Monat: Juni 2016
Kellerassel verstößt gegen intergalaktisches Recht
Es hat geregnet. Ein schwerer Landregen ist niedergegangen. Im Hof zwischen den feuchten Fliesen kriecht mit provozierender Langsamkeit eine Assel. Die Abmessungen einer Asselwelt zugrundegelegt, betrachte ich sie aus großer Höhe, derweil ich meinen Fahrradsattel trocken wische. Weil ich so wenig über Asseln weiß und weil sie sich so seltsam stoisch bewegt auf ihren kaum sichtbaren sieben Beinpaaren, stelle ich mir vor, die Assel wäre das Raumschiff einer außerirdischen Spezies, eher noch das Landungsschiff, mit dem sie unsere Welt erkunden.
Ein Sommer auf der Insel Texel und ein seltsames Zusammentreffen von Ereignissen
Die Geschichte beginnt auf den Tag genau heute vor zehn Jahren. Der 25. Juni 2006 war ein Sonntag. An diesem Tag besuchte der „europaweit gefürchtete Kunst-Attentäter Hans-Joachim Bohlmann“ (der Spiegel) das Amsterdamer Rijksmuseum. Er spritzte Feuerzeugbenzin auf das 2,3 x 5,5 Meter große Gemälde „Schützenmahlzeit zur Feier des Friedens von Münster“ (1648) von Bartholomeus van der Helst und zündete das an. Der Anschlag wurde rasch entdeckt, der Brand gelöscht, so dass er nur geringe Schäden anrichtete. Dieses Attentat sollte mir ein besonderes Erlebnis bescheren. Weiterlesen
„Man kann ja nie wissen“
Ich habe ein Plakat gerahmt und an die Wand gehängt. Dazu musste ich nur sechs Nägel in die Wand schlagen, das heißt zwei davon habe ich je zweimal eingeschlagen und wieder gezogen, weil sie sich als zu lang erwiesen haben. Ich hämmerte also zwei kurze Stahlnägel in die Wand, und zwar von den ersten Löchern um drei Zentimeter nach links versetzt, damit der linke Rand des rahmenlosen Halters mit dem darüber hängenden Bild bündig abschließt. Das Plakat im Format 420 mm x 594 mm (DIN-A2) zeigt das heitere Aquarell „Anna Blume und ich“ aus dem Jahr 1919 von Kurt Schwitters und wirbt für eine Veranstaltung am 24. Juni 2016 im Kultur-Café „Anna Blume.“ Dort bin ich gestern mit meiner Obernachbarin gewesen. Wir sind mit den Rädern hingefahren. Der kleine Stapel Plakate hat da auf einem Flügel gelegen. Meine Nachbarin hat auch eines mitgenommen und die beiden gerollt in ihrer geräumigen roten Handtasche transportiert.
Das inklusive Kultur-Café „Anna Blume“ befindet sich in der ehemaligen Leichenhalle des Stöckener Friedhofs. Das symmetrisch gestaltete Eingangsportal des Stöckener Friedhofs mit seiner zentralen neugotischen Kapelle und den im stumpfen Winkel abgehenden beiden Leichenhallen ist das Werk der hannöverschen Architekten Adolf Narten und Paul Rowald und wurde fertiggestellt im Jahr 1892.
Haupteingang des Stöckener Friedhofs – Bildquelle: Wikipedia (größer: klicken)
Ich habe hier mal den stilistischen Rat gegeben, eine Halle müsse man nicht “eine große Halle” nennen, denn es hallt ja in ihr, wie die Bezeichnung schon sagt, also ist sie kein Kämmerlein. Und wenn man die Ausdehnung der Halle zeigen will, dann ist es besser, jemanden etwas darin tun zu lassen.
