Des lieben Gottes blinder Fleck – über Alltagsmythen

kategorie alltagsethnologieVon Freitag auf Samstag besuchten mich meine Tochter mit Mann und meinen beiden Enkelkindern. Derweil meine 5-jährige Enkelin eine Banane aß und dazu Wasser trank, fragte ich, ob es nicht gefährlich fürs Kind wäre, zur Banane Wasser zu trinken. Weder meine Tochter noch ihr Mann teilten die Bedenken. Ich sagte, mich als Kind hätten die Erwachsenen immer davor gewarnt, Wasser auf Obst zu trinken, weil man davon Bauchschmerzen bekäme. Wir kamen überein, dass es sich um einen Alltagsmythos handeln muss. Meine Tochter erinnerte an das Ballspiel „Kirschen gegessen.“

Kinder stehen im Kreis und werfen sich einen Ball zu. Wer den Ball nicht fängt oder fallen lässt, verliert eine Lebensstufe und scheidet am Ende aus. Die Stufen heißen „Kirschen gegessen – Wasser getrunken – Bauchweh gekriegt – Fieber bekommen – ins Krankenhaus gekommen – scheintot – tot.“

Was hat es auf sich mit dem Mythos, der sich sogar zum Kinderspiel umgeformt hat und so nachhaltig ins kollektive Gedächtnis eindringen konnte? Meine Tante Anna hatte in meiner Kindheit vor dem Haus noch eine Pumpe. Wasser förderte man mit einem Pumpenschwengel, den man einmal oder mehrmals hob und senkte. In den Tiefen der Pumpe begann es zu gurgeln, dann platschte ein Schwall eiskaltes Wasser aus ihrem breiten Maul. Das Wasser war klar, aber enthielt gewiss viele Mikroorganismen. Aus der Zeit, als Trinkwasser noch nicht wirklich sauber war, stammen diese Warnungen. Aus dem gleichen Grund wurden Kinder gewarnt, nicht zuviel Wasser zu trinken. Davon bekäme man „Läuse im Bauch“

„Bei Gewitter darf man nicht essen und trinken, denn das ist dem lieben Gott nicht wohlgefällig.“
(Zitat: Elmsagen.de, Foto: Trithemius)

Für den Mythos: „Bei Gewitter darf man nicht essen“ fand ich ausnahmsweise hier eine Reihe guter Erklärungen. Sonst ist die Seite nicht gerade vertrauenswürdig. Völlig zum Mythos umgewandelt findet sich der Rat bei Elmsagen.de (Zitat in der Bildunterschrift). Als Quelle ist „meine Mutter“ angegeben.

Dass einer bei Gewitter badet, gefällt dem lieben Gott gewiss auch nicht, weil er Nacktheit grundsätzlich unkeusch findet, weshalb schon Adam und Eva sich schämten. Als Kind stellte ich mir vor, wenn der liebe Gott nackte Menschen sehen würde, hätte er, wo die unkeuschen Stellen sind, einen blinden Fleck. Der Rat, bei Gewitter nicht zu baden, stammt gewiss aus der Zeit als metallene Badewannen noch nicht extra geerdet waren.

Ich esse grundsätzlich meinen Teller leer, hab vermutlich den Mythos verinnerlicht: „Wenn du deinen Teller leer isst, dann gibt es morgen schönes Wetter.“ Der Mythos geht auf eine Fehlübersetzung aus dem Plattdeutschen zurück: „Dann geft es mon schönes wedder“ (= schönes wieder), nicht Wetter. Gemeint ist, dass es erneut etwas Leckeres gibt.

Ein interessanter Fall sind Mythen, die Familienbesitz zu sein scheinen, in Wahrheit aber Volksgut sind, beispielsweise der Sonntagsbraten-Mythos. Marion W., eine Referendarin, die ich in 1990er Jahren ausbildete, kam aus dem Westerwald und erzählte folgende erstaunliche Geschichte:

Meine Mutter hatte die Angewohnheit, immer ein kleines Stück vom Sonntagsbraten abzuschneiden. Auf die Frage nach dem Grund sagte sie, das habe sie von ihrer Mutter so gelernt. Die Großmutter jedoch wusste auch nicht, warum sie es tat, ihre Mutter habe es ihr einmal gezeigt. Erst die Urgroßmutter konnte die Sache aufklären. Sie habe den Braten früher immer abgeschnitten, weil er nicht ganz in die Backröhre passte.

