Heraus zum 1 Mai! Von wegen

„Hannovers Rathaus gehört den Hannoveranern“ (Kurt Schwitters, Fotomontage Jvdl).

Es muss am 1. Mai 2011 gewesen sein. Weil ich nichts Besseres zu tun hatte, bin ich zur Limmerstraße gegangen, wo sich ein Demonstrationszug zum Sternmarsch formierte. Ich reihte mich ein und geriet in eine Gruppe, die „Hoch die internationale Solidarität!“ skandierte. Einer mit Megafon gab’s vor. Ich dachte, die internationale Solidarität kann ja nichts schaden und stimmte in den Sprechchor ein, obwohl etwaige internationale Unsolidarität mein geringstes Problem war. Lieber hätte ich wie Kurt Schwitters gefordert, „Hannovers Rathaus gehört den Hannoveranern“, weil’s lokalen Bezug hatte. Im Zentrum versammelten sich alle Demonstrationszüge und wir hörten Vorträge.

Hernach bummelte ich auf eigene Hand, hübsch durch den frischgrünen Georgengarten, über die friedlich dahinziehende Leine hinweg durch das sonnige Linden-Nord nach Hause. Zufrieden dachte ich, meine staatsbürgerliche Pflicht erfüllt zu haben und war auch noch ein gutes Stück gelaufen. Da näherte sich mein Unheil. Weiterlesen

Eisenherz ist da – die elektrische Zahnbürste fehlt noch

Freitag Morgen lag auf meinen frisch abgezogenen Dielen ein Fetzen, den ich zunächst als Erscheinung im Holz angesehen habe. Doch aus der Nähe entpuppte sich der Fetzen als Rest des Umschlags eines Comicheftes. Obwohl nur das Fragment einer Hand zu sehen ist, erkannte ich an Farbgebung und Druck sofort, woher der Fetzen stammte, konnte mir jedoch nicht erklären, wie er den Weg auf den Dielenboden gefunden hatte. Zudem fiel mir ein, dass ich das dazugehörige Buch lange nicht gesehen hatte. Zumindest hätte ich es einmal in der Hand haben müssen, als ich mein Bücherregal einräumte. In der Bücherwand fand ich das Buch erwartungsgemäß nicht. Wo ist es hingekommen?

Versuch einer Rekonstruktion:
Ich muss etwa zehn Jahre gewesen sein, da schenkte der Freund meines älteren Bruders, es war vermutlich der dicke Kalckmann, uns fünf etwa DIN-A4 große Comichefte der Serie „Prinz Eisenherz“, die Bände eins bis sieben. Ich war begeistert von den präzis gezeichneten, historisch genauen Panels. Der Zeichner war der US/kanadische Comicautor Hal Foster (1892 – 1982). Ursprünglich als ganzseitige Zeitungs-Sonntagsbeilage konzipiert, erschien ab 1937 wöchentlich nur eine Folge. Als Foster im Alter von 78 Jahren mit der Arbeit aufhörte, hatte er 1.788 Seiten Prinz Eisenherz gezeichnet und getextet. Prinz Eisenherz ist nach klassischer Definition kein Comic, weil die Texte nicht in Sprechblasen stehen. Die Geschichte wird unter den Bildern erzählt.

Prinz Eisenherz (im englischen Original „Prince Valiant“) ist demnach eine Bildgeschichte. Als deren Vorform gilt der Teppich von Bayeux aus dem frühen Mittelalter. Auf 68 Metern wird in 58 Bildfolgen und beigefügten Spruchbändern die Eroberung Englands durch den Normannenherzog Wilhelm der Eroberer dargestellt. Ursprünglich muss der gestickte Tuchstreifen noch länger gewesen sein, denn wichtige Schlussszenen fehlen. Bei Wikipedia ist das eindrucksvolle Kulturgut in der erhaltenen Länge zu sehen.