Jedenfalls könnte man unter neogotischen Spitzbögen und zwischen den beiden Säulenreihen gut 15 Särge aufbahren, also mindestens so viele, wie jetzt Tische darin stehen. Warum die westliche der beiden Leichenhalle ihrer eigentlichen Bestimmung entzogen wurde, entzieht sich auch meiner Kenntnis. Am Freitag wird jedenfalls der ehemalige Direktor des Sprengelmuseums, Ulrich Krempel, in der ehemaligen Leichenhalle des Stöckener Friedhofs, jetzt Café Anna Blume“, da wird Herr Krempel Texte des Merzkünstlers Kurt Schwitters lesen. Das hätte sich Schwitters bestimmt nicht träumen lassen, dass man seine Texte mal in der Stöckener Leichenhalle vorlesen würde. Mit Hall auch noch! Sinniger Weise steht auf seinem Grabstein „Man kann ja nie wissen.“
Schweinerei beim Fußballspiel Deutschland : Ukraine
Klar! Es war eindeutig Handspiel, als Bundestrainer Joachim Löw beim Europameisterschaftsspiel gegen die Ukraine sich ungeniert in die Hose fuhr, dort ausgiebig hantierte (!) und danach ganz fasziniert an seinen Fingern roch, was den Schluss nahegelegt, dass es zur Ballberührung gekommen war, wenn auch nur mit den Fingerspitzen: Hand ist Hand.
( #Schnüffelgate )
„Das ist nichts Besonderes. Ich glaube, 80 Prozent von euch haben sich auch schon mal die Eier gekrault.“
Twittert wer? Podolski. Po-dolski, du verstehst, gnihihi!, wenn du weißt, dass Jogi Löw sich seine Hand auch noch hinten in die Hose geschoben hat! Bei einem Fußballspiel! So geht’s nicht. Die ganze Welt hat zugeschaut. Ich finde, die Leute in Stuttgart oder alle, wo so sprechen tun wie Löw, sollten sich von dieser unsportlichen Schweinerei mal distanzieren, sollten sagen, wir sind nicht die 80 Prozent! Es ist nicht typisch für Schwaben oder für wo Joachim Löw herkommt.
„Die Mannschaft“ trug übrigens ein passendes Shirt. Es hat im Nacken einen hellen Einsatz, der von weitem aussieht wie ein von der Unterhose nach oben gerutschtes „Arschfax“. Ist auch eins. Typisch Löw! Kann seine Spieler nie in Ruhe spielen lassen, sondern tut live den Spielstand aus seiner Hose faxen. „1 : 0 für das Linke – nach Handelfmeter!“ Ehrlich, wen interessierts? Das lenkt die Mannschaft nur ab. Am Ende passt Boateng nicht auf und Neuer kriegt einen rein.
Sag mal, wie sich deine Welt anfühlt!
Zounds! Ich habe verschlafen. Dabei muss ich aus der Zeit gerutscht sein, denn rundum ist es still. Zwar höre ich in der Ferne einige Autos fahren, auch zwitschern Vögel. Aber die Geräusche könnten eine Täuschung sein. Sie könnten vom Band kommen. Eigentlich müsste die akustische Illusion noch nicht mal vom Band kommen. Es reicht, mein Hörzentrum ein wenig zu stimulieren, so dass ich glaube, entfernte Autogeräusche, Vogelstimmen sowie das leise Lüftungsrauschen meines Klapprechners zu hören. Blicke ich über den Bildschirm hinweg, sehe ich drei Fenster, zwei Fenster frontal, eines schräg von der Seite. Das linke der frontalen Fenster hat zwei Flügel. Die weißen Gardinen sind völlig zur Seite geschoben, so dass besonders dieses Fenster den Blick auf dichtes Laub verschiedener Bäume gewährt, die in scheinbar unterschiedlicher Raumtiefe angeordnet sind. Geradeaus sehe ich einen Weißdornbusch, der sich ins Laub einer Eiche geschoben hat. Durch das seitliche Fester sehe ich nicht viel. Die Gardine ist nicht weit genug zur Seite geschoben. Immerhin erkenne ich schemenhaft eine hohe, hellrot verklinkerte Hausfront und einige Fenster darin. Sie sind weiß gestrichen und haben eine altweiße Laibung. An ihrer symmetrischen Anordnung leite ich ab, dass in der Haufront noch weitere Fenster sein müssen. Der größte Teil der Hausfront ist aber durch das Laub eines Baumes verdeckt.