Marion schien selbst daran zu glauben, dass die Sache sich in ihrer Familie zugetragen hatte, und so tat ich es auch, fand aber zu meinem Erstaunen die Geschichte als Anekdote beispielsweise hier, aber es ist nur eine von mehren Belegstellen.

Ein ähnlicher Fall ist der: Meine Exfreundin Mimi zitierte einmal ihren Großvater:

„Wer nie im Bette Kekse aß, weiß nicht wie Krümel pieksen.“

Sie war fest davon überzeugt, dass ihr Großvater den Spruch erdacht hatte. Er ist aber, wie ich später herausfand durchaus Volksgut, nämlich die Parodie einer Passage aus dem Lied des Harfners in Goethes Roman Wilhelm Meister:

Wer nie sein Brot mit Tränen aß,
Wer nie die kummervollen Nächte
Auf seinem Bette weinend saß,
Der kennt euch nicht, ihr himmlischen Mächte.

Vermutlich trägt jeder von uns Alltagsmythen mit sich herum und richtet sein Verhalten danach aus. Über weitere Nachweise freue ich mich.

Prustlach, ein Witz und noch einer!

Kategorie Humor neuEozän, das: Erste der drei großen Perioden, in die Geologen das Alter der Welt unterteilt haben. Aus dem Eozän stammen die meisten bekannten Witze. (Ambrose Bierce (1842 – 1914), US-amerikanischer Journalist und Satiriker – aus: Bierce, Ambrose; Des Teufels Wörterbuch (The Cynic’s Word Book))

Mittwochabend habe ich mal wieder versucht, einen Witz zu erzählen, und zwar beim geselligen Limmern. Das Verb limmern ist gebildet nach der überaus lebendigen Limmerstraße im hannöverschen Szene-Stadtteil Linden-Nord. Dort trifft man sich an warmen Sommerabenden, hockt auf Fensterbänken und auf echten Bänken, guckt Leute, plaudert und trinkt Flaschenbier, immer umkreist von Flaschensammlern, die durch ihr höfliches, aber manchmal voreiliges Flaschenbetteln den Bierkonsum anheizen. Mehr über die Limmerstraße und das „Hannover Cünstler Kollektiv“ kurz HaCK, mit dem ich zu limmern pflege, in diesem Text: Prima limmern mit Fischer und Putzig.

Leider kann ich dem Kollektiv keine Witze erzählen, denn wenn die Pointe sich nähert, muss ich im Vorgriff schon derart lachen, dass ich kaum noch ein Wort herausbringe. Das war gestern nicht anders. Ich weiß den Zusammenhang nicht mehr, weiß nicht, welches Wort gefallen ist und in meinem Hirn diesen Witz losgetreten hat, dass er mir wieder über die Lippen kam. Freilich habe ich die Pointe wieder verlacht, so dass der aufmerksame Herr Leisetöne neben mir mein Gewieher in verständliche Sprache übersetzen musste. Der Witz geht so, und ich versuche, beim Aufschreiben, nicht in die Tastatur zu fallen:

In einer Kneipe geraten zwei in einen Streit.
Sagt der eine: „Was hast du da für einen furchtbar hässlichen Zinken im Gesicht? Soll das etwa eine Nase sein? Ist ja widerlich! Damit kannst du Kinder erschrecken!“
„Ja“, sagt der andere, „das war so: Als die Nasen verteilt wurden, kam ich leider etwas zu spät. Da lagen nur noch deine und meine. Ich wollte mir schon deine greifen, als eine Stimme rief: „Lass die liegen, das ist eine Rotznase!“

Kürzlich bin im Netz auf die 1. Ausgabe der Titanic gestoßen. (Ich empfehle „Das interessante Interview“ auf Seite 44.) Das satirische Magazin Titanic wurde 1979 von ehemaligen Mitarbeitern der Satirezeitschrift pardon gegründet. Vorher hatte ich regelmäßig die pardon gelesen, bedauernd ihren Niedergang erlebt und war froh, dass es jetzt eine bessere Neuauflage gab. Die erste Ausgabe habe ich im Aachener Bahnhofkiosk gekauft, als Lektüre für eine Zugreise nach Brüssel. Da war ich nämlich zum Presseempfang der Union Professionelle des Disc-Jockeys de Belgique (UPDJ) eingeladen, deren Monats-Zeitschriften ich layoutete und wo meine Titelzeichnungen von drei Jahren ausgestellt waren.

