?“, fragte Volontär Hanno P. Schmock.

„Verdammt, Schmock! Soll ich Ihnen etwa Beispiele heraussuchen und auch noch aufschreiben? Was verstehen Sie nicht an ‚ich will und kann den Quark nicht mehr lesen‘?!“

Sie könnten mir Schönschreiberei umschreiben.“
.

„Schönschreiberei ist gewolltes Aufhübschen von Texten. Um es mit Karl Kraus zu sagen: ‚(…) auf einer Glatze Locken drehen; aber diese Locken gefallen dem Publikum besser als eine Löwenmähne der Gedanken.‘ Da haben Sie, worum es geht, Schmock. Es geht um platte Ästhetik, die auf Zustimmung schielt, indem sie mit abgedroschenen oder krampfhaft herbeigesuchten Bildern sattsam bekannte Vorlieben bedient. Postkartenidyll und die Schönschreiberei, das sind Produkte der puren Gefallsucht. Nehmen Sie nur die tägliche Glosse der Süddeutschen Zeitung, das Streiflicht auf Seite Eins. Als junger Mann habe ich es begeistert gelesen, habe mir unzählige Streiflichter ausgeschnitten und ins Tagebuch geklebt. Ich liebte die feinsinnigen Wendungen und den subtilen Humor, wie man ihn heute noch beim Kollegen noemix findet. Das Streiflicht unserer Tage ist nur noch platt. Wo es einst mit der ’spitzen Feder‘ geschrieben war, benutzt man heute einen klobigen Fettstift.“

„In Rosa vielleicht?“

„Schmock! Was soll die Übertreibung?!“

„’tschuldigung, Chef!“

„Subtilität ist eine Verbeugung vor der Intelligenz und Vorstellungskraft des Lesers, Frau, Mann oder Queer. Gestern schilderte ich einem Freund am Telefon, warum ich das Abo der Süddeutschen Zeitung gekündigt habe und gab das Beispiel, das hier schon genannt wurde: ‚Wer nicht mitbekommen hat, dass (…), muss das vergangene Jahr unter einem Hinkelstein verbracht haben.‘ Der Freund lachte und sagte, das Bild stimme ja gleich mehrfach nicht. Aber das zu schreiben allein, wäre kein Vergehen. In die eigenen Erfindungen verliebt zu sein, sei menschlich. Aber da wäre ja noch der Schuft, der den Quark durchgewunken hat, ‚ins Blatt gehoben‘ haben wir früher gesagt.“

„Ins Blatt heben?“

„Ich vermute, das ist Jargon aus der Bleizeit – als Texte noch Gewicht hatten, weil sie zeilenweise in Blei gegossen waren. Wenn Schlussredakteur und Schriftsetzer, genannt Metteur, die Zeitungsseite zusammen bauten, hob der Metteur so viele Zeilen, wie er gleichzeitig greifen konnte, als Packen in die Form der Seite.“

„Sie haben also aus Gründen Ihr Abo gekündigt.“

„Ja, und ich warte noch darauf, dass man vom Verlag nachfragt, warum.“

„Machen die das?“

„Schon erlebt.“

„Diesmal könnten Sie sagen: Wer danach fragt, muss die vergangenen Jahre unter einem Hinkelstein verbracht haben, hehe.“

Es verbietet sich sowieso, eine Ziege zu stechen

„Meine Tochter liebt Ziegen“, bekennt die kräftige Bäckereifachverkäuferin.
„Ziegen sind schöne Tiere!“, bestätigt der Kunde, um ihr zu gefallen. Sie nimmt ihm den Ziegenfachmann nicht ab und fährt in ihrer Rede fort. „Man sagt ja auch zu Frauen: ‚Du Ziege.‘ Meine Tochter würde sich gerne eine Ziege stechen lassen. Aber das geht leider nicht.“
„Warum nicht“, will der Ziegenfachmann wissen.
„Eine Ziege ist das Maskottchen vom FC Köln, und meine Tochter ist Werder-Bremen-Fan. Dann denken die anderen, sie würde sich zum FC bekennen.“
„Das ist ein Geißbock“, mische ich Lokalpatriot mich ein.
„Na, egal, Ziege ist Ziege.“

Fußball und der 1. FC Köln interessieren mich nicht die Bohne. Als ich elf war, hat mich mein Bruder zu einem Fußballspiel des FC Köln mit ins Müngersdorfer Stadion genommen. Ich habe mich selten so gelangweilt und das Ende dieser Veranstaltung herbeigesehnt. Seither war ich nie mehr bei einem Fußballspiel im Stadion. Trotzdem weiß ich, dass Kölns Geißbock Hennes heißt, benannt ist nach dem Fußballtrainer Hennes Weisweiler, und seit 1950 Maskottchen. Inzwischen sind acht Geißböcke bereits tot, derzeit steht am Spielfeldrand Hennes der IX, angetan mit FC-Mäntelchen. Wer davon nicht genug hat, kann den nackten Hennes per Webcam beobachten.