augadoro (Augentor) nannten die Germanen ihre Fenster. Wie bei den akustischen Wahrnehmungen könnte alles, was die Augentore mir zeigen und was sich rundum im Raum befindet. Alles das könnte meinem Sehzentrum vorgespielt sein. Bliebe noch mein Bildschirm und was in Schrift darauf erscheint, wenn ich bestimmte Tasten in einer geordneten Reihenfolge anschlage. Angenommen auch das wäre Illusion wie auch die taktilen Wahrnehmungen des Rechners auf meinem Schoß, der Tasten unter meinen Fingern, wie mein linker Fuß auf dem Boden aufsteht, der rechte frei in der Luft schwebt, weil ich dieses Bein über das andere geschlagen habe und den Rechner auf dem Oberschenkel des rechten Beins halte, der Druck meines Körpers auf die Rückenlehne, wie ich auf dem Sitz laste, meine inneren Wahrnehmungen, der Nachgeschmack von Kaffee in meinem Mund und so weiter. Es gibt keinen Beweis, dass ich nicht aus der Welt gerutscht bin. Nichts beweist mir, dass ich noch bin. Und du werte Leserin, werter Leser, du hast noch weniger Anhaltspunkte. Du sagst: Ich lese ja deinen Text. Aber tust du das überhaupt? Ich habe keinen Beweis dafür, wie ich nicht weiß, ob auch dir alle Wahrnehmungen vorgespielt werden. Was ist, wenn ich den Text gar nicht geschrieben habe? Vielleicht ist er nur in deinem Kopf entstanden? Ganz gewiss entsteht er in diesem Augenblick in deinem Kopf.
Guten Tag!
Du kannst es dabei belassen. Wenn du aber das Bild in deinem Kopf erweitern willst, klicke auf … Weiterlesen
Fußball-Europameisterschaft 2016 mit ohne Senf dazu
Die deutsche Nationalmannschaft hat noch gar nicht gespielt und ich bin schwer enttäuscht von der Fußball-Europameisterschaft 2016. Was ich 2012 schon bitterlich vermisst habe, fehlt auch 2016: Senftuben in den Nationalfarben, also Schland-Senf. So eine skurrile Tube hatte ich mir damals aus ethnologischen Gründen gekauft. Sie war das beste an der EM 2008. Das zeigt sich schon daran, dass ich mich an nichts anderes erinnere. Ich müsste jetzt nachsehen, wo sie stattfand, wer
Welt äh Europameister wurde, wie weit die Mannschaft kam und wer Bundstrainer war. Das alles ist mir Senf.
Leider ging es dem Schland-Senf wie meiner Zuckertütchensammlung, die ich auch immer mal wieder auflösen muss, weil ich vergessen habe, Zucker für meinen Morgenkaffee zu kaufen. Nein, den Schlandsenf habe ich nicht in Kaffee aufgelöst, aber irgendwann habe ich den jungfräulichen Tubenverschluss mit dem Dorn von der Oberseite des Schraubdeckels durchstoßen, um ein wenig Senf zu entnehmen. Dabei habe ich mich getröstet, die Tube wäre ja trotzdem noch prallvoll, doch mir war klar, dass ich mir was in die Tasche lüge. Einmal geöffnet würde der Schlandsenf irgendwann aufgebraucht sein. Irgendwann würde ich jede Hemmung fahren lassen, achtlos an der Tube herumdrücken, sie plattmachen, denn eine einmal offene Senftube muss aufgebraucht werden, damit der Senf nicht verkrustet, am Ende gar versteinert.
