Teestübchen Humorkritik – Tataaa! Karneval (2)

Wer Fernsehen schaut, kann dem Elend des Sitzungskarnevals nicht entkommen. Kürzlich hörte ich in der Büttenrede eines Sitzungspräsidenten folgendes: Er ließ sich aus über die Nachteile des Wassers gegenüber dem Bier. Wasser sei ja mit Kolibakterien verseucht, die aber den Bierbrauprozess nicht überstehen. Darum trinke er niemals Wasser. „Wenn Sie mich mal in einem Biergarten hinter einem Glas Wasser sitzen sehen, dann bin ich entführt worden und will euch ein Zeichen geben.“ Was er über Bier und Wasser gesagt hatte, galt gewiss noch im Mittelalter. Heute ist’s ein Märchen, hier, um den ungehemmten Alkoholgenuss zu propagieren. Wir sollten eigentlich erwarten können, dass unsere fürsorgliche Bundesregierung nach einem solchen Witz wie bei den Zigarettenpackungen Schockbilder einblenden lässt, beispielsweise sich an einer Hausmauer abstützende junge Menschen, die sich grad die Seele aus dem Leib kotzen.

Sonst geht es in den Karnevalssitzungen aus dem Südwesten zu wie gehabt. Wo Witz fehlt, tanzen Riegen junger Mädchen in Gardeuniformen mit kurzen Röckchen, und fast all die automatenhaften tänzerischen Verrenkungen laufen darauf hinaus, dass die Mädchen ihr Höschen zeigen. Mir ist das schon im letzten Jahr störend aufgefallen, aber heuer finde ich es anachronistisch und angesichts der derzeit bekanntwerdenden Missbrauchsfälle in Kirche und Gesellschaft unvertretbar. Schlimmer als diese öffentlich-rechtlichen Darbietungen für Pädophile finde ich fast nur noch, wenn sich Büttenredner hemmungslos an im Saal anwesende Politiker ranwanzen, was man in Franken gut kann, weshalb sich kostümierte Politikerinnen und Politiker gern in der gutgelaunten Menge abfilmen lassen.

Schamloser treibens nur die Aachener Lackschuhkarnevalisten. Sie halten sich mit derlei Sperenzchen erst gar nicht auf, sondern loben gleich Elitenvertreter oder hochrangige Politiker und Politikerinnen auf die Bühne und hängen just denen einen Orden wider den tierischen Ernst an, mit denen normale Menschen lieber nicht gesehen werden möchten. Diesmal durfte sich die Ex-Weinkönigin und Bundesministerin Julia Klöckner über kostenlose Publicity freuen, vermutlich weil sie sich statt Tier- und Verbraucherschutz eins lacht. Genaues dazu kann ich beim besten Willen nichts sagen, denn wenn ich mir den Aachener Sitzungskarneval anschaue, muss ich leider brechen.

Den Schuss nicht gehört hat auch der gut gebuchte Karnevalsredner und Sänger Bernd Stelter.

Lies auch Tata, tata, tataaa! Karneval (1)

Buchkultur im Abendrot

Bekanntlich habe ich als einer der letzten meines Faches den Beruf des Schriftsetzers gelernt, also die Drucksachengestaltung mit Bleischriften. „Die Druckerei ist das Kollege des kleinen Mannes“, hat Abraham Lincoln gesagt, der selbst Schriftsetzer gewesen war. Als Lernort habe ich die Setzerei immer verstanden und deshalb mein Handwerk geliebt. Die Grafik zeigt die Druckereien in Neuss, Köln und Aachen, in denen ich gearbeitet habe. Im Jahr 1972 arbeitete ich in der Aachener Druckerei Volk. Da standen meine Kollegen und ich noch feixend neben dem ersten Fotosatzgerät, einem Vorläufer der Satzcomputer groß wie ein Kühlschrank, das einfach nicht tat, was es sollte, worüber der aus den USA eingeflogene Techniker schier verzweifelte. Niemals hätte ich geglaubt, dass ein solches Gerät mein Handwerk überflüssig machen könnte. Wenige Jahre später sah ich in der Kölner Zentrale des DuMont Verlags eine Ausstellung über die dort bereits versunkene Bleizeit. Ein alter Schriftsetzerkollege arbeitete an Setzkästen innerhalb der Ausstellung, und ich begriff, dass mein Handwerk quasi über Nacht museal geworden war.

Stationen meiner Arbeit als Schriftsetzer – Startbild eines Tagebuchs – größer: Klicken

Fast ein wenig wehmütig machte mich heute eine Meldung im Branchendienst meedia über die DuMont Mediengruppe: „Mit der Kölner Mediengruppe will der erste deutsche Traditionsverlag sein Zeitungsgeschäft komplett abstoßen.“ Betroffen sind Der Kölner Stadt-Anzeiger, der Kölner Express, die Berliner Zeitung, der Berliner Kurier sowie die Mitteldeutsche Zeitung und die Hamburger Morgenpost. Auch die Druckereien, und die Anzeigenblätter sollen verkauft werden.

