Isolierverglast schaudern

Die Isolierverglasung meiner Fenster schließt mich weitgehend aus von den Vorgängen draußen, die auf irgendeine Weise Laut geben. Isolierverglasung isoliert das Innen vom Außen, lässt von draußen nur das Licht durch, das von den Objekten vor den Fenstern reflektiert wird. Selbst das Licht des offenen Himmels ist ja Reflexion. Wenn die Atmosphäre nicht das Licht reflektieren würde, wäre unser Himmel schwarz. Aus einem erstaunlich hellen Himmel fällt lautlos der Regen. Seine Tropfen glänzen. Es ist mehr ein Aufblitzen und nicht einfach Tropfen, sondern Triefen.

Als isolierverglaster Mensch fehlt mir am meisten, den Regen zu hören. Zu einer anderen Zeit am anderen Ort habe ich mit einer geliebten Frau im Bett gelegen und wurde wach, als es gerade dämmerte. Die Tür zu Veranda und Garten stand offen. Drinnen und Draußen wurde nur durch eine bodenlange weiße Gardine getrennt. Ich hörte, dass ergiebiger Regen niederging, sah, wie die Gardine sich zum Garten hin bauschte, also wie vom Regen hinausgezogen wurde, aber nicht gänzlich Folge leistete. Oben hing sie an der Gardinenstange fest und unten widerstand das auf dem Boden aufliegende Stück der Gardine der Sogwirkung des Regens. So blähte sie sich wie ein Segel. Ich fröstelte. Aber meine linke Flanke war warm, wo ich die nackte Frau neben mir berührte. Sie hatte unser Laken ganz zu sich herübergezogen, und dort war es halb zu Boden geglitten. Ich hörte dem Regen zu, spürte schaudernd die nasse Kälte, die von außen auf mich eindrang. Für einen Augenblick durchströmte mich ein Glücksgefühl, grad so lang, wie da noch ein Ausgleich war zwischen Wärme an meiner linken Seite und Kälte rechts, dann schmiegt ich mich an das schlafwarme Weib und zog das Laken wieder über uns. Der Regen mochte ewig weiter rauschen. Doch die Welt stünde für eine Weile still.

Dieser Mann hat möglicherweise falsch gewählt

An leitender Stelle in der Redaktion von Tagesschau.de sitzt eine verantwortungsbewusste Persönlichkeit, die dankenswerter Weise in regelmäßigen Abständen über russische Hacker, Trollfabriken und Propaganda-Accounts informieren lässt. Diesmal leitet diese Person, deren Gehalt gerne fünfmal aus den Rundfunkgebühren gezahlt werden darf, diesmal leitet sie eine Meldung weiter von einem „Marcus Schüler. ARD Los Angeles zzt. Silicon Valley.“ Schuler, nicht Schüler. [ALARM! Diese gewissenlosen russischen Hacker haben den Teestübchenaccount gehackt und machen verbotene Namenwitze.]

Wir lassen uns nicht beirren. Schülers Überschrift lautet: „Russische Propaganda-Accounts bei Twitter?“ Am Fragezeichen erkennt man den hohen Informationsgehalt und die Verlässlichkeit der nachfolgenden Meldung. Hier war das zugegeben unkonventionelle Adjektivattribut „betonfeste Verlässlichkeit“ geplant, zwingend erforderlich, ja, staatsbürgerliche Pflicht, aber russische Hacker haben dafür gesorgt, dass die Rechtschreibprüfung das Wort nicht akzeptierte, können aber nicht verhindern, dass hier folgender Satz von Tagesschau.de zitiert wird: „Nach Facebook hat auch Twitter eingeräumt, möglicherweise für russische Manipulationen des US-Präsidentschaftswahlkampfs benutzt worden zu sein.“ „Möglicherweise“ heißt doch so gut wie „Vielleicht“, und hier sei als Beweis eine Erkenntnis aus dem reichen Erfahrungsschatz eines Mannes aus Marcus Schulers Umfeld im Silicon Valley angeführt, der nebenher gesagt haben soll: „Wenn eine Frau „vielleicht“ sagt, meint sie „ja.“

Russischer Hacker (scheinheilig) fühlt die Temperatur und argloser Wähler lässt es zu

Also isso. Möglicherweise, eventuell und gegebenenfalls haben russische Hacker auch die Bundestagswahl manipuliert und zwar mit Hilfe der Kugelschreiber, die verdächtiger Weise in den Wahlkabinen angebunden waren. Der gutgläubige Wähler, die arglose Wählerin hat treu und brav die Kreuzchen bei der Linken gesetzt wie auch der Autor dieser Zeilen, und der scheiß gehackte Kugelschreiber hat alles verwackelt und neben die Kreuzchen ein Maumännchen gemalt, so dass die Stimmabgabe als ungültig gezählt wurde und am Ende Angela Merkels CDU, ihre FDP und ihre AfD gewählt waren. So werden demokratische Wahlen zur Farce! Danke, Herr Putin, Vielen Dank auch!