Ein bisschen Tuben-Psychologie gefällig? An der Weise wie Menschen mit Tuben umgehen, lässt sich eine Typologie festmachen, habe ich mal gelesen. Man kann eine Tube ja sorgfältig von hinten falten oder aufrollen, einfach von hinten nach vorne plattmachen, sie zerquetschen und was weiß ich. Behalten habe ich nämlich nur, dass die Menschen, die ihre Tuben unordentlich zusammendrücken, besonders kreativ sein sollen. So mache ich es nämlich. Ich kann mich bemühen wie ich will. Am Ende sehen meine Tuben aus als wären sie durch tausend Chaotenhände gegangen. Dabei war da nur ein Chaot am Werk gewesen. –
Schade um den Schlandsenf, um dieses prägnante Zeugnis der Fußball-Nationalismus-Narretei. Die speist sich naturgemäß aus Nationalstolz. Aber wenn du fragst, woher kommt die Begeisterung für die Nationalflagge? Sind wir alle plötzlich Nationalisten? Nein! Diese Begeisterung wird zu einem Gutteil vom sogenannten „Ambush-Marketing“ (Schmarotzer-Marketing) angeheizt. Schmarotzermarketing wird nötig, weil die Mafia UEFA bestimmte Produkte gegen teuer Geld lizensiert. Nur lizensierte Werbepartner wie Coca Cola, Carlsberg oder McDonalds dürfen mit dem EM-Logo werben. Da aber Nationalfahnen noch nicht der UEFA gehören, übergießen die Hersteller für den deutschen Markt vieles mit den Farben Schwarz-Rot-Gold. Zwar sind Hoheitszeichen wie die deutsche Nationalflagge geschützte Symbole, deren unbefugte Verwendung nach § 145 I MarkenG, 124 OWiG verboten ist. Aber die Bundesfarben sind nach einer Entscheidung des Bundespatentgerichts nicht Teil des Hoheitszeichens. Mit ihnen dürfen eigene Produkte ausgestaltet und beworben werden. Die Verbindung zur EM stellt der Kunde dann selbst her. Auch heuer hat sich der Handel mächtig ins Zeug gelegt und die Regale mit schwarz-rot-goldenen Fan-Artikeln geflutet. Wer aber jetzt schon mit zwei Schlandfähnchen am Auto herumfährt und mit kondomisierten Rückspiegeln in Schwarz-Rot-Gold oder sich einen blöden Fußballhut aufsetzt, bevor die Nationalmannschaft überhaupt anständig gespielt hat, outet sich als Volldepp.
Für diese Volldeppen bietet ein Discounter auch Kulinarisches an: “Kabeljaubällchen”, „Fußballbier“ im 20-Literfass, „Stürmer-Pizza Bacon & Ziegenkäse“. Wir lernen daraus, dass der Kabeljau Bällchen hat. Aber was soll der besoffene Fan mit Stürmer-Pizza assoziieren? Ist es eine Mittelstürmer-Pizza oder kommt die mehr über außen? Und was ist mit den „Fußball-Nuggets?“ Fehlt da nicht eines, nämlich Senf? Immerhin ist für Fußballfans Nachspiel gesorgt. Die Lidl-Eigenmarke Floralys bietet „3-lagiges Toilettenpapier mit Fußballmotiven“, 10 x 200-Blatt. Damit keiner mit der Schlandfahne wischt.