Zuerst verflüchtigt sich die Schrift ins Digitale, knapp 50 Jahre später verflüchtigen sich die Zeitungen. Verkauf bedeutet natürlich nicht für alle Zeitungen ihre Einstellung, aber vermutlich einen weiteren Fall von Pressekonzentration. Insgesamt ist das ein alarmierendes Vorzeichen für den Niedergang des wichtigen Massenmediums Zeitung.

Goethes bunte Elefanten und ich

Am sonnigen Samstagmorgen fand ich zwei Taschenbücher ausgesetzt auf einem Stadtmöbel, Johann Wolfgang Goethe; Geschichte der Farbenlehre, Erster und Zweiter Teil. Bekanntlich hielt Goethe die Farbenlehre für sein bedeutsamstes Werk. Ich nahm dessen Taschenbuchausgabe an mich, um diesem Mann endlich mal gerecht zu werden. Denn die landläufige Bildungshuberei und das schulische Gewese um Goethe als anbetungswürdiger deutscher Nationaldichter hat mir den Zugang zu seinem Werk verstellt.

Aus der Seele spricht mir diesbezüglich der wunderbare Sketch „Goethe im Examen“ von Egon Friedell und Alfred Polgar, in dem das auf groteske Weise überhöht wird: Goethes Geist erscheint einem verbummelten Studenten und bietet sich an, das Examen über Goethe an seiner Statt abzulegen, weil er, Goethe, es ja wissen muss. „Da wird emal der Schüler mehr wisse wie die Herre Lehrer!“, freut sich Goethe. Die Schulmänner in der Examenskommission wissen es freilich besser und lassen Goethe durchfallen. Man lese den vergnüglichen Sketch in zwei Bildern unter diesem Link.

Moment! Geht’s denn nicht um Goethes Farbenlehre? Diese Abweichung vom Thema entspricht einem Verfahren, auf das Goethe im ersten Teil der Farbenlehre hinweist: Wenn frühere Kartenzeichner einen Bereich aussparen mussten, weil er noch nicht erforscht war, malten sie einen Elefanten an die Stelle. Wörtlich:

    „Jene früheren Geographen, welche die Karte von Afrika verfertigten, waren gewohnt, dahin, wo Berge, Flüsse, Städte fehlten, allenfalls einen Elefanten, Löwen oder sonst ein Ungeheuer der Wüste zu zeichnen, ohne daß sie deshalb wären getadelt worden. Man wird uns daher wohl auch nicht verargen, wenn wir in die große Lücke, wo uns die erfreuliche, lebendige, fortschreitende Wissenschaft verläßt, einige Betrachtungen einschieben, auf die wir uns künftig wieder beziehen können.“

So macht es Goethe überall, wo er beim Sichten der antiken Autoren nichts über das Thema Farbe gefunden hat. Er schreibt trotzdem etwas wie die Elefantenmaler, und so gesehen ist der Hinweis auf den Sketch, ist also Goethes Geist mein Elefant, gemalt wegen Unzugänglichkeit.

Diese Unzugänglichkeit, ich gebe es zu, liegt zum Teil auch an der hässlichen Aufmachung von dtv-Ausgaben und ihren Verfallserscheinungen nach 50 Jahren. An den zellophanierten Buchumschlägen bricht das Zellopohan, wellt sich an den Rändern hoch und zeigt, dass aus der erzwungenen Vergesellschaftung der Materialien Zellophan und Karton nie eine innige Verbindung geworden ist. Natürlich sieht auch das Papier im Buch aus wie die vollgequarzte ehedem weiße Gardine eines Kettenrauchers. Getreu der gestalttheoretischen Idee: „Paarung wirkt auf die Partner“ mag man so ein Buch zwar lesen, aber nicht verinnerlichen.

Statt Elefant – Goethes Hexeneinmaleins – Kalligrafie JvdL, Filzstift, schwarze Tinte – zum Vergrößern bitte klicken!

Gemildert wurde das allerdings durch meinen Leseort am sonntäglich-sonnigen Maschsee, wo ich von blauvioletten und gelben Krokussen und anderen Frühblühern umstanden war. Auch dachte ich bei den meisten Paaren, die an mir vorbei bummelten, wie gut, dass ich nicht mit der oder dem unterwegs sein muss, sondern hier in Ruhe lesen kann. Diese Begleitumstände sprachen durchaus für Goethe. Trotzdem dachte ich nach dem einen oder anderen goetheschen Elefant: „Mein Gott, was für ein eitler Schwätzer!“ Mein Sohn, dem ich das später am Telefon erzählte, wies darauf hin, dass viel Lob und Anerkennung nicht spurlos an einem Menschen vorbeigehen und ihn auf Dauer eitel werden lassen. Besonders Goethes Besserwisserei gegenüber Newton ist aus heutiger Sicht mehr als peinlich. Weiter bin ich noch nicht gekommen, doch ich fürchte, ich muss geneigte Leserinnen und Leser bitten, sich für den unerforschten Rest der Farbenlehre einen großen bunten Elefanten zu malen.