Zurück zu meinen Prinz-Eisenherz-Heften. Vor längerer Zeit waren die kartonierten Umschläge schon ziemlich unansehnlich. Im „Wahn“ habe ich Hefte herausgelöst und recht unschön zu einem Buch gebunden. Ich habe die wohl in den 1950-er Jahren im Badischen Verlag erschienen Hefte immer sorgfältig verwahrt, kann mir ihr Verschwinden also nicht erklären. Nach meinem Umzug suche ich manche Dinge immer noch, muss herausfinden, wo einer der vielen Helferinnen und Helfern sie hingepackt hat. Heute suchte ich meine elektrische Zahnbürste und fand in einer Schublade – Prinz Eisenherz. Welche Freude. Ich werde die Hefte von der Nachbarin meiner Freundin schön binden lassen.

Zu dick für Ruinen – Ausflug in die Literaturgeschichte

Mir hat einmal die schlanke Konfektionsgröße 98 gepasst. Mit den Jahren bin ich herausgewachsen. Genauso kann man auch aus Büchern herauswachsen. Eben brachte mir ein Bote die Werkausgabe von Herbert Rosendorfers „Der Ruinenbaumeister.“ Dieses Buch hat mich begeistert, als ich noch Hosen und Jacketts in Konfektionsgröße 98 trug. Es war die Zeit meines Studiums. Unser Kunstprofessor war ein Verehrer phantastischer Literatur. Wie er behauptete, war der französische Schriftsteller Raymond Roussel ein entfernter Großonkel gewesen. Roussels phantastischer Roman Locus Solus gilt als eine Vorwegnahme der Pataphysik und des Surrealismus.

Raymond Roussell hat mit Locus Solus zudem die experimentelle Literatur der Autorengruppe Oulipo beeinflusst und unseren Professor infiziert. Blutsverwandtschaft eben. Diese Vorliebe gab er an mich und Freund Nebenmann weiter, offenbar intravinös mit dem Gartenschlauch, denn wie ich erst über Jahrzehnte allmählich aus Konfektionsgröße 98 herausgewachsen bin, blieb ich noch lange der phantastischen Literatur treu.

Nebenmann und ich hatten uns nach dem Studium aus den Augen verloren, und als ich ihn 20 Jahre später besuchte, stand er auf einem Gerüst und werkelte an seinem Haus, das er während des Studiums mit eigenen Händen errichtet hatte, grad so, wie er Geld für Baumaterial auftreiben konnte. Mit der Maurerkelle in der Hand sah Nebenmann auf mich herab, ich voller Staunen über sein noch immer unfertiges Werk, sah zu ihm hinauf, und wie aus einem Mund sagten wir: „Ruinenbaumeister.“

Als mich letztens Freund Leisetöne in der neuen Wohnung besuchte, kam die Rede wieder auf den Ruinenbaumeister, obwohl hier fast alle baulichen Maßnahmen abgeschlossen sind. Ich bedauerte, das Buch nicht mehr zu besitzen. Am letzten Sonntag habe ich es bestellt, und das kam so: Unter meinen Büchern befindet sich eine hässlich eingebundene Raubkopie des Philobiblon, des Buches von der Bücherliebe aus dem Jahr 1344, geschrieben vom Bischof von Durham, Richard de Bury. Kürzlich lernte ich eine Buchbinderin kennen, die ihr Handwerk in der Nachbarschaft meiner Lebensgefährtin betreibt. Die Nachbarin wollte ich beauftragen, mir die Raubkopie ordentlich zu binden. Das wurde vereitelt, weil sie sich mit Corona angesteckt hatte. Aber ich wollte die Raubkopie nicht mehr ins Bücherregal stellen, recherchierte im Netz, fand das Buch, bestellte es und den Ruinenbaumeister gleich mit.

Der kam heute. Ich las und las und war noch auf Seite 104 ein wenig enttäuscht. Vermutlich bin ich für die Literatur aus der Hungerleidenszeit meines Studiums einfach zu dick geworden.