Nebenbei: Kollegin Ohneeinander hat in ihrem Blog gefragt, was denn wohl die armen Holländer machen, weil Oranjes voetbalelftal sich bekanntlich nicht für die EM qualifizieren konnte. Wie de redactie.be berichtet hat ein niederländischer Cafébesitzer in Wolder, einem Stadtteil von Maastricht, direkt an der Grenze zu Belgien gelegen, die Grenze kurzerhand 100 Metern nach Osten verlegt und zumindest sein Café nach Belgien eingemeindet. Die merkantilen Niederländer finden nichts dabei, wenn einer der ihren einen Weg gefunden hat, vom Geschäft mit der Europameisterschaft zu profitieren. Schon vorher war zu hören gewesen, dass niederländische Fußballfans ersatzweise für die belgischen rode duivels supporteren wollen. Entsprechend bietet der flämische Sender Studio Brussel orangenfarbene Teufelshörner an. Im Bild: u.a. Linde Merckpoel – im Teestübchen bekannt als grandiose Witzerzählerin.
Der Oranje-duivels-Kopfschmuck
Warnung vor abstürzenden Enten
Einmal trug sich in den Niederlanden ein seltsamer Jagdunfall zu. Nachdem ein Jäger in den Himmel geschossen hatte, stürzte eine Flugente herab und erschlug nicht den Jäger, sondern einen Vogelschützer.
Die Natur kennt eben keine Moral, sonst hätte sie besser gezielt. Man verzeihe mir die Personifizierung der Natur. Es wirkt nur seltsam, wenn man einen solchen Satz aufschreibt, denn in Wahrheit personifiziert der Mensch ständig.
Der Schriftforscher Jack Goody hat illiterale Kulturen an der Grenze der Schriftbenutzung untersucht, um zu erhellen, wie die Benutzung von Schrift das Denken bedingt. Goody berichtet von einem Missionar, der einen einheimischen Läufer mit fünf Broten und einem Begleitbrief zu einer anderen Missionsstation schickte. Unterwegs bekam der Läufer Hunger, rastete, aß eines der Brote und lief zur Mission. Der Missionar las den Brief und fragte den Läufer nach dem fünften Brot. Da gestand der Bote, dass er das Brot gegessen habe, doch er wollte wissen, wieso der Missionar überhaupt von dem fünften Brot wissen konnte.
„Das hat mir der Brief erzählt“, sagte der Missionar. Als der Bote einige Tage später erneut Lebensmittel in die Mission tragen sollte, verlockte ihn schon wieder ein Brot. Doch bevor er sich darüber hermachte, versteckte er den Brief unter einem Baum, damit der geschwätzige Brief den Mundraub nicht beobachten konnte.
Von dieser Form des magischen Denkens ist der alphabetisierte Mensch nicht weiter entfernt als bis zum Brotkasten in der Küche. Die Vorstellungen, mit denen wir uns die Welt erklären, sind überwiegend so absurd wie die Vermutung, ein Brief könnte sehen. Zum Beispiel schlagen Kinder manchmal nach einem Gegenstand, der sie verletzt hat. Das tun sie nicht mehr, wenn sie die Phase des magischen Denkens hinter sich gelassen haben, etwa mit fünf Jahren, wenn auch ihre Sprachentwicklung abgeschlossen ist.
Ein belesener Mensch unterscheidet sich stark von einem notorischen Fernsehgucker. Denn das Fernsehen bietet Bilder an, die der Zuschauer nicht prüfen kann, auch wenn sie vermeintliche Realitäten zeigen. Diese Bilder prägen das Denken, ein kurzatmiges Denken, denn beim Betrachten von rasch wechselnden Bildern bildet man keine Begriffe. Daher ist die Grundhaltung solcher Menschen überwiegend magischen Ideen verhaftet. Tatsächlich erlaubt nur die Schrift, dem magischen Denken etwas entgegenzusetzen. Die Schrift siebt aus magischen Bildern überprüfbare Gedankenfolgen und Ideen. Sie macht aus subjektiven Vorstellungen objektivierbare Aussagen, holt also Bilder nach außen und untersucht sie.Wenn ich schreibe, die Schrift tue dies, dann personifiziere ich die Schrift. Sogleich zeigen sich die Grenzen der Denktechnik, die uns die Schrift ermöglicht. Denn die Personifizierung ist bildhaftes Denken. Auch die Schrift ist also nicht allmächtig. Würde ich nach Schreiben dieses Textes vor die Tür gehen und von einer abgeschossenen Ente erschlagen, dann wäre dieses Geschehen derart magisch, dass alle Schrift der Welt nichts dagegen ausrichten könnte. Doch eigentlich haben wir in jeder Sekunde des Daseins mit Mysterien zu tun, gegen die eine Ente auf meinem Kopf ein Klacks ist. Ich gehe dann mal einkaufen.