In eitlen Köpfen sieht es unaufgeräumt aus

„Missbrauchsgipfel“, schreibt Zeit-online. Gestern stellte Anne Will in ihrer Anmoderation zum Thema „Krisengipfel im Vatikan – wie entschlossen kämpft die Kirche gegen Missbrauch?“ gleich zwei „Missbrauchsbeauftragte“ vor, den der Bundesregierung und den der deutschen Bischofskonferenz, und merkte nichts von ihrer geistlosen Begriffsverwendung. Das ist Schreiben und Reden ohne Denken.

Guten Morgen, Zeit.online!
Was ist ein Missbrauchsgipfel? Der Gipfel des Missbrauchs, etwa der sexuelle Missbrauch von mindestens 31 Kindern auf dem Campingplatz Lüdge? Kann ja nur vorläufig gelten. Wir kennen quasi nur die Spitze des Eisbergs. Wenn schlimmere Fälle bekannt werden, muss der Gipfel neu vermessen werden.

Huhu, Anne Will!
Wozu braucht die katholische Bischofskonferenz einen „Missbrauchsbeauftragten?“ Wir lernen, dass auch der Klerus nicht mehr einfach drauflos missbrauchen darf. Damit beauftragen die Bischöfe jemanden. Es muss eben alles seine Richtigkeit haben in Deutschland. Darum hat natürlich auch die Bundesregierung einen „Missbrauchsbeauftragten.“ Die Frage, warum „Missbrauchsbeauftragte“ immer Männer sind, erübrigt sich – im Zirkus des schlechten Geschmacks.

Abstieg zur Welt

In unserem 5-stöckigen Mietshaus wohnt unterm Dach ein junges Paar, das vor Monaten Eltern geworden ist. Ich höre den jungen Vater manchmal im Treppenhaus sprechen oder leise singen, wie er das kleine Mädchen herzt und hinunter zum Kinderwagen trägt, der unten im Flur steht. Seit einiger Zeit gibt das Kindlein ebenfalls Laut, wenn es hinunter getragen wird. Seine ersten Eindrücke von der Welt sind, aus dem warm-vertrauten Bereich der heimischen Wohnung durch ein kaltes Treppenhaus in einen grün gekachelten Flur hinunter getragen zu werden. Sitzt es gut im Kinderwagen, wird es zur Haustür geschoben, und dahinter öffnet sich die große fremde Welt. Ich frage mich, welche Prägungen das mit sich bringt und wie sie sich unterscheiden von denen eines Säuglings, der aus einer Kellerwohnung nach oben getragen wird.

Die Kacheln der Schleuse zur Welt – Foto: JvdL

Herrje! – Warum Gus Backus sterben musste

Früher konnte ich nur Regen machen. Ich habe mein Auto gewaschen, und wenn ich fertig war, setzte zuverlässig ergiebiger Landregen ein. Und jetzt ist Gus Backus gestorben. Das kam quasi so: Vor einer Woche saßen wir Leute vom HaCK und assozierte Freunde gesellig bei Herrn Putzig, weil unser Stammlokal, das Leinau3, noch immer geschlossen hatte, und über Putzigs Rechner lief die Playlist eines Streamingdienstes. Schon eine Weile gefiel mir die Musik nicht. Ich sagte: „Spiel doch mal was für meinen Musikgeschmack!“
„Was denn?“, fragte Herr Putzig keck, „Gus Backus?“

Gestern nun kramte ich im Keller meiner Textdateien. Und fand einen Text, den ich am 25.Januar 2010 um 19:29 Uhr abgespeichert hatte, und zwar über die Sauerkrautpolka von Gus Backus. Ich recherchierte im Internet, ob es einen aktuellen Anlass gäbe, den nochmals zu veröffentlichen. Sein Geburtsdatum war es nicht, ein Sterbedatum gab es noch nicht. Es wurde erst am Abend, wie gruselig, in der Tagesschau vermeldet. Ich hoffe, Gus Backus hat den Löffel nicht abgeben müssen, weil ich nach einem Anknüpfungspunkt für einen alten Text über Sauerkraut gesucht habe. Vermutlich handelt es sich nur um einen Fall von Synchronizität.