titanic lieblingswitzJedenfalls saß ich im Zug und bekam beim Lesen einen Lachanfall nach dem anderen. Es war mir peinlich, dass ich nicht wie die anderen Passagiere manierlich Zeitschrift lesen konnte. Immerhin hatte ich mich in Schale geschmissen, trug einen dunklen Anzug, hatte eine Krawatte umgebunden und vermittelte äußerlich die größtmögliche Seriosität. Aber je mehr ich mich maßregelte, um so häufiger musste ich losprusten. So fuhr ich prustlachend von Aachen nach Brüssel. Es war ein wenig anstrengend.

Über heutige Ausgaben der Titanic kann ich nur mäßig lachen, aber damals wurde sie von den genialen Vertretern der Neuen Frankfurter Schule gemacht, den Gründervätern Robert Gernhardt, F. K. Waechter, Peter Knorr, Hans Traxler, Chlodwig Poth, F. W. Bernstein, Eckhard Henscheid und Bernd Eilert. Aus der ersten Ausgabe stammt dieser „Lieblingswitz.“

Radiobrüder gesucht – Karl-Hermann gefunden

Kategorie Humor neuMindestens zweimal hatte ich schon über die russischen Brüder geschrieben, die Radio hörten ohne Radio, allein durch Ohranlegen. Dass es Russen waren, ist nicht wichtig. Es hätten ebensogut Brüder aus der DDR sein können. Da hatte man ja auch „nüschts.“ Jedenfalls hatte ich das kuriose Foto vor Jahrzehnten aus dem Spiegel ausgeschnitten und nie vergessen, zweimal in Texten besungen, konnte es aber lange Zeit in meinem Papierarchiv nicht finden. Vorgestern ist es mir dann gelungen. Wie habe ich mich gefreut, meine lieben Damen und Herren! Es war die Belohnung für meine hartnäckige Suche. Denn ich wollte die Brüder unbedingt in einen Text einbauen, was ich dann auch stolz getan habe. Leider wurde das Foto aus dem Jahr 1981 von allen ignoriert, was aber nicht schlimm ist, weil ich (unter uns) eigentlich in erster Linie für mich schreibe und blogge. Natürlich ist es schöner, eine Sache zu teilen – wie einen zauberhaften Sonnenaufgang, wobei ich nicht behaupten will, ich könnte Sonnenaufgänge machen.

Karlherrmann-01Bei dieser Suche fielen mir Cartoons in die Hände, die ich im Oktober 1988 gezeichnet habe. Damals habe ich im Rahmen einer Projektwoche mit Schülern täglich eine Tageszeitung gemacht und die Cartoons dort abgedruckt. Die Serie hieß nach dem Protagonisten „Karl-Hermann live“, was ein persönlicher Insiderwitz ist. Zu meinem (sorry) und eurem Vergnügen habe ich gestern aus der ersten Folge eine Gif-Animation gemacht, die ich hier links präsentiere. Viel Spaß.

Wenn die Maus schläft

Würde meine Großmutter lesen, dass ich jeden Morgen eine Maus wecke, wäre sie überrascht. Aber nur ein bisschen, schließlich hatte ihre Tochter, also meine Mutter, immer gesagt: „Unser Julius hat Ideen wie ein Windvogel.“ Mäuse gab es in der Scheune meiner Großeltern, und man sah sie nie schlafen, sondern immer nur umher huschen. Eigentlich sah man die Mäuse nicht genau, man sah nur ihr Huschen, denn sie waren zu schnell. Außerdem war es so gut wie stockdunkel in der Scheune, und Licht fiel bloß durch die Tür, durch die man reingekommen war. Betrachten konnte man eine Maus also nur, wenn sie mausetot in der Mausefalle lag, die mein Großvater manchmal aufstellte. Wenn der Bügel der Mausefalle einer ins Genick geschlagen war und ihr Genick gebrochen hatte, wusste man, dass eine Maus gelebt hatte in der Scheune, und niemand in der Welt meiner Großeltern hätte den Wunsch verspürt, sie wiederzubeleben.