Kaffeeplausch mit Frau Nettesheim – Weltschmerz


Trithemius
Oweh, Frau Nettesheim, seit Sonntagabend plagt mich der Weltschmerz. Und es wird immer schlimmer.

Frau Nettesheim
Wieso gerade jetzt?

Trithemius
Früher dachte ich, weil ich manchmal besonders dünnhäutig bin. Aber seit gestern denke ich das nicht mehr.

Frau Nettesheim
Und warum dann?

Trithemius
Ich bin nicht dünnhäutiger als sonst. Es rückt nur manchmal alles näher heran. Gestern schaue ich beispielsweise aus dem offenen Fenster. Ganz am Ende der Straße kommen zwei junge Männer heran. Und obwohl sie noch weit weg sind, höre ich genau ihre schlurfenden Schritte. Das dürfte Ihnen als Beispiel reichen.

Frau Nettesheim
Sie meinen, die Welt ist zudringlicher, weil sie gestern zwei Männer heran schlurfen hörten? Wollten die beiden denn zu Ihnen?

Trithemius
Nein, sie gingen unter meinem Fenster vorbei. Verstehen Sie das doch exemplarisch, Frau Nettesheim!

Frau Nettesheim
Möglicherweise lags an der Herbstluft, genauer an der Temperatur. Bei 16 Grad Celsius und hoher Luftfeuchte breitet sich der Schall schlurfender Schritte am besten aus.

Trithemius
Wer sagt das? Das haben Sie sich doch ausgedacht, nur um das Exempel zu entkräften.

Frau Nettesheim
Kommen Sie zum Punkt. Die schlurfenden Männer sind nicht verantwortlich für ihren Weltschmerz. Sie kennen die ja nicht mal.

Trithemius
Falls die beiden die AfD gewählt haben und mitverantwortlich sind für 96 AfD-Abgeordnete im Bundestag …

Frau Nettesheim
Hier in Linden-Mitte hat die AfD nur 3,9 Prozent der Stimmen bekommen. Das beste Ergebnis erzielten die Linke mit 24,2 und die Grünen mit 25,4 Prozent. Das müsste Sie doch freuen, Trithemius. Ihr Stadtteil!

Trithemius
Mir gehört doch hier nichts. Außerdem macht die Welt nicht vor „meinem Stadtteil“ halt. Gestern sah ich einen SPD-Abgeordneten aus Ostfriesland im Fernsehen. Er hatte es nur knapp in den Bundestag geschafft und lamentierte, angesichts ihrer historischen Leistung, was die SPD alles für die Menschen erkämpft habe, müsste sie bei 60 Prozent liegen. Und ich dachte, der Kerl begreift noch immer nicht, dass die SPD unter Schröder mit der Agenda 2010 unsere schöne Republik kaputtgemacht hat. Dass so wenig Einsicht ist in unserer Welt, macht mir Weltschmerz. Und schaut man über den eigenen Horizont hinaus: Weltweit regieren Wahnsinnige und Psychopaten, leiden Menschen unter Krieg, Gewalt, Verfolgung und Hunger, von der Umweltzerstörung gar nicht zu reden. Ich glaube langsam, Frau Nettesheim, die Menschheit hat ein Intelligenzproblem.

Frau Nettesheim
Das beträfe ja auch Sie.

Trithemius
Ja. Seit längeren sage ich mir, das desolate Weltgeschehen ist ein makabrer Witz. Das ist internationale Hochkomik. Aber ich komme einfach nicht hinter den Sinn, noch weniger verstehe ich die Pointe.