    „Als Synchronizität bezeichnete der Psychologe Carl Gustav Jung zeitlich korrelierende Ereignisse, die nicht über eine Kausalbeziehung verknüpft sind, jedoch als miteinander verbunden, aufeinander bezogen wahrgenommen und gedeutet werden.“ Wikipedia

Im 2. Weltkrieg nannten Engländer und Amerikaner die Deutschen verächtlich „Krauts“. Vielleicht hatten die Alliierten viele Deutsche beim Sauerkraut-einlegen, -stampfen, und -essen erwischt und die moderne Sage in die Welt gesetzt, der Deutsche ernähre sich überwiegend von Sauerkraut. Folgerichtig versuchte sich der ehemalige GI Gus Backus im Jahr 1961 bei den Deutschen mit der Sauerkrautpolka einzuschmeicheln. Zu spät. Die Westdeutschen waren längst ab vom Sauerkraut der Notzeiten, erlebten gerade das Wirtschaftswunder und aßen plötzlich Sachen, deren Namen sie nicht mal aussprechen konnten.

Gus Backus sang ersatzweise „Bohnen in die Ohren.“ Er gehörte nämlich zur Riege der amerikanischen Soldaten, die im Deutschland der Nachkriegszeit die singenden Clowns machen mussten, weil diese sogenannten Sonnyboys nicht wie Besatzung mehr wirken, sondern Botschafter der US-Kultur sein sollten. Elvis war so einer, als er auf Deutsch: „Muss i denn zum Städtele hinaus“ sang. Der Jazz- und Schlagersänger Bill Ramsey, ebenfalls als GI nach Deutschland gekommen, gab den krächzenden Spaßvogel (Ohne Krimi geht die Mimi nie ins Bett). Alle sangen aus heutiger Sicht himmelschreienden Blödsinn, was gewiss die beste Weise war, amerikanische Lebensart in den deutschen Alltag zu transportieren. Ich war noch ein Kind, als das geschah, bin quasi mit Bohnen in die Ohren sozialisiert worden. Oder eben mit der Sauerkraut Polka. Ich bitte das bei der Beurteilung meiner Person und meiner Texte als mildernden Umstand zu berücksichtigen.


Ich esse gerne Sauerkraut und tanze gerne Polka,
und meine Braut heißt Edeltraut, die denkt genau wie ich.
Sie kocht am besten Sauerkraut und tanzt am besten Polka,
deshalb ist auch die Edeltraut die beste Braut für mich.

Ich sing die Sauerkraut-Polka, Sauerkraut-Polka Tag und Nacht.
Schön ist die Sauerkraut-Polka, weil ja sauer lustig macht.
ich sing die Sauerkraut-Polka und sage laut:
Ich bin nur für Sauerkraut und meine Braut gebaut!

1973 kehrte Backus in die USA zurück, galt in Deutschland zeitweise als verschollen und wurde sogar totgesagt. Gestern starb Donald Edgar (Gus) Backus wirklich im Alter von 81 Jahren in Germering nahe München.

Plausch mit Frau Nettesheim – Matsch in der Birne

Frau Nettesheim
Ich sehe Sie nicht arbeiten, Trithemius.

Trithemius

Heute nicht. Ich wurde wach mit Matsch in der Birne. Entsprechend schwer fällt mir, einen klaren Gedanken zu fassen. Den ganze Tag schon.

Frau Nettesheim
Woran liegts?

Trithemius

Woher soll ich das denn wissen? Was wissen wir schon über die geheimen Abläufe in Körper und Geist. Man meint, Herr über sich zu sein, doch letztlich ist man wie ein Jockey, der versucht, einen widerspenstigen Mustang zu reiten.

Frau Nettesheim
Und manchmal geht der Mustang durch.

Trithemius

So ist es, aber woher wissen Sie das, Frau Nettesheim? Sie sind doch eine fiktive, digitale Person.

Frau Nettesheim
Ich muss ja nur Sie beobachten, wie sie spontane „Entschlüsse“ fassen und beispielsweise ein Erzählprojekt starten, obwohl Sie eigentlich nur ein Fragment veröffentlichen wollten.

Trithemius

Das beende ich vorläufig.

Frau Nettesheim
Wieso? Sie haben Erwartungen geweckt.

Trithemius

So ist das eben. Nicht alle Erwartungen werden erfüllt.Ich bin erschöpft. Aus dem Wunsch, authentisch zu schreiben, rutsche ich emotional in die Handlung, finde mich plötzlich in einem imaginären Spa mit einer Frau, die ich kenne und doch nicht kenne. Der Icherzähler versucht ständig, die Macht über mich zu gewinnen. Das kann ich nicht zulassen.

Frau Nettesheim
Sie wollen lieber Sie selbst im Hier und Jetzt sein?

Trithemius

Genau, wollen Sie doch auch.

Frau Nettesheim
Sie sein? Ich kann mich bremsen.