Genau das mache ich allmorgendlich. Ich wecke zwei Mäuse auf, die über Nacht ins Koma gefallen sind. Sie gehören zur Gattung der Schwanzlosen. Ihre Vorfahren hatten noch Schwänze gehabt, weshalb sie noch näher am Mausartigen waren. Aber indem meine beiden Mäuse alles quasi telepathisch machen, brauchen sie kein Kabel mehr. Sie sind Funkmäuse. Sie kommunizieren aber nicht miteinander, betreiben keinen Rundfunk. jedenfalls nicht wie das russische Bruderpaar, das Radio hören konnte, indem die beiden ihre Ohren aneinanderlegten.

RadiohörenSowas machen meine Funkmäuse nicht. Sie sind nur die Mittler der Mensch-Maschine-Interaktion. Mit diesem Begriff hätte meine Großmutter ebenso nichts anfangen können, obwohl sie eine weltoffene Frau war, denn sie kam aus Köln. Die Erweiterung der menschlichen Sinne durch Maschinen, Auto, Eisenbahn, Radio, Fernsehen, Telefon hat sie noch erlebt, aber mit diesen Gerätschaften interagieren zu wollen, wäre ihr nicht eingefallen. Nicht wie mein Jugendfreund Föppes, der das Tastenfeld von Fußgängerampeln anzusprechen pflegte mit: „Bitte grün!“ Mensch-Maschine-Interaktion: Der Mensch bin in diesem Fall ich, die Maschine ist ein Klapprechner. Eine der Funkmäuse funkt den Rechner an und veranlasst entsprechend meiner Handbewegungen diverse Operationen in den Schaltkreisen der Maschine, die als für mich nachvollziehbare Aktionen auf dem Bildschirm der Maschine dargestellt werden.

Die Funkmaus ist also die Erweiterung meiner Hand. Sie verbindet meine analoge mit der digitalen Welt. Ist das nicht niedlich? Diese Maus ist glücklicherweise stumm. Dass die Verlängerung meiner Hand eine Maus ist, finde ich absurd genug. Was, wenn sie auch noch piepsen würde? Doch es gibt eine Sphäre, in der meine Funkmaus piepst. Zum Glück habe ich keine dieser speziellen Zahnplomben, die das Piepsen in hörbare Töne umwandeln.

Meine Funkmaus für den Klapprechner ist ein Nützling. Ich weiß allerdings nicht, ob sie eine Fehlkonstruktion ist. Jedenfalls fällt sie dauernd ins Koma, und ist manchmal nicht durch eine Bewegung, kein Anschubsen aufzuwecken, sondern ich muss, verdammt noch mal!  das Batteriefach öffnen (Ja, es gibt ein Batteriefach!), die Batterien entfernen und wieder einsetzen, manchmal auch austauschen, verflucht, damit ich sie wieder ansprechen kann, was nur metaphorisch zu verstehen ist, denn könnte sie mich hören, würde ich sie anbrüllen! Aber anbrüllen tu ich nur meinen Kaffee. Da muss mans, damit er schmeckt. (Eine liebe Frau hat mir mal gesteckt: es heiße nicht anbrüllen, sondern anbrühen. Aber vermutlich wollte sie nur kein Geschrei in der Küche.)

Frauen und Schrift – Einiges über Verschlüsselung

Wido sagte: „Hat Gott kein Mitleid mit den Toma? Andere Völker kennen die Schrift. Nur die Toma bleiben unwissend.“ Gott sprach: „Ich fürchte, daß ihr keine Achtung mehr vor dem Glauben und den Überlieferungen haben werdet, wenn ihr fähig seid, euch schriftlich auszudrücken.“ „Gar nicht“, erwiderte Wido, „wir werden weiterleben wie vorher. Ich verspreche es.“ „Wenn es so ist“, sagte Gott, „will ich euch die Kenntnis der Schrift gewähren, aber nehmt euch in acht, dass ihr sie nicht einer Frau verratet.“

(aus: Gelb, Ignace; A Study of Writing, Chicago 1952)

Es muss einmal gesagt werden, dass auch der Abt Johannes Trithemius (1462-1516), nach dem das Teestübchen benannt ist, nicht besonders gut über die Frauen dachte, und so warnt er in der Praefatio zur „Steganographia“, seine Geheimschrift, die von ihm um 1500 erfundene Steganographie, bringe die eheliche Treue in Gefahr, denn mit Hilfe der Verschlüsselung könnte ein Liebhaber der untreuen Ehefrau geheime Botschaften zukommen lassen, „wobei der Ehemann noch den Überbringer machen und den Inhalt loben würde. Auf eben dieselbe Weise könnte die Frau ganz unbesorgt ihre Wünsche in beredeten Worten zurücksenden.“