Fans und ihre Maskottchen sind rätselhafte Elemente der Volkskultur, also allenfalls aus ethnologischen Gründen interessant. Einmal habe ich im Zug Fans von Borussia Mönchengladbach erlebt, beobachtet und porträtiert. Den Text hat die Borussia eine Weile auf ihrer Website veröffentlicht.

Mein Desinteresse an Fußball hat übrigens nichts mit dem 1. FC Köln zu tun, wurde auch nicht durch die Spielweise der Mannschaft ausgelöst. Das sage ich zur Sicherheit, falls hier irgendwelche Böcke und oder Ziegen mitlesen.

Über Wörter sprechen

„Ich fand im Germanistikstudium immer erhebend, wenn es um einzelne Wörter ging“, sagte Mobenbach. „Wenn ein einzelnes Wort plötzlich aufs Podest gestellt und Gegenstand der Betrachtung wurde, konnte ich mich zurücklehnen und nur noch genießen. Die Turbulenzen des Lebens waren im Handstreich zum Stillstand und Schweigen gebracht, so als wäre eine schwere Tür ins Schloss gefallen und hätte das Draußen ausgesperrt.
In dieser himmlischen Ruhe fiel das Licht der Aufmerksamkeit auf ein bescheidenes Wort.“
„Au ja, klingt verlockend. Das machen wir!“, rief seine Schwester aus. „Welches Wort soll es sein?“
„Mir ist neulich das Wort ‚Streikende‘ aufgefallen.

Eigentlich sind es zwei Wörter unterschiedlicher Bedeutung. Sie werden eben nur gleich geschrieben. Würden sie auch gleich gesprochen, wären es Homonyme, landläufig Teekesselchen. Das Wort Streikende meint das Ende eines Streiks, das zweite Streikende meint streikende Leute. Es ist demnach ein Homograf, ein Wort mit zwei Bedeutungen, das gleich geschrieben, doch nicht gleich gesprochen wird.“

„Genau wie ‚rasten‘, warf das Schwesterlein ein: „Die Fahrer rasten eine Stunde über die Autobahn. – Sie fuhren eine Stunde schnell oder: Die Fahrer rasten eine Stunde an der Autobahn. – Sie ruhen eine Stunde.“
Mobenbach überlegte: „Es scheint ein drittes Wort ‚rasten‘ zu existieren.“ Es wird geschrieben und gesprochen wie rasten im Sinne von Ruhen, tritt jedoch selten in der Grundform auf, sondern meist in einer mit Präfixen abgeleiteten Form. Dann heißt es einrasten oder ausrasten.

An der Bäckereitheke erlebe ich beispielsweise fast immer das gleiche“, fuhr Mobenbach fort. „Ich erbitte mir ein Mehrkornbrötchen, und da ist’s als würde im Kopf der Bäckereifachverkäuferinnen etwas einrasten. Sie fragen nach: ‚Eins?‘, als wäre ein einzelnes Brötchen zu verkaufen im Denken einer Bäckereifachverkäuferin nicht vorgesehen.“
„Könntest ja zwei kaufen und mir eins mitbringen. Ich würde mich freuen, und du würdest jeden Verdacht zerstreuen, ein einsam lebender Sonderling zu sein. Aber die Nachfrage der Bäckereifachverkäuferin ist ja einrasten im übertragenen Sinn. Konkret?“
„… kennt jeder das Gefühl, wenn die Wohnungstür zufällt, und indem das Schloss einrastet, fällt dir ein, dass der Wohnungsschlüssel innen auf der Tür steckt.“

„Fatal. Zu Ausrasten erzähle ich eine Anekdote aus unserem Büroalltag“, fuhr das Schwesterlein fort: „Letztens hieß es bei uns im Flurfunk, unser Chef, Herr Schieferstein, sei vor Frau Dr. Edelmann ausgerastet. Sie ist ja seine angehende Stellvertreterin und war in dieser Eigenschaft in Schiefersteins Büro. Nach dem Gespräch hatte sie die Tür zu seinem Büro noch in der Hand, da habe er schon hinter ihr her gerufen, sie solle gefälligst die Tür zumachen. Da tat Frau Dr. Edelmann etwas, was nach allgemeiner Einschätzung ein schwerer Fehler gewesen ist. Sie erklärte ihm, die Tür sei ja auch bei ihrem Eintreffen offen gewesen. Dieser unsinnige Widerspruch trieb ihn zum Äußersten. Er keifte: „Sie haben die Tür zu schließen, wenn Sie rausgehen, törichtes Weib!“ Frau Dr. Edelmann habe sich dann gegen diesen Ton verwahrt. ‚Das ist genau der richtige Ton‘, schrie der Chef und nahm dabei Sachen von seinem Schreibtisch, um sie vehement wieder hinzuwerfen.“