Arthur Koestlers Klopfzeichen

Während meiner Recherchen zur Schrift- und Buchkultur machte mich ein Kollege auf Arthur Koestlers deprimierenden Roman „Sonnenfinsternis“ aufmerksam. Darin beschreibt Koestler ein Klopfzeichen-Alphabet, mit dem sich Gefängnisinsassen trotz Isolationshaft verständigen können. Koestlers dystopischer Roman ist eine Abrechnung mit den stalinistischen Säuberungen, obwohl die Sowjetunion als Handlungsort nicht genannt wird. Als Mitglied der KPD sah er sich ähnlich wie sein Freund George Orwell vom Kommunismus enttäuscht.

Inhaftiert war Koestler jedoch nicht in der Sowjetunion, sondern in Spanien. Er war als Kriegsberichterstatter im spanischen Bürgerkrieg von Francos Truppen gefangen genommen und wegen Spionage zum Tode verurteilt worden. Das Klopfzeichenalphabet hat er vermutlich in seiner Isolierhaft kennengelernt.

Koestlers Klopfzeichenalphabet, aufgezeichnet von JvdL

Die 25 Zeichen unseres Alphabets (J fehlt, das I dient als Halbvokal ) sind in fünf Gruppen zu je fünf Zeichen eingeteilt. Das jeweils erste Klopfzeichen gibt die Reihe an, das zweite die Spalte. Wir werden hoffentlich nie in die Verlegenheit kommen, Koestlers Klopfzeichen benutzen zu müssen. Aber um geheime Botschaften auszutauschen, ließe sich das Verfahren auch auf Handzeichen übertragen, linke Hand: Reihe, rechte Hand: Spalte. Ähnlich lassen sich auch die Ogham-Runen nutzen. Das wäre dann eine gute Verschlüsselung.

Gekritzelt – Guten Tag, Frau Habermehl!

Namen behalten
Immer bin ich versucht zu einer Frau Haberkorn, fälschlich Frau Habermehl zu sagen. Es könnte aber auch umgekehrt sein. Ich kanns mir einfach nicht merken, vermutlich weil ich mal darüber nachgedacht habe, dass Haber die oberdeutsche Form von niederdeutsch Hafer und Mehl das feine Korn ist. Schon früher konnte ich mir bestimmte Namen nicht merken. Eine blonde Schülerin hieß Nadine, aber mein Gehirn war der Meinung, sie müsse Sandra heißen und ließ mich die Namen immer verwechseln.

Reifes Urteil
„Einen Menschen kannst du nicht ändern“, sagt die junge Frau am Nebentisch, „ ein Mensch ist so wie er ist.“

Zwei Welten
Eine Szene zufällig im TV gesehen: Am Boden sitzt eine Obdachlose, hat neben sich einen schwarzen Hund. Eine Passantin mit Hund ruft schon von weitem: „Ach, ist der süß!“, tritt heran, beugt sich zum Hund hinab und fragt, ihn tätschelnd: „Wie heißt er denn?“
„Stinker“, sagt die Obdachlose, „und deiner?“
„Philipp!“

Ataraxie

In letzter Zeit kommt es immer öfter vor, dass ich einfach nur da sitze.

Lust am Drama
Obwohl ich mich kaum für Fußball interessiere, schaue ich manchmal die Sportschau. Mir gefällt die Begeisterung in den Stimmen der Sportreporter. Noch besser war das einst im Rundfunk, als man ständig zwischen den Spielen hin- und herschaltete, und zwar, wann immer das Geschehen in einem Stadion dramatisch war. Im Off die Schlachtrufe der Fußballfans, das kollektive Aufstöhnen, wenn ein Schuss daneben gegangen war. Da beneide ich die Fußballfans um das Kollektiverlebnis. Es muss eine Lust sein, das Maul aufzureißen, und es kommt der gleiche Laut heraus wie aus dem Nachbarmaul, und links und rechts, oben und unten, zehntausendfach, die geballte Energie von Gleichgesinnten, die ins Stadion donnert und von dort in alle Wohnstuben.

FC Knobi

Arne [mein damals siebenjähriger Sohn] kommt zu mir und fragt: „Wer wurde 1989 deutscher Fußballmeister?“
„Weiß nicht, vielleicht Bayern München?“
„Nein, der Knoblauch oder so.“
„Wieso Knoblauch?“, frage ich und muss lachen, denn mir fällt ein, wo das herstammt. Auf den Reinigungstabletten für die Zahnspange meiner Tochter sind Fragen und Antworten abgedruckt. Der Druck hatte sich bei der Produktion verschoben, so dass die Perforation die falschen Fragen und Antworten auf einer Tablette vereint.