Philosophie für Anfänger (1)
Einiges über das Bebildern der Haut
Ich habe etwas erfunden, aber bevor ich meine Erfindung vorstelle, will ich einiges über Tätowierungen schreiben, denn darum geht es:
Als ich Kind war, hatten wir einen Nachbarn, der war Eisenbieger. Er hieß Herr Kühn. Ich bewunderte ihn, denn wer Eisen biegt, muss ein wahrhaft starker Mann sein. Herr Kühn hatte auf seinem sehnigen, sonnengebräunten rechten Unterarm eine Tätowierung, einen Indianderhäuptling mit prächtigem Kopfschmuck. Wenn Herr Kühn die Hand zur Faust ballte und seine Sehnen spielen ließ, zog der Häuptling finstere Grimassen oder schien zu sprechen. Später sah ich noch andere Tätowierungen, aber nicht eine hat mich so beeindruckt wie der Indianer auf dem Unterarm von Herrn Kühn. Die anderen Tätowierungen sah ich bei Kirmesleuten, bei den wüsten jungen Männern, die hinten auf den Selbstfahrer aufspringen, um während der Fahrt den Fahrchip zu kassieren. Offenbar wird das Stehen auf dem Selbstfahrer aber schnell langweilig, und sie machens nicht lang, denn immerzu klebte am Fenster des Kassenhäuschens das Schild: „Junger Mann zum Mitfahren gesucht.“
Anfang der 1980er Jahre kam in Mode, sich tätowieren zu lassen, auch wenn man weder Kirmesjunge noch Schiffschaukelbremser oder Eisenbieger war. Kurz habe ich erwogen, mir rund um den Oberarm ein keltisches Flechtwerkornament tätowieren zu lassen, da wo das kurzärmelige Radsporttrikot endet. Aber dann dachte ich: „Sich tätowieren zu lassen, ist doch eigentlich Sklavenart.“ Weil ich ein freier ripuarischer Franke bin, habe ich es gelassen.
Derweil ich mittags im Biosupermarkt meine Suppe löffele habe ich die Kundinnen und Kunden vor der Backwarentheke im Blick. Viele sind tätowiert, sogar hinten auf den Waden und in den Kniekehlen. Eine schöne junge Mutter, vermutlich Eisenbiegerin, zwei Kinder an der Hand, hat sich gleich ein ganzes buntes Bilderbuch auf den ranken Körper pieksen lassen, damit den Kindern unterwegs nicht langweilig wird. Jetzt unter der warmen Frühlingssonne sind viele Seiten zu betrachten, enthüllen sich quasi bis an die Grenze des Schicklichen, und was noch bedeckt ist, wird nicht jugendfrei sein. Wie werden die ausufernden Tattoos in 30 Jahren aussehen, wenn das Buch ein bisschen aus dem Leim gegangen ist oder Knicke und Falten hat? Wird es dann Trend unter Jugendlichen: Horrorbilder bei Oma gucken? Ich bin dann glücklich tot.