Trithemius
Das zeigt es mal wieder, Frau Nettesheim. Wird Zeit, dass ich zeichne, wie sich mir Ihr wahrer Charakter hinter der schönen Fassade darstellt:

Frau Nettesheim
Unverschämtheit!

Schreibstube 5 – Essen wie Goethes Großmutter

Folge 1Folge 2Folge 3Folge 4

Ich ließ sie alleine in den Saal gehen und ihre Ausrüstung zusammenpacken, blieb im Türrahmen stehen, um aus den Augenwinkeln den Gang zu beobachten.
„Wo sind die?“, fragte Helen, als sie aus dem Saal kam.
„Nicht zu sehen. Aber gib mir den Porsche!“ Mit dem schweren Stativ in der Hand fühlte ich mich etwas gewappnet, falls uns die Männer über eine Hintertreppe den Weg abgeschnitten hatten.“
Wir eilten die Treppe hinab. Das Foyer war leer. Hinüber zur Tür. Helen stieß mit der Hüfte die Klinke hinunter und stöhnte angstvoll auf: „Verschlossen!“
„Die geht nach innen auf, du Herzchen“, sagte ich. „Das ist keine Paniktür.“
Der Parkplatz lag bereits in der Dämmerung. Drüben beim Auto standen zwei dunkle Gestalten.
„Lauf zur Straße!“, sagte ich.
Sie zögerte.
„Nun mach schon!“
Ich sah ihr hinterher, bis sie die Straße erreicht hatte und schaute immer wieder zum Auto hinüber. Die Männer setzten sich langsam in Bewegung und kamen auf mich zu. Aus der Nähe erkannte ich die dunkelblauen Uniformen der Gendarmerie.
„Que faites-vous ici, monsieur ?“, fragte der Ältere, ein phlegmatischer Wallone mit einem Schnurrbart. Ich kramte mein Schulfranzösisch hervor:
„Nous avons visité le bâtiment et pris des photos.“
„Vous ne savez pas qu’il est interdit d’entrer dans l’immeuble?“
„Je suis désolé, on ne le savait pas. Nous venons d’Allemagne.“
„Das ist ein schlechte Ausrede“, sagte der Jüngere.“Betret Verbot steht doch auf den Schild.“
„Leider übersehen. Ich trug mich mit dem Gedanken, das Gebäude eventuell zu kaufen.“
„Il veut acheter l’ancienne boîte“, dolmetschte er seinem Kollegen.
„idée folle“, sagte der und machte mit dem Zeigefinger eine Schläfenschraube. Die beiden lachten.
Es wurde mir zu blöd: „Si ça ne vous dérange pas, j’aimerais conduire maintenant.“
„Bon voyage, monsieur, et restez à l’écart dans le futur.“

Wer waren die?“, fragte Helen, nachdem ich sie mit dem Auto eingesammelt hatte.
„Von der Gendarmerie, wollten wissen, was wir da gemacht haben.“
Sie sank erleichtert in ihrem Sitz zurück.
„Hast du was von den Männer gesagt?“
„Nein, das wäre mir zu kompliziert gewesen, auf Französisch zu erklären. Außerdem ist der Polizei nicht zu trauen, so korrupt die hier sind. Ich wollte nur schnell weg, um dich nicht ganz aus den Augen zu verlieren.“
„Was glaubst du, haben die drei Kerle im Sanatorium getan?“
„Offenbar nichts, was wir hätten sehen sollen.“
„Gruselig!“, sagte sie und schüttelte sich. Eine Weile schwiegen wir. Helen zündete sich eine Zigarette an.
„Ich habe Thomas übrigens gesagt, dass ich zwei Tage in Spa fotografiere. Wegen der unterschiedlichen Lichtverhältnisse morgens und abends.“
„Dann übernachten wir in Spa?“, sagte ich erfreut und fragte mich, warum sie vorher nichts gesagt hatte. „Aber nochmal zum Sanatorium willst du hoffentlich nicht.“
„Muss ja nicht. So haben wir mehr Zeit für uns.“
„Wird sich dein Mann nicht wundern, wenn du nur Fotos vom späten Nachmittag hast.“
„Kaum. Der interessiert sich nicht für meine Arbeit.“
„So ein Klotz!“
Wir fuhren ins Zentrum von Spa und kauften ein paar Sachen für die Nacht. Helen brauchte nicht viel. Sie hatte die große Fototasche für eine Übernachtung gepackt. Ich hatte mich schon gefragt, was da alles drin wäre. Für die Übernachtung wählte ich das „Manoir de Lébioles“, am südlichen Ortsausgang gelegen.