Ich erkläre das meinem Jüngsten. „Das mit dem Knoblauch hat Malte [sein drei Jahre älterer Bruder] mir gesagt, und ich fand es gleich komisch“, sagt Arne und muss auch lachen. (Auf den Tag genau 27 Jahre alte Tagebuchnotiz vom 25. September 1990 )

Weingeist, Wein und Weinen – Deutsche Demokratie

Wenn es etwas gibt wie die kollektive Seele der Deutschen, dann liegt sie vermutlich nahe Neustadt an der Weinstraße. In der Nähe erhebt sich auf dem Schlossberg das Hambacher Schloss. Dort fand am 27. Mai 1832 das Hambacher Fest statt, von dem die erste deutsche Demokratiebewegung ausging. Damals zogen etwa 30.000 Deutsche, Franzosen und Polen zur Schlossruine hinauf und hissten auf dem Schloss die schwarz-rot-goldene Fahne, die heutige Nationalflagge Deutschlands. Redner forderten Meinungs- und Pressefreiheit, Einheit und Demokratie in Deutschland und Europa.

Unweit davon liegt das Städtchen Kirchheimbolanden. Dessen Einwohner wählen laut Tagesschau.de seit vier Bundestagswahlen ziemlich genau wie das jeweilige amtliche Endergebnis der Wahlen. Nur 38 Kilometer Luftlinie entfernt liegt auch das Städtchen Hassloch, das die Gesellschaft für Konsumforschung (GfK) zum Testmarkt erhoben hat. Hier werden Produkte vor ihrer Markteinführung getestet. Denn was die 19.000 Haßlocher mögen, mögen alle anderen Deutschen auch. Städte wie Konz und Bingen, die laut Tagesschau.de ebenfalls nah am gesamtdeutschen Ergebnis gewählt haben, liegen in der Nähe.

Vielleicht bedeutet dieses erstaunliche Zusammentreffen gar nichts, denn die eingangs genannte kollektive Seele der Deutschen ist ein gedankliches Konstrukt, eine Metapher. Man kann auch darüber streiten, ob die von mir dargestellten Bezüge als Zufallstreffer anzusehen sind. Besonders die Beziehung zum Hambacher Schloss ist ziemlich spekulativ. Romantikern wird die Idee gefallen, dass in dem Landstrich rund um Neustadt an der Weinstraße ein besonderer Geist weht. Spötter werden sagen, es ist der Weingeist. Der „uralte“ Weinbrand, in dem angeblich der „Geist des Weines“ liegt, kommt auch aus der Gegend nahe Bingen, nämlich aus dem Weinort Rüdesheim. „Weinort“ ist hoffentlich kein Hinweis auf das Ergebnis der kommenden Bundestagswahl. Aber vermutlich wird, was die Leute in Kirchheimbolanden und mithin bundesweit wählen, zum Heulen sein und sich am besten im Suff ertragen lassen.

Herr Ober! Der Kaffee hat Kork!

Zu Mittag bei Fräulein Schlicht sah ich durchs Fenster auf der anderen Straßenseite einige I-Dötzchen nach Hause hüpfen. Ein etwas größerer Junge ging vorbei, hielt den Kopf gesenkt und drehte seinen Pullover verstörend um seine Hände. Ich fragte mich, wann und warum Kinder aufhören zu hüpfen. Das Wann hat sicherlich etwas mit dem Wachstum zu tun. Erwachsene, wenn sie nicht Sportler oder Tänzer sind, hüpfen nicht mehr, weil sie zu schwer sind. Meine früher woanders aufgestellte Behauptung, mit zunehmendem Alter erhöhe sich die Schwerkraft, verdreht den Sachverhalt. Das Körpergewicht erhöht sich. Ich erinnere mich, wie sich bei einer Trainingsfahrt durch die Ardennen ein Radsportler uns anschloss und von sich sagte, 90 Kilogramm zu wiegen. Wir bewunderten, dass er dieses Gewicht in unserem Tempo den Berg hochwuchten konnte. Heute wiege ich 92 statt damals 72 Kilogramm, also jedes Jahr ein Kilo zugelegt, und käme nicht mal mehr auf die Idee zu hüpfen, weil mich die Erdenschwere gefangen hält.