Lob des Unnötigen

In der sonst leeren neuen Küche saßen wir am Esstisch und frühstückten. Bei der Einrichtung müsse man die üblichen Laufwege bedenken, sagte meine Partnerin. Ihre Nachbarin, die beste Köchin in der Straße, habe ihre Küche erstaunlich unpraktisch geordnet, beispielsweise habe sie selten genutzte Küchengeräte direkt vorm Bauch. „Vieles im Leben ist unpraktisch geordnet“, sagte ich und hätte noch hinzufügen wollen, dass es ja das Geschäft der Anfang der 1970-er scharenweise ins Land eingefallenen REFA-Fachleute gewesen wäre, Menschen bei ihrer Arbeit zu beobachten, die Zeiten zu messen, Handgriffe zu notieren und Arbeitsabläufe zu optimieren.
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Aber das Thema ist größer als meine neu einzurichtende Küche, und so lief unser Gespräch in eine andere Richtung. Ich habe diese REFA-Leute und ihre Arbeit gehasst. Sie brachten Härte ins Arbeitsleben, ließen unnötige Handgriffe und Aktivitäten verschwinden, was dazu führte, dass beispielsweise eine Reinigungskraft, nachdem die Abläufe ihrer Tätigkeit optimiert waren, in der gleichen Zeit statt drei nun fünf Räume zu reinigen hatte. Als Schriftsetzer musste ich plötzlich Arbeitszettel ausfüllen, und zwar meine Arbeitsleistung in Sechsminutenintervallen dokumentieren. Weil ich gerne versonnen über den zu setzenden Texten stand, fehlte mir am Ende des Arbeitstags was, und ich musste die vertrödelte Zeit auf die geschafften Arbeiten verteilen.
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Bücher und Sachen zu Weihnachten

Eigentlich wollte ich ja vor die Tür gehen. Da brachte der Paketmann zwei Bücher, „Das Ächzen der Dinge“, ein Buch von mir selbst, das ich verschenken will, und eins von Blogfreund Manfred Voita, „Ich mit fremden Federn“, das ich mir selbst geschenkt habe. Ich las Manfreds erste und letzte Geschichte, weil das in einer Anthologie meistens die besten Stücke sind, schaute auf die Uhr und fand, dass es schon spät war. Dann verlockte mich der letzte „Handgemachte Nürnberger Elisenlebkuchen“. Freund Ernst-Christian Dümmler (CD), der Layouter meines Buches, hatte mir eine Tüte mit 600 Gramm Lebkuchen geschickt und geschrieben: „Man kann ja nicht immer Printen essen.“

Der Elisenlebkuchen war sehr lecker, mindestens so lecker wie der Erste gewesen war. Inzwischen sagte der Prokrastinist in mir, ich könne das Hinausgehen getrost auf morgen verschieben. Am ausdauernden heimeligen Rauschen der Heizung wäre schließlich abzulesen, dass es draußen lausig kalt ist. Na gut, dachte ich, ich bin ja mein eigener Herr. Dieser Herr aber erspähte oben am Nachbarhaus etwas Sonnenschein und mahnte, aus Gründen wäre es besser, jetzt doch noch vor die Tür zu gehen. Wenn da zwei in mir zu diskutieren anfangen, das kann dauern, bis der letzte Rest Sonnenschein an der Hauswand oben verschwunden sein wird. Ich gehe ja ohnehin, wenn überhaupt, nicht die Fassade hoch, sondern durch Häuserschluchten, wenngleich der Fassadenbummel eine hübsche Idee wäre. Doch ich bin nicht schwindelfrei.