„Ein schönes Schlosshotel“, sagte ich. „Das bisschen Luxus haben wir uns nach der Aufregung verdient. Ich bin schon mal da gewesen. Walden, ein Geschäftsfreund meiner Eltern, hatte dorthin zum Firmenjubiläum geladen. Zum festlichen Diner musste der Sternekoch mit dem ganzen Küchenpersonal in Reihe antreten, und Walden las dessen Vita vor, wo der überall gekocht hatte und so. Damit wir so recht würdigen konnten, was uns geboten wurde. Walden hatte ihn ein Menü kochen lassen „aus dem Kochbuch der Großmutter Goethes, und ein Dr. Thomeé vom Aachener Germanistischen Institut hielt eine launige Rede über Goethe, bevor serviert wurde.“

„Wer keine Kultur hat, kauft sie sich“, sagte Helen.

„Oder er verhökert sie wie dein Mann“, gab ich zurück.

Fortsetzung (6)

Bericht aus der Schreibstube

Foto: Gudrun Petersen

„Wie weit bist du mit der Neuformatierung der kommentierten Bibliographie?“
„Beinah fertig. Ich frage mich, was damit tun? Die Zeit ist darüber hinweg gerauscht. Das referiert auf altes Wissen, das heute keinen mehr interessiert. Gestern sah ich beim NDR-Medienmagazin Zapp einen Bericht über neue Formen der Nachrichtenübermittlung des BR für junge Leute unter 30. Man produziert Dialogszenen aus einer Wohngemeinschaft, filmt, gestaltet mit dem Smartphone und veröffentlicht die Filme bei Instagram. Ein anderes Format für junge Leute ist „funk“ von ZDF und ARD, publiziert über verschiedene Plattformen wie Youtube und dergl., beispielsweise das Format „Auf Klo“. Zapp fragte: „Wenn das mit Funk gut funktioniert, was ist eigentlich danach? Wie finden Funk-Nutzer später zu ARD und ZDF? Programmgeschäftsführer Florian Hager meint, man brauche auch Angebote für die 30- bis 40-jährigen, damit die Leute, die mit Formaten wie Funk sozialisiert wurden, durch die Angebote des Fernsehens erreicht würden. ‚Das ist die nächste große Baustelle‘, sagt der Interviewer. Hager: ‚Genau.‘

Und ich dachte, wie radikal sich die Medienwelt wandelt, dabei gibt es unter Bloggerinnen und Bloggern noch welche, die stolz darauf sind, überhaupt kein TV zu nutzen. Und völlig anachronistisch sind die Themen der kommentierten Bibliographie.“

Die Schreibstube (4) – Stumme Bedrohung

Folge 1Folge 2Folge 3 – Folge 4

Ich hatte mich längst gegen den Kauf des alten Kastens entschieden. Zu groß, zu heruntergekommen. Es würde Unsummen verschlingen, ihn zu sanieren, und später wäre es schwierig, einen Käufer zu finden. Letztlich geht es mir nur noch um Helen, dachte ich, derweil ich hinter ihr die Treppe hoch stieg. Allmählich musste ich mir eingestehen, dass ich mich verliebt hatte. Anfangs war es nur körperliche Anziehung gewesen, der Reiz der Eroberung, doch inzwischen hatte diese eigenwillige Frau mich in ihren Bann gezogen. Ich liebte alles an ihr, wie sie dachte, wie sie sprach, wie sie sich bewegte, ihre zielstrebige Art, ja, mir imponierte, wie sie sich in der Männerdomäne der beruflichen Fotografie erfolgreich behauptete. Dazu gehörte auch ihre dickköpfige Weigerung, digital zu fotografieren, an der ihre Agentur schier verzweifelte, weil die Bildredakteure der Zeitschriften digitales Material verlangen. Ich ergötzte mich an der Spannung ihres Körpers, wenn sie fotografierte. Auch gefiel mir, dass sie nicht wild herumknipste, sondern von jedem Motiv genau ein Foto machte, völlig sicher, dass weitere nicht nötig waren, weil sie stets den für ihre Absicht besten Blickwinkel, den richtigen Bildausschnitt gewählt hatte. Die Belichtung musste sie nicht messen, denn sie hatte mit einem Ex-Geliebten und Kollegen immer darum gewetteifert, wer mit seiner geschätzten Belichtungszeit am nächsten an die nachträglich gemessene kam.