„Mir scheint, dieses Rasten ist trotz der Hektik in deinem Bericht verwandt mit Ruhen und dem Substantiv Rast, ahd. Rest, niederländisch rust oder im Gegenbegriff Unrast gleich Unruhe. Also wäre einrasten gleich in Ruhe geraten, ausrasten eben gleich Unruhe.“
„Was wiederum meinen Verdacht bestätigt, dass die meisten Homonyme um einige Ecken miteinander verwandt sind.“
„Genau wie die meisten Deutschen ja um acht Ecken mit Kaiser Karl verwandt sind, hehe.“

Verstörende Unterwegsgeschichten

Gerade als die Linie 9 die Haltestelle Noltemeyerbrücke passiert hatte, weht mich ein fast vergessener Geruch der Vergangenheit an. Ein Mann war zugestiegen und setzte sich in meiner Nähe hin. Er war wohl ein starker Raucher. Während die Bahn den Mittellandkanal überquerte, fühlte ich mich für einen Moment zurückversetzt in die Zeit meiner Schriftsetzerlehre. Da fuhr ich täglich mit dem Bus nach Neuss, das damals noch Neuß geschrieben wurde. Wenn ich früh um 6:40 Uhr einstieg, war der Bus noch leer. Bald wand er sich wie ein Lumpensammler über die Dörfer und wurde voll. Wenn es das Pech wollte, setzte sich ein Mann neben mich, den eine Wolke Gestank umgab. Der war mir unangenehm für die Nase, wie das Kreischen einer Kreissäge fürs Ohr. Es war die Mischung aus kaltem Zigarettenrauch, der aus ungelüfteter Kleidung aufsteigt, und Körpergeruch von Männern, die nur einmal in der Woche baden, sonst aber das Wasser meiden. Es war ein Gestank, an den ich mich nicht gewöhnen konnte. Er verdarb mir die ganze Fahrt. Ich hatte nicht gewusst, dass er noch in der Welt ist. Aber wenn Politiker den Leuten das Duschen ausreden und auf den Waschlappen verweisen …

Als wir in die Station Bahnhof einfuhren, sah ich aus dem Augenwinkel zwei blonde Frauen, die einander ähnlich waren. Sie stiegen hinter meinem Rücken ein. Die eine setzte sich zu mir, die andere auf die Bank der anderen Gangseite. Beide wandten einander zu und unterhielten sich. Da sie quasi vor mir saßen, konnte ich nicht umhin, sie zu betrachten. Die Schwestern trugen die Haare zum Pferdeschwanz gebunden und waren fast gleich gekleidet, anthrazitfarbene Bolerojäckchen über weißen T-Shirts, hautenge schwarze Jeans, weiße Sneakers. Die vor mir war etwas schlanker und offenbar die jüngere. Beide Frauen waren wüst tätowiert bis unters Kinn und zu den Fingerknöcheln. Ich wagte mir nicht auszumalen, wie es an den Körpern der beiden aussehen mochte. Aus dem Halsausschnitt der vor mir lugte zwischen anderem Gekritzel eine tätowierte „94“ , vermutlich ihr Geburtsjahr.

Der Jugendliche in mir überschlug ihr Alter und dachte entsetzt: So jung und schon so verschandelt. Da es mir kaum gelang, ins neutrale Leere zu starren, gewahrte ich, dass sie vorne durch die Scheidewand einen Nasenring trug. Ihre Ohrläppchen waren Hülsen aus Messing, gerade noch von ein bisschen gespannter Haut gehalten, die Ränder ihrer Ohren waren durchbohrt und mit kleinen Ringen besetzt. Und schaute ich nach schräg gegenüber, fand ich bei der anderen alles gleich, in verstörender Eintracht der Selbstverstümmelung. Tätowierung und Beringung ist Sklavenart, fand der sensible junge Mann vom Dorf und ich konnte ihm kaum widersprechen. Mode! Ist Mode, sagte der abgeklärte Städter. Und oft sind es die aus der Provinz, die jedes Maß verlieren, weil sie in der Stadt reüssieren wollen. Stell dir vor, du hast zwei durchgeknallte Töchter, die sich derart im Wahn überbieten.