Zur Erläuterung: Steganographische Systeme sind nicht als Geheimschriften zu erkennen, sondern spiegeln dem unbefangenen Betrachter einen Sinn vor, um den es gar nicht geht. So besteht das steganographische System des Trithemius aus lateinischen Vokabeln, die sich beliebig zu grammatisch korrekten Sätzen kombinieren lassen. Die geheime Botschaft enthüllt sich, wenn man nur die Anfangsbuchstaben hintereinander weg liest.

Grafik: (c) Jules van der Ley

Grafik: (c) Jules van der Ley

Weil die Einstellung des gelehrten Abtes zu den Frauen durchaus tadelnswert ist, zeige ich heute nicht seine Steganographie, sondern eine andere Geheimschrift: die „Freimaurerische Winkelschrift“. Wer die Botschaft links entschlüsselt, wird eine „Ehrenrettung der Frau“ durch den Kaffeeröster Albert Darboven lesen können. Das Konstruktionsprinzip der Freimaurerischen Winkelschrift ist recht einfach, weshalb der Universalgelehrte Giambattista della Porta sie hochmütig als Schreibweise verspottete „derer sich Landleute, Dämchen und sogar Kinder bedienen könnten.“ Eine kompliziertere Geheimschrift ist freilich  nicht nötig, wo die meisten Leute Analphabeten sind. 18 Buchstaben des Alphabets stehen paarweise in einer Matrix. Zum Verschlüsseln zeichnet man jeweils das zugehörige Winkelelement. Der 2. Buchstabe im jeweiligen Feld der Matrix wird mit einem Punkt angezeigt. Zum Entschlüsseln liest man die Buchstaben aus den Matrixen aus. Das ist kinderleicht, kann jeder Landmann und erst recht jedes „Dämchen“. Diese Verschlüsselung nach dem sogenannten Substitutionsprinzip (Buchstabenersetzung) ist mehr intellektuelle Spielerei als Geheimnis, weil ebenso leicht zu ver- wie entschlüsseln, und ist in Europa spätestens mit allgemeiner Literalität nicht mehr gebräuchlich.

Wieso hat hier das Alphabet nur 18 Buchstaben? Es fehlen „j“, „k“, „u“ und „w“, denn sie sind historisch gesehen erst später dem lateinischen Alphabet zugefügt worden. Das kleine „i“ ist ein Halbvokal und kann „i“ oder „j“ bedeuten, „c“ hat zwei Lautwerte, „c“ oder „k“. Das „u“ ist ebenfalls ein Halbvokal und kann „u“, oder „v“ bedeuten. Mit dem doppelten „u“ (engl. double-u) kann man das „w“ schreiben. U-x-y-z haben eine eigene Matrix.

Viel Vergnügen beim Entschlüsseln, liebe Landleute, liebe Dämchen und liebe Kinderlein!

Mein surrealer Alltag – Was hören

Ich öffne das Fenster und schnuppere in den jungen Sonntagmorgen. Noch ist niemand unterwegs, und was jetzt schon herumfliegt an vorwitzigen Geräuschen, wird leise übertönt durch ein digital erzeugtes Piepen. „Fiep, fiep, fiep, Pause. Fiep, fiep fiep, Pause.“ Ich lehne mich aus dem Fenster, um die Herkunft näher zu bestimmen. Des Menschen Richtungshören ist ja so schlecht entwickelt! Das weiß ich gut. Manchmal habe ich mein Smartphone in der Jacke vergessen. Von der Garderobe her pingt es, wenn eine E-Mail eingetroffen ist. Um den Rechner nicht hochfahren zu müssen, hole ich das Smartphone zu mir und schaue mir die E-Mail an. Aber im Laufe der nächsten Stunden, pingt es noch immer von der Garderobe her. So ein konservatives Pingen! Es liegt bestimmt nicht an der Jacke. Oder ist sie etwa aus einem Material, aus einem von der anerkannten Wissenschaft noch nicht beschriebenen Stoff, den man heimlich eingeführt hat, einem Stoff, der sich erinnert, dass mal ein Smartphone in ihm gepingt hat? Man weiß es nicht. Eher liegt es an mir. Vielleicht höre ich etwas aus einer Richtung, aus der ich es gestern schon gehört habe?