Metaphorisch betrachtet, ist Erdenschwere die Sorgenlast des Menschen. Wann beginnt die kindliche Sorgenlast? Im April 2008 habe ich Am Hof, einem beliebten Platz der Aachener Altstadt, die hier zu sehenden Zettel vom Kopfsteinpflaster aufgesammelt. Kinder im Vorschulalter orientieren sich beim Zeichnen an der Grundlinie, und das ist der untere Papierrand. Doch da die Sonne so freundlich schien und für den nächsten Tag ein Spaziergang durch den frühlingshaften Wald geplant war, hatte das Kind die vertraute Grundlinie mit einem Bein verlassen und ließ sein Männlein fröhlich tanzen, die zeichnerische Entsprechung zum kindlichen Hüpfen.

Ich saß an diesem Apriltag vor dem Café Mohren und trank einen Milchkaffee. Derweil holten gutsituierte Mütter ihre Kinder vom anliegenden Kindergarten ab und zogen plaudernd an mir vorbei. Da war von Eis die Rede, das man beim Café Mohren zu kaufen gedenke und von derlei harmlosen Sachen.

Zwischendrin gab es auch eine erkennbar sorgenvolle Mutter. Das Kind an ihrer Hand trug einen Schulranzen und war offenbar in der Nachmittagsbetreuung des Kindergartens gewesen. Beide waren ein wenig übergewichtig. Zwischen Mutter und Kind wurde nicht gesprochen, und man zog eilig davon, ohne dem Eisverkauf des Cafés einen Blick zu gönnen. Die beiden sind mir nicht aus dem Kopf gegangen, weil sie in so krassem Gegensatz standen zu den gutgelaunten Müßiggängern an den besonnten Cafétischen und den anderen Mutter-Kind-Paaren.

Damals habe ich darüber nachgedacht, wieso man in Aachens Innenstadt eher selten solche Kontraste sieht. Ähnliches gilt für den gentrifizierten Stadtteil Hannovers, in dem ich jetzt lebe. Unsere Gesellschaft sortiert sich. Wo es schön ist, sind die Plätze gut besetzt von Menschen, denen die Gesellschaft Chancen bietet. Die Armen müssen sich bescheiden, und schon aus Schutz vor dem Gefühl der Erniedrigung bleiben sie meist in ihrem Umfeld. Diese schädliche und schändliche Sortierung unseres Gemeinwesens beginnt für ein Kind bereits vor dem Kindergarten. Arme Kinder lernen bald, dass sie wenig Grund haben, fröhlich zu hüpfen oder die Männlein auf ihrem Papier hüpfen zu lassen.

Derzeit betrifft es im reichen Deutschland 2,5 Millionen Kinder. Diese Zahl stammt aus einer Veröffentlichung des Deutschen Bundestages. Die Verursacher zeigen hier das Ergebnis ihrer neoliberalen Politik. Die verantwortlichen Parteien, CDU/CSU und SPD sollten sich was schämen.

Gekritzelt – Zweiter Atem und Das Nichts der Grünen

Diebskniffe
Mein Bruder erzählte, er habe als neuernannter Geschäftsführer einer Druckerei von seiner Vorgängerin gelernt, wie er sich im Kontakt mit Lieferanten zu verhalten habe. Wenn der Lieferant am Telefon einen Preis nenne, dann sage man zuerst gar nichts. In die peinliche Stille hinein werde der sein Angebot zu rechtfertigen versuchen und damit signalisieren, dass der Preis verhandelbar sei. „Rhetorik“, sagt schon der Sprachphilosoph Fritz Mauthner, ist „eine Sammlung von Diebskniffen.“

25 Jahre Herbstluft
Wie ein zäher Brei aus unerschöpflicher Quelle zieht der Autolärm der Straße dahin, völlig gleichmäßig und eintönig, ohne je abzuebben oder anzuschwellen. Man möchte nicht glauben, dass der Klangbrei von verschiedenen Automobilen erzeugt wird, die von einander völlig fremden Fahrern gesteuert werden. Wie viele müssen dicht auf dicht folgen, um gerade den Lärmbrei mit just dieser Konsistenz zu formen, wie er von der abendlichen Herbstluft durch mein offenes Fenster zieht? Wer rührt den Brei an? Wer überwacht seine Klangfarbe? Wer ruft den sorgenden Familienvater weg vom Abendtisch und befiehlt ihm, seinen Platz in der Schlange einzunehmen? Jede Sekunde muss doch einer „Du bist gleich dran!“ hören, den Löffel auf den Esstisch fallen lassen und in sein Auto springen, wo er den Zündschlüssel dreht, um seine Pflicht als Autofahrer zu erfüllen und Teil des Breis zu werden. (Auf den Tag genau 25 Jahre alte Tagebuchnotiz vom 18. September 1992 )