Als wir die erste Etage erklommen hatten, sah ich einen hohen Korridor so lang, dass sein Ende nur zu ahnen war. Von irgendwoher grellte dort die Sonne hinein und verbarg die Flucht vor unseren Augen. Da wir uns an einem zentralen Aufgang befanden, zeigte sich der Gang zur anderen Seite ebenso lang und schien in der Ferne in einen Seitenflügel abzuknicken. Helen hatte bereits das Stativ aufgestellt und zielte mit der Kamera in das ferne Licht. „Das gibt ein Bild, als hätte es der wahnwitzige Piranesi gezeichnet“, murmelte sie. Um nicht untätig zu sein, öffnete ich eine Tür und trat in einen leeren Saal. Das Licht von sieben hohen Fenstern malte bizarre Trapeze aufs Parkett, dessen Elemente von Nässe aufgeworfen waren und harte Schatten warfen. Ich erschrak, als eine Taube aufflog und durch ein zerborstenes Fenster flüchtete. Von dort war Wasser eingedrungen, das im grellen Sonnenlicht verdunstete.
„Ich rief: „Helen! Hier findest du noch ein Piranesi-Motiv!“
Sie rückte mit ihrer Ausrüstung heran und hatte Mühe, im gewellten Parkett fürs Stativ eine ebene Stelle zu finden. Helen fotografierte, dann schaute sie sich um, kam zu mir und lehnte sich an. „Hier ist schlechte Vibration. Das zieht mir Energie ab“, sagte sie. Ich nahm sie in die Arme und sagte: „Wir können auch gehen. Ich habe genug gesehen.“
„Nur mal gucken, wohin der Gang abknickt“, sagte sie.
Wir waren vielleicht 25 Meter dem Gang gefolgt, hatten lachend und albernd hie und da Türen geöffnet und hineingeschaut in die weitgehend leeren Räume, da kamen einen Steinwurf vor uns zwei Männer aus einem Zimmer und vertraten uns den Weg. Und dann gesellte sich ganz langsam ein Dritter dazu. Sie stellten sich breitbeinig hin und schauten uns ablehnend an. Mir fuhr der Schreck in die Glieder. Jetzt nur keine Angst zeigen. Ich sagte: „Du hast deine Ausrüstung im Saal vergessen, Helen“, und zog sie an der Hand. Wir wandten uns ab und gingen zurück. Ich bemühte mich, cool zu bleiben, langsam zu gehen wie selbstverständlich, doch ich hatte eine Scheißangst, die drei würden hinter uns herkommen, mich überwältigen und sich über Helen hermachen.
„Ich krieg gleich einen Herzkasper“, raunte sie.

Bericht aus der Schreibstube
Stunden damit zugebracht, eine mit dem Programm Letter-Perfekt geschriebene kommentierte Bibliographie von wahnwitzigen Steuerzeichen und Leerseiten zu befreien und ins Format des OpenOffice-Writers zu bringen. Ein Wunder, dass die Datei überhaupt noch lesbar war. Derlei Probleme kannte man vor 100 Jahren nicht. Aber interessant:
Porstmann, Walter: Sprache und Schrift, Berlin 1920
Der Ingenieur nimmt sich der Sprache an und entdeckt…“ein Stück Holz, dem irgendein Schnitzer plumpe Formen gab. – Und wir lagen davor und beteten, anstatt zu gestalten.“ Sein Fortschrittsglaube ist überwältigend. Porstmann will die Schrift von Grund auf verbessern. Er ist ein radikaler Phonetiker, der die Schrift endlich aus der „Holzzeit“ in die „Stahlzeit“ überführen will. Das „Schmieden der Schrift“ ist sein Anliegen. Nicht nur Konservative widersprechen. So schreibt Paul Renner, der Schöpfer der noch heute berühmten Schrift „Futura“, 1930: „Also nicht der radikalismus trennt mich von Porstmann und seinen mitläufern, sondern ich halte das ziel nicht für richtig, auf das er losgeht. Übrigens stört mich schon sein stil. Ich frage mich, ob ein mensch für die bedürfnisse unserer sprache ein gefühl haben kann, der solche sätze schreibt: ‚innerhalb der zeit, die ein großbuchstabe verschlingt, können mehrere kleinbuchstaben im ununterbrochenen schreibfluß getippt werden. die verdichtung der denkkraft auf den stoff wird dabei nicht gestört, was auf geistige frische des schreibers vorteilhaft wirkt. für die schreibmaschine selbst wird eine große freiheit zur weiterentwicklung geschaffen, etwa ein drittel der typen fällt weg. die schreibmaschine scheitert in ihrer entwicklung auf die größte höhe an dem wust von gerümpel in unserer schrift.‘ (Renner 1930). Man sieht, für Porstmann waren die Versalien nur noch Gerümpel.

Fortsetzung

Die Schreibstube (3) – Helen

Folge 1Folge 2 – Folge 3

Sie stemmte die zweiflüglige Eingangstür mit der Schulter auf und verschwand im Inneren des Sanatoriums. Ich beeilte mich, ihr hinter herzugehen, schob den Fuß in die zufallende Tür, denn mich überkam die Furcht, das Haus würde die Frau verschlingen und ich stünde ratlos da. Was sollte ich ihrem Mann erklären? Freilich musste er vom Wagemut seiner Frau wissen. Er sollte sie kennen. Hinter der Tür tat sich eine einst prächtige Eingangshalle auf, aus der sich links und rechts je eine Treppe in die oberen und unteren Etagen schwang. Obwohl von der einstigen Inneneinrichtung nichts heil geblieben war, verströmte die Halle einen morbiden Charme. Licht kam von der südlichen Fensterfront, wo einmal die Rezeption gewesen war. Da staken noch große Scherben im Fensterkitt. Die Fenster mussten mal Pflanzenornamente im Jugendstil gehabt haben. Die untergehende Sonne sandte die letzten Lichtstrahlen, blitzte grell wo das Glas fehlte, schien sanft gemildert durch die Scherben.