Am Morgen hatte ich schon gecancelt, mit dem Rad zum Künstlerbedarfsgeschäft zu fahren. Meine Aachener Enkel haben gerade das analoge Zeichnen für sich entdeckt. Der Kleine wünscht sich ein DIN-A4 Skizzenbuch mit etwas dickerem Papier. Seine große Schwester würde sich über ein Buch zum Zeichnen von Menschen/Gesichtern freuen. Das Geschäft liegt von mir aus gesehen hinter dem Lindener Berg. Der erhebt sich stattliche 35 Meter über das Stadtgebiet von Hannover auf erschreckende 89 Meter über dem Meeresspiegel. Mich schreckte der Gedanke, ihn mit dem Rad zu überqueren. Allerdings bleibt die Straße etwas unterhalb seiner gewiss völlig vereisten Kuppe. Und ich weiß auch nicht genau, ob man da ohne Sauerstoffmaske auskommt.

Als ich neu in Hannover war, lernte ich, dass man nicht einfach in dieses örtliche Fachgeschäft für Künstlerbedarf treten kann, um beispielsweise einen Radiergummi zu kaufen. Es reicht auch nicht zu sagen, man wäre extra mit dem Rad über den steilen Lindener Berg gefahren, hätte also erhebliche Mühen auf sich genommen und den mannigfaltigen Gefahren auf vereisten Radwegen getrotzt, denn die exklusiven Radiergummis würden auch jenseits des Berges gerühmt. Nein, ich musste Mitglied werden, und musste auf einem Anmeldeformular glaubhaft beurkunden, dass ich entweder Künstler bin, Kunststudent, Grafik-Designer, Kunstdozent oder sonst ein Papierbeknüsler.

In diesem Laden wollte ich eigentlich einkaufen, weil ich nach Kräften unterstützen will, dass meine Enkel das iPad zur Seite legen und das ehrliche Handwerk des Zeichnens anstreben. Bin aber nicht vor die Tür gekommen. Die Sonne oben am Nachbarhaus ist inzwischen auch weg. Schade.

Hinterm Fenster

Als er sich im Jahr 1911 in Paris aufhielt, schuf der italienische Maler Umberto Boccioni ein wichtiges Werk des Futurismus: La strada entra nella casa (Die Straße dringt ins Haus). Boccioni schreibt selbst, was er im Bild darstellen wollte: „(…) das sonnendurchflimmerte Gesumm der Straße (…) Gleichzeitigkeit der Atmosphäre, folglich Ortsveränderung und Zergliederung der Gegenstände, Zerstreuung und Ineinanderübergreifen der Einzelheiten, die von der laufenden Logik befreit, eine von der anderen unabhängig sind.“
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Ich bin kein Futurist, will das alles nicht, preise auch nicht den Lärm und scheue beim Schreiben vor allem die „Zerstreuung“ und das „Ineinanderübergreifen der Einzelheiten.“ Niemals könnte ich bei offenem Fenster schreiben. Ebenso kann ich nicht in Ruhe schreiben, wenn mein Rechner mit dem Internet verbunden ist. Auch bei geschlossenem Browser habe ich das Gefühl, am offenen Fenster zu sitzen, und aus dem weltumspannenden Internet brandet der Lärm in meine Stube und wird übergriffig.

Einst träumte ich, in einem Dorf an der Mosel in einem Bäckereicafé zu sitzen. Direkt hinter den Fenstern schossen grünlich die Fluten der Mosel vorbei, und die Wogen gingen so hoch, dass ich unter der Wasseroberfläche saß, nur geschützt durch das Fensterglas. Das Wasser war klar und durchscheinend, aber die Wogen aus dem Internet sind es nicht. Also will ich sie fern hinterm Deich, wenn ich in meiner weltlichen Kontemplation da sitze und schreibe.

Erst wenn der Text für mein Blog fertig ist, stelle ich die Internetverbindung her, bleibe aber auf vertrauten Wegen, rufe mein Blog auf und kopiere den Text in die Editormaske. Die Veröffentlichung ist wie ein Anstechen der Wogen. Sie verlieren dann ihre Oberflächenspannug und fließen als Like oder Kommentar in meine Stube. Dieser geordnete Zustrom ist gut und gewollt, aber außerhalb der Community finde ich das Netz immer bedrohlicher und versuche es fernzuhalten, wo es geht.