In Linden stieg ich aus und überließ die beiden ihrem Schicksal. Die Stadtbahn der Linie 9 riss sie davon. Nur verantwortliche Selbstsorge berechtigt den Anspruch auf ein schönes Leben, weiß ein antikes Lebensprinzip.

Teestübchen Musiktipp
Two Door Cinema Club; Undercover Martyn

Lob der ungezügelten Natur außer Mücken

Man dürfe durchaus mal aus einer Mücke einen Elefanten machen, meinte Chefredakteur Julius Trittenheim in der Redaktionskonferenz. Nur solle jetzt keiner auf die Idee kommen, das auf die redaktionelle Arbeit zu beziehen. „Ich will hier nichts von Elefanten lesen. Wir verstehen uns, Herr Schmock!“, mahnte er den Teestübchen-Volontär.
„Ja, wieso denn nicht?“, fragte der irritiert.
„Letztlich will ich nur darüber berichten, was mir letzten Sonntag bei einem kleinen Picknick am Maschsee widerfahren ist. Wir saßen da schön auf einer Bank am Ufer, freuten uns über eine Entenmutter mit einer Schar kleiner Küken …“

„Entschuldigung, Herr Trittenheim“, unterbrach ihn Redakteurin Andrea Kirchheim-Unterstadt, kleine Küken, ja, muss das denn sein?“
„Es gibt auch große Küken, verteidigte sich Trittenheim.
„Große Küken sind einfach Enten“, versetzte die Kirchheim-Unterstadt unversöhnlich.
„Kleine Enten also, hehe. Also gut, wir saßen da schön am Ufer und freuten uns über eine Entenmutter mit einer Schar Küken. Ich sann arglos darüber nach, dass doch in so einer domestizierten Parklandschaft wie rund um den Maschsee durchaus wilde Natur ihren Platz hat, wenn auch bedauerlich eingeschränkt. Während ich also innerlich Partei ergriff für die wilde Natur, muss doch so ein dreistes Mückenvieh mich durch den Socken in die Fußbeuge gestochen haben. Und hatte wohl nicht genug, versenkte das elende Biest den Saugrüssel auch noch in den Knöchel meines Zeigefingers.“
„Es könnte eine andere Mücke gewesen sein“, warf Redaktionsassistentin Marion von Erlenberg ein.
„Ihr Gerechtigkeitssinn in Ehren, aber Mücke hie, Mücke da, das kümmert doch keine Sau“, moserte der Trittenheim. „Zu Hause jedenfalls blieb es sich gleich. Also die Stiche juckten gleich höllisch, so sehr, dass ich um drei Uhr nachts noch nicht in den Schlaf kam.“
„Drauf pinkeln, Chef!“, schlug Hanno P. Schmock vor.
„In Ihren Kreisen vielleicht“, wehrte Trittenheim ab. „Erst am nächsten Morgen raffte
ich mich übernächtigt auf und recherchierte im Internet nach Hausmitteln. Am besten gefiel mir die Information, man solle die Eiweißmoleküle der Mücke mit Hitze zerstören. Ja, wunderbar, zerstören!, dachte ich rachelustig. Und mir fiel ein Mückendrama ein, das ich mal in Aachen erlebt habe“:

    Ein heißer Nachmittag im Juli 1994. Vor dem ehemaligen Bahnhof von Aachen-Kornelimünster, wo der Radweg der Vennbahntrasse aus dem überwucherten Hohlweg tritt, klatschte mir eine Mücke auf den rechten Unterarm, die sich wohl auf der angrenzenden Kuhwiese mit Blut vollgesoffen hatte. Klatschte mir besinnungslos auf den Arm und zerplatzte, so dass ein dicker Blutflatsch mir über die Haut rann. Ja, weiß denn so eine Mücke nicht, wann genug ist? Muss die sich den Wanst derart vollschlagen, dass die leiseste Berührung sie zerreißt?

    Bei der Imkerei am Ortsausgang, wo die Straße sich steil aus dem Tal der Inde windet, springt ein Bächlein in einen steinernen Trog. Hier im Schatten einer Kastanie kniete ich hin und tauchte einen Arm tief ins Becken. Wer kann schon von sich sagen, dass er das getan hätte? Und die Mücke, deren Reste davonschwammen, wird glücklich vergangen sein, in ihrem Blutrausch. So hatten wir beide was davon.“

„Ein versöhnliches Ende“, seufzte Marion von Erlenberg zufrieden.

Teestübchen Musiktipp
(ausgesucht von Hanno P. Schmock)
Damon Albarn; Mr. Tembo