Zweiter Atem

Als ich noch Radsportler war, fuhren wir oft 150 Kilometer oder mehr durch Eifel und Ardennen. Obwohl ich damals gut trainiert war, hatte ich immer um die 75 Kilometer herum einen Leistungseinbruch, der beim Fahren wieder verging. Heute geschieht mir Ähnliches, wenn ich mittags die Suppe löffele. Nach etwa 15 Löffeln werde ich müde und beginne zu überlegen, ob das Löffeln mich mehr Energie kosten wird, als ich mit der Suppe mir zuführen kann. Also entsprechen heute 15 mal Suppe Löffeln ungefähr 75 Kilometern Radfahren vor 20 Jahren. Zum Heulen, wenns nicht so ulkig wäre.

Nichts mit ohne Laterne
„Umwelt ist nicht alles. Aber ohne Umwelt ist alles nichts“, ließen die Grünen auf ein Wahlplakat drucken, das an der Laterne vor meinem Küchenfenster hängt. Was will mir das alberne Wortspiel sagen? Ich gucke am Tag nach der Bundestagswahl aus dem Küchenfenster, und die Umwelt mitsamt Laterne ist futsch? Das hätte ein Gutes: Am Nichts können selbst Deppen kein Plakat aufhängen.

Nochmals aus der Abteilung
„Texten ohne Denken:“

„Mit dem Plus bei Halsbeschwerden?“
Lieber nicht.

Foto: JvdL
(zum Vergrößern – des Fotos,
nicht der Halsbeschwerden –
[Strg +] oder Foto anklicken!)

Mikroben (3)

Folge 1Folge 2

Wie kommen Sie dazu, sich die Schuld an Minnas Tod zu geben?“
„Wegen der Mikroben, die Dr. Ehrenfelder in seinem Labor aufbewahrt hat. Es war wohl ein besonders aggressiver Mikrobenstamm, der in Höhlen lebt, genau an den Orten, wo auch die ersten Menschen gelebt haben. Das steht alles in seinem Aufsatz. Ich hatte bei meinem Sturz eine Flasche zerstört und dabei jene speziellen Krankheitserreger freigesetzt. Sie hatten mich angefallen, aber auch Minna, als sie mich verarztete. Alles war also die Folge meiner Unkeuschheit gewesen. Meine unverzeihliche Todsünde hat Minna getötet.“

„Woher wollen Sie das wissen? Sie haben keinerlei Hinweise, woran Minna gestorben ist, noch wissen sie ihren Todeszeitpunkt. Was Sie plagt, sind Fieberphantasien und Vermutungen. Das alles speist sich aus einem schlechten Gewissen. Dabei ist Ihr Verhalten doch nichts Schlimmes gewesen und aus heutiger Sicht verständlich. Nacktheit war bis in die 1970-er Jahre tabuisiert. Wo hätten Sie als Junge eine nackte Frau sehen können, wenn nicht heimlich in der Badewanne?“

„Auf dem Fünfmarkschein. Da war die nackte Europa abgebildet. Ich habe sie mir oft genug angeschaut, wie sie da mit kleinen spitzen Brüsten auf dem Stier liegt und sich von ihm davontragen lässt, um sich mit ihm zu paaren. Unkeusch! Sodomie! Todsünde!“
„Wenn ich mich recht erinnere, war das Zeus! Er hatte sich in einen Stier verwandelt. Vor der Paarung mit Europa hat er seine Stiergestalt wieder abgelegt.“

„Lüge! Hat sich mit einem Stier gepaart! Todsünde! Todsünde!“, schrie Erlenberger erneut.