Einmal erlebte ich das: Da war ein Paket, das ich beim Öffnen abfilmen wollte. Gerade lief die Aufnahme, da klingelte vom Flur her mein Mobiltelefon. Ich stoppte die Kamera, ging raus, nahm das Mobiltelefon aus der Jackentasche und sagte Hallo in den Apparat. Es meldete sich ein Handwerker, um einen Termin zu vereinbaren. Später schaute ich mir die gedrehten Filmsequenzen an, plötzlich klingelt mein Mobiltelefon. Ich stand auf, ging in den Flur, da hatte es gerade aufgehört. Gut so, dachte ich, denn mit dem Handwerker hatte ich ja schon gesprochen. Da erst merkte ich, dass ich eine interdimensionale Zeitschleife durchlebt hatte, denn das zweite Klingeln war gar nicht aus dem Flur aus der Jacke gekommen, sondern aus dem Film-Off.

Weiter Sonntag: Ich öffne das östliche Fenster. Jetzt tönt das Fiepen lauter. Fiept die ganze leere Straße hinauf. Sollte das etwa ein Weckalarm sein? Einen, den keiner hört? Irgendwann hat ein Mensch diesen Weckalarm eingestellt. Dann ist er versehentlich verstorben. Jetzt fiept der Weckalarm ganz sinnlos – bis ans Ende aller Tage. Ab und zu betritt eine schwarz gekleidete Frau das Zimmer und hängt das fiepende Ding ans Ladegerät.

Stiller Tod

MückeGroß ist das Sommerloch 2016 ja nicht. Um es zu stopfen, braucht’s heuer kein Ungeheuer von Loch Ness, ja nicht einmal einen Elefanten. Die ehemalige Intelligenzpostille Der Spiegel stopft das Sommerloch in dieser Woche mit einer Mücke, erklärt sie aber vorsichtshalber zum „gefährlichsten Tier der Welt.“

Da gefällt mir schon besser die hübsche Geschichte, die ich bei Bloggerin Moteens gelesen habe.

Stiller Tod heißt die Mückengeschichte im Teestübchen Trithemius: Sie entstand vor ein paar Jahren in Aachen, als ich noch in jeder freien Minute mit dem Rennrad gefahren bin.

Stiller Tod

Ein heißer Nachmittag im Juli. Vor dem ehemaligen Bahnhof von Kornelimünster, wo der Radweg der Vennbahntrasse aus dem überwucherten Hohlweg tritt, klatschte mir eine Mücke auf den rechten Unterarm, die sich wohl auf der angrenzenden Kuhwiese mit Blut vollgesoffen hatte.
Klatschte mir besinnungslos auf den Arm und zerplatzte, so dass ein dicker Blutflatsch mir über die Haut rann. Ja, weiß denn so eine Mücke nicht, wann genug ist? Muss die sich den Wanst derart vollschlagen, dass die leiseste Berührung sie zerreißt?

Bei der Imkerei am Ortsausgang, wo die Straße sich steil aus dem Tal der Inde windet, springt ein Bächlein in einen steinernen Trog. Hier im Schatten einer Kastanie knie ich hin und tauche einen Arm tief ins Becken. Wer kann schon von sich sagen, dass er das getan hätte? Und die Mücke, deren Reste jetzt davonschwimmen, wird glücklich vergangen sein, in ihrem Blutrausch. So hatten wir beide was davon.

In meinem Bügeleisen ist beinahe Vollmond

Einmal saß ich mit Coster in einem hannöverschen Altstadtcafé. Da hörte ich am Nebentisch einen jungen Mann sagen: „Die Kapazität meines Portemonnaies ist bald überschritten.“ Sein Begleiter nickte mitfühlend. Aber ich sagte zu Coster: „Dass mein Portemonnaie überquillt, hätte ich auch mal gerne.“ Die Sprache des Alltags ist oft ungenau, Kontext und Situation helfen, dass man sich trotzdem versteht. So hatte auch der junge Mann seine beinah leere Geldbörse vorgezeigt, als er sagte, es sei an der Kapazitätsgrenze. Das Geld war weg oder, wie es in einem TV-Werbespot heißt: „100 Prozent unsichtbar!“

Dass sprachliche Äußerungen oft ungenau sind, liegt auch an den Wörtern. Einige von ihnen sind viel zu grob, manche haben sogar ungereimte Doppelbedeutungen. Eine Untiefe kann eine Sandbank dicht unter der Wasseroberfläche sein oder ein Tiefseegraben. Man nimmt Medikamente für oder gegen eine Krankheit. Der Sprachphilosoph Fritz Mauthner vergleicht die Wörter mit Uniformierten, die man in oder aus der Ferne betrachtet. So schön gleichmäßig sie auch aussähen, aus der Nähe erweise sich jeder der Kerls als schlecht angezogen.