Die jüngst gestiegenen Temperaturen gewähren wieder Blicke auf immer mehr nackte Haut, namentlich der Frauen. Ich hätte beinah „blanke Haut“ geschrieben, doch blanke Haut wird selten. Tätowierungen jeglicher Art verbreiten sich auf Körperflächen wie eine Sorte Fleckfieber mit Betonung auf Fleck. Wer verschandelt all die jungen Frauen? Wer beispielsweise bringt es über sich, ein entzückendes Dekolleté mit einem Verhau aus dreckigblauer Tinte zu versauen? Wenn ich früher ein weißes Blatt Zeichenkarton vor mir hatte, habe ich gedacht, dass kaum eine Zeichnung mithalten kann mit der makellosen Weiße des Blattes. Um zu rechtfertigen, diese Makellosigkeit zu verändern, musst du schon gute Gründe haben und dich sehr anstrengen. Will sagen: Ich könnte das nicht. Ein schönes Dekolleté mit einem Flechtwerkornament zu überziehen, brächte ich nicht übers Herz. Du musst doch das Gemüt eines Fleischerhunds haben, um das zu können. So einen habe ich mal getroffen. Er sah ganz harmlos aus, wirkte nur ein bisschen unbedarft. Ich hatte ihn nach dem Weg gefragt, und er lief leer wie ein angestochenes Fass. Er käme von einem Photoshop-Kursus, denn er wolle im nahen Barsinghausen ein Tattoo-Studio eröffnen. Ich fragte zweifelnd, ob es denn in Barsinghausen genug potentielle Kunden gäbe, dachte an entwurzelte, orientierungslose Menschen, die man doch eher in den Städten antrifft, aber er war zuversichtlich. Er teilte mit, dass wir übrigens am Anwesen der von Knigges stünden. Die alte Baronin wäre schon hundert und lebe noch. Auch lebe der Ex-Pornostar Theresa Orlowski im Ort. So wie die Zeit dieser Damen lange schon vorbei ist, dachte ich, dass auch das Interesse an Tätowierungen dabei wäre abzuebben und sah schwarz für seine Zukunft. Offensichtlich hatte ich mich vertan, denn der Zenit war noch lange nicht erreicht. Die Tattooflut hat durch die Pornofizierung der Alltagskultur erst richtig an Kraft gewonnen, sich inzwischen zum Tsunami aufgetürmt und überschwemmt gnadenlos alles, was an junger Haut nachwächst.
Letztens dachte ich, dass manche Körper inzwischen so bebildert sind, dass man anbauen müsste, um noch weitere Bilder hinzuzufügen. Aber der Platz auf menschlichen Körpern ist nun mal endlich, zumal nicht alles in der Öffentlichkeit gezeigt werden darf. Jetzt zu meiner Erfindung:
Die Lösung wären animierte Gifs. Das wäre quasi der letzte Schrei. Der Gif-Interpreter-Chip könnte in ein Armband eingebaut sein. Die Herzschläge gäben den Takt, wobei der Bildwechsel beliebig nach 3, 5, 8 , 13 oder 21 Herzschlägen erfolgen würde. Die Fibonacci-Folge wäre nicht erforderlich, sondern soll nur ein bisschen verschleiern, dass es sich bei den tätowierten Gifs um die irrwitzigsten Zuckungen der Prollkultur handelt. Der Takt könnte natürlich auch frei programmiert, also unabhängig von eventuellen Körperfunktionen sein. Also: Photoshop beherrschen die Tätowierer schon, jetzt müssten nur noch Pigmente her, die ihre Farbe wechseln können. Da würden sich am besten winzige Leuchtdioden (LED) eignen. Die, direkt unter die Haut platziert, sollten die Dekolletés der Damen ordentlich zum Flackern bringen. Das werden wir bald zu sehen kriegen. Aber ich habe es als erster beschrieben und ins Bild gesetzt. Solange die kleinsten Leuchtdioden etwa den Durchmesser von einen halben Millimeter habe, sind nur relativ grobe Darstellungen wie im Gif möglich.
Schöner Nebeneffekt: Leichtdioden haben nur eine begrenzte Lebensdauer, so das die Tattoos irgendwann verlöschen. Am besten noch vor dem Ableben der Tattooträger. Denn es wäre doch zu makaber, eine blinkende Leiche zu begraben.