Ich spürte, wie ein Unwille in mir hochstieg, und ich ahnte, dass die Schwärze, von der Erlenberger umwabert war, sich wohl größtenteils aus der verklemmten katholischen Sexualmoral speiste. Indem er mir wie fiebrig weitere Beweise seiner Schuld an Minnas Tod darlegte, dabei einen Pater Arnold aus dem Kloster zum Zeugen aufrief, dem er seine unkeuschen Absichten und die schrecklichen Folgen gebeichtet hatte, wurde seine Stimme immer höher, begann sich zu überschlagen, und artete zum Schluss in ein heiseres Bellen aus. Erlenberger war mir dabei immer näher gerückt, als wäre es dann einfacher, mich von seiner Schuld zu überzeugen. Dabei flog Schaum von seinen Lippen, und als etwas davon meine Unterlippe benetzte, überkam mich ein Ekel, den ich kaum zu unterdrücken vermochte. Ich sollte diesen Speicheltropfen noch bereuen. Verstohlen wischte ich meine Lippen mit dem Handrücken ab. Mir schien, dass es gut wäre, die Sprechstunde zu beenden, zumal Erlenberger sich von der menschlichen Sprache weit entfernt hatte und nur noch jaulte.

Ich stand auf und rüttelte ihn bei der Schulter. „Sie gehen jetzt besser!“, sagte ich, doch als Erlenberger aufschaute und mich sein irrer Blick traf, war mir klar, dass ich ihn so nicht gehen lassen konnte. Ich wählte die Notrufnummer der Feuerwehr und klärte rasch ab, dass man Erlenberger in die Psychiatrie bringen müsste. Erlenberger war auf seinem Stuhl zusammengesunken und wimmerte leise. Eine Weile saß ich noch schweigend bei ihm und war erleichtert, als ich schwere Feuerwehrstiefel auf der Treppe poltern hörte. Erlenberger hatte sich beruhigt und fragte ängstlich: „Holen die mich ab?“
„Ja.“
„Aber ich muss Ihnen doch noch von Dr. Ehrenfelders Theorie erzählen.“
„Später.“

Wird fortgesetzt

Kaffeeplausch mit Frau Nettesheim über Rezeption, Icherzähler und Minuszahlen


Trithemius

Oje, meine Leserzahlen sind in den Keller gesunken, Frau Nettesheim.

Frau Nettesheim

Vielleicht, weil Sie Ihre Mikroben-Erzählung nicht weiter geschrieben haben?

Trithemius

Einerseits wollte ich niemanden mit zuviel Text überfordern, andererseits bin ich nicht sehr motiviert weiterzuschreiben, wenn die Likes und Leserzahlen zurückgehen. Man ist ja immer geneigt, etwas in die Rezeption hineinzudeuteln.

Frau Nettesheim
Beispielsweise?

Trithemius
Befremdung. Ich habe heute morgen noch mit meinem Physiotherapeuten darüber gesprochen. Er ist ein belesener Mann und an literarischen Fragen interessiert. Bekanntlich verwischt im Blog die Grenze zwischen Autor und Ich-Erzähler. Blogleser scheinen zu bevorzugen, wenn Ich-Erzähler und Blogautor identisch sind. In meiner Erzählung Mikroben gibt es sogar zwei nicht mit mir identische Ich-Erzähler, den Arzt und den Patienten. Ich glaube, das befremdet meinen Leserkreis, Frau Nettesheim, und sie warten darauf, dass ich wieder in die vertraute Rolle zurückkehre.

Frau Nettesheim
Das scheint mir doch sehr spekulativ zu sein.

Trithemius
Sie haben Recht. Bis heute habe ich die rätselhafte Sphinx Internet nicht begriffen. Mal sendet sie Abgesandte, mal nicht, auf unwägbaren Ratschluss, wie sie grad lustig ist. Stellen Sie sich vor, das geht jetzt so weiter. Ich schreibe Fortsetzungen von „Mikroben“, und die Besucherzahlen sinken und sinken, sinken bis ins Negative. Und meine Stastik weist aus: „Anzahl der Besucher: -39.“ Stellen Sie sich die dramatische Entwicklung mal vor, Frau Nettesheim. Dann wäre ich sowas wie ein Besucher-Schuldenblogger und müsste horrende Zinsen bezahlen.

Frau Nettesheim
Sie phantasieren. Wie sollte das praktisch aussehen?

Trithemius
Das weiß ich auch nicht. Aber die Vorstellung ist irgendwie bedrückend.

Frau Nettesheim
Trithemius! Eine unvorstellbare Vorstellung ist weniger als nichts.

Trithemius

Sag ich doch. Schrecklich, wenn alles in den Minusbereich abwandert.