Helen hatte sich zentral postiert und richtete ihr Stativ aus, ihren „Porsche unter den Stativen“, wie sie stolz gesagt hatte. Am Porsche schien eine Rändelschraube zu klemmen. Sie sagte: „Kannst du die mal lösen?“
„Leider nicht“, sagte ich und deutete mit der Linken bedauernd auf meine Fingerkuppen, die mit dem Eintreten ins Sanatorium wieder zu bluten begonnen hatten, so dass ich die Hand senkrecht halten musste, damit das Blut zu Boden tropfte.
„Küchentücher in der großen Fototasche!“, sagte sie. Ich nahm die Rolle, riss ein Blatt ab, faltete es zum Streifen und wickelte ihn stramm über die Fingerkuppen, um die Blutung zu stoppen.
„Sag mal, was ist jetzt eigentlich mit dem Manuskript, an dem du dir die Finger zerschnitten hast?“, fragte sie, ohne vom Stativ aufzuschauen.
„Blöde Sache!“, sagte ich. „Weil es blutverschmiert war, hiervon“, ich wedelte mit der verletzten Hand, um ihr Mitleid zu rühren, „weil ich es mit Blut eingesaut hatte, gab ich es zum Säubern unserem Restaurator. Mit der Schließung unserer Firma wurde auch er entlassen, und seither ist das Manuskript verschwunden. Er behauptet, es müsse da sein, aber ich glaube, er hat es an sich genommen, um es gewinnbringend zu verkaufen. Die ehemalige Belegschaft ist, wie du dir denken kannst, nicht gut auf uns zu sprechen.“
„Ihr seid ja auch Schurken!“, sagte sie und sah mich kämpferisch an. Es war eine Härte in ihrer Stimme, die mich schon immer irritierte, weil sie im krassen Gegensatz zu ihrem liebreizenden Äußeren stand. Inzwischen hatte sie die Kamera auf dem Stativ befestigt und ausgerichtet. Ich antwortete nicht. Was sollte ich auch sagen? Wer sich verteidigt, klagt sich an. Sie beugte sich vor und schaute durch ihr Objektiv. Ich trat hinter sie und umfasste ihre Hüften. Sie schüttelte mich ab und sagte: „Lass das, ich muss das restliche Sonnenlicht nutzen!“
„Du bist heute so distanziert!“, maulte ich.
„Nur professionell!“, sagte sie. „Wenn ich arbeitet, arbeite ich. Dann gibt es sowas nicht. Sag! Versteht das einer, der von Beruf reich ist?“
Bevor ich antworten konnte, setzte sie nach „Von Beruf reich. Wie bescheuert ist das denn?“
„Hab ich das gesagt?“
„Mir war, als hätte ich es gelesen.“
Sie drückte einmal den Auslöser, der Verschluss des Objektivs schnarrte, und Helen richtete sich zufrieden auf. „Das wars! Jetzt können wir …“
„… das Gebäude erkunden?“
„Was denn sonst?“, sagte sie, schulterte Stativ und Kamera und ging zur Treppe.

Aus dem Handbuch der Schreibstube

Foto: Gudrun Petersen

„Die Schreiber hatten den besonderen Namen Stationarii, die, welche studiert hatten, nahmen aber auch den Namen Clericorum an, unter welchem Namen überhaupt in den Zeiten des Mittelalters die Gelehrten, die damals allein unter den Geistlichen zu suchen waren, begriffen wurden. (…) Die Secretaire des Königs von Frankreich wurden noch in unseren Tagen Clercs du Roi genannt, und in England sind sie die Clercs of Parliament, die Clercs of the Household, of the King noch jetzt“ (Johann Gottlob Immanuel Breitkopf)
„griech. Kleros gehört mit seiner Grundbedeutung „Steinscherbe, Holzstückchen (als Los gebraucht) zum griech. Verb klaein „brechen, abbrechen und damit zur indogermanischen Sippe von nhd. Holz“ (Duden)
Heute ist der Clerk, der Schreiber aber auch der schlichte Büroangestellte, der Befehlsempfänger. Deutlicher kann man den Niedergang einer Tätigkeit kaum dokumentieren, wie die Sprache dies tut.

Fortsetzung …