"Schnuppertauchen" - Foto: Trithemius (größer: klicken)

„Schnuppertauchen“ – Foto: Trithemius (größer: klicken)

Wir denken uns die Welt zurecht mit Hilfe von Wörtern, die, aus der Nähe betrachtet, nicht gut passen, das heißt, wir bilden die Welt nicht objektiv ab, sondern interpretieren sie schon durch unsere Wortwahl. Es kommt bei der Interpretation immer nur auf den Erfolg an. Letzte Wahrheiten sind nicht nötig. Darum sagt der Deutsche auch, wenn er etwas nicht genau weiß: „Ich glaube, …“ und nicht „I think“ wie der Engländer. Übrigens ist „Ich denke“ eine Lehnübersetzung aus dem Englischen, also endlich mal ein echter Anglizismus. Die meisten Leute hingegen glauben, ein Anglizismus wäre ein englisches Fremdwort. Wen stört’s? Höchstens mich.

Als Coster und ich aufbrachen, erhoben sich an einem anderen Tisch vier Frauen und strebten an der Theke vorbei dem Ausgang zu. Der Kellner küsste jede auf die Wange und sagte: „Tschüs Mädels!“ Coster und ich bekamen keinen Kuss. Der aufgedrehte Kellner drückte uns nur seine Fehlinterpretation auf und rief uns freundlich hinterher: „Tschüs, ihr Süßen!!“ Coster war leicht irritiert, doch vor der Tür mussten wir lachen. Verständnis ist Missverständnis, Wahrnehmung ist Falschnehmung. Meistens ist sowieso alles ganz anders. Ach so, die Überschrift. Das sah nur so aus, als ich das Bügeleisen mal auf den Schrank gestellt hatte. Vom Bett aus besehen, guckte der Drehschalter wie ein beinahe Vollmond unter dem Griff hervor. Ich habe meinen Irrtum schon nach fünfzehn Minuten bemerkt.

Etwas über penetrante Menschenverschmutzung

Wie sehr mich die um sich greifende Tattoo-Plage nervt, diese visuelle Augenpest, diese penetrante Menschenverschmutzung, die unser Sozialwesen seuchenartig befallen hat, ist mir erst kürzlich aufgefallen. Da sah ich ein Fräulein, angetan mit einem kurzen ärmellosen Kleidchen, das die hübschen Gliedmaßen kaum verhüllte. Sie war eine Augenweide und besonders weil ihre makellose Haut nirgendwo von einem Tattoo verhunzt wurde. Sie stand vor mir an der Supermarktkasse, und weil ich meinen Einkauf ein wenig zu laut aufs Kassenband legte, mehr pfefferte, drehte sich zu mir um und lächelte. Beinah wäre mir entschlüpft, sie zu ihrer Tattoofreiheit zu beglückwünschen, doch gerade rechtzeitig fiel mein Blick auf das Kassenfräulein. Da lugte nämlich eine tätowierte Urwaldlandschaft aus ihrem Kittelärmel hervor, und ich wollte sie nicht vor den Kopf stoßen, weil sie immer so freundlich ist. Aber dieses Nebeneinander von einer nach Sklavenart tätowierten Lohnabhängigen im Kittel und dieser frank und freien Königin, die sich auch durch ihren Einkauf kaum belastete, denn sie kaufte nur ein Schächtelchen Yogurette, führte mir schlagartig vor Augen, was die Tattooplage eigentlich bedeutet: Sie ist Ausdruck der Proletarisierung unserer Gesellschaft, ein orientierungslos durchdrehender Versuch der Selbstoptimierung. Vielleicht besser ein gutes Buch lesen? Oder Teestübchen Trithemius?

Noch was aus dem Zirkus des schlechten Geschmacks

Noch was aus dem Zirkus des schlechten Geschmacks