Huhu! Wir sinds, die Menschen!

Aus einem offenen Fenster schallte eine Opernarie auf die Straße, derweil ich vorbeischlenderte. Was da in mir mehr weiß als ich, sagte: „Aha, Edda Moser.“ Da fiel mir ein, dass Edda Mosers Sopran nicht nur ganz unpassend als Straßenmusik ertönt, sondern auch auf vergoldeten Kupferplatten an Bord der interstellaren Raumkapseln Voyager I und II. Edda Moser ist zu hören mit einer Arie aus Mozarts Zauberflöte. Wenn das mal kein fataler Fehler ist, dachte ich, derweil ich weiter zur Bäckerei ging. Die Idee der interstellar reisenden Raumfähren mit ihren Botschaften „Huhu, wir sinds, die Menschen!“ geht ganz naiv davon aus, dass unbekannte außerirdische Empfänger sich über die menschliche Botschaft freuen.

Edda Mosers „vornehme“ Singmanier entfaltet ihren Zauber in einem Opernhaus. Schon aus einem leicht schäbigen Mietshaus auf eine hannoversche Nebenstraße geworfen, wirkt sie befremdlich. Eventuell wird Edda Mosers Gesang in einem fernen interstellaren Winkel als feindlicher Akt empfunden. Edda Moser singt, und Aliens wälzen sich mit blutenden Ohren am Boden, verfallen dem Wahn und müssen daran gehindert werden, sich selbst zu entleiben, bis dem dunklen Herrscher des Galaktischen Imperiums der Kragen platzt und er seinem Todesstern befiehlt, die Erde aufzusuchen und zu pulverisieren.

Mein besseres Ich mahnt, was teilst du hier gegen Edda Moser aus? Du verstehst doch gar nichts von klassischer Musik. Na, wenn schon! Sie versteht ja auch nichts von Sprache. Trotzdem geriert sie sich seit Jahren als Sprachpflegerin und durfte in der FAZ behaupten: „Unsere Sprache ist im Begriff, wie ein krankes Tier zu verenden.“ Nun ist aber Sprache kein Tier, sondern eine demokratische Angelegenheit, an der alle teilhaben wie an einem großen Wasserkunstwerk, das über Pipelines und kommunizierende Röhren mit jedem Haushalt verbunden ist, sogar mit den Straßen und Plätzen. Eine derart lebendige Sprache hat natürlich Erscheinungen, die man in Kreisen der Feinschmecker, Kulturschranzen und Pudernasen degoutant finden mag.

Als Edda Mosers Stimme hinter mir versank, dachte ich, erst wenn sie den Schmäh vom „kranken Tier“ zurücknimmt, nehme ich den Todesstern zurück.

Gestörte Briefzustellung

Komplizierte Welt. Ich möchte unter Mitzi Irsajs Text „Nichts hinterfragen“ kommentieren und darf nicht. Als ich den Kommentar absenden will, poppt eine Anmeldemaske auf und die Nachricht, ich wäre unter meinem Namen nicht angemeldet. Ich bins aber, sonst könnte ich ja hier nichts veröffentlichen. All meine Versuche, werden nicht akzeptiert, bis ich ganz rausgeschmissen werde, weil ich die Anzahl der Versuche überschritten hätte. Der Kommentar ist natürlich auch weg. Zwar habe ich ihn vorsorglich in der Zwischenablage gespeichert, doch von da flutschte er in den digitalen Orkus. Mitzi wird denken, jetzt habe ich so einen klugen Text über Glücksmomente geschrieben, und der Klotz kommentiert nicht.

Dabei achten wir gegenseitig darauf, die Aufmerksamkeit zwischen uns zu bewahren. Es ist eine Kommunikationsstörung, für die ich nichts kann. Ich weiß nicht, wie viele Sozialbeziehungen an derlei Kommunikationsstörungen kranken. Mir fällt der Fall der Frau ein, die aus Kummer und Enttäuschung mit 18 Jahren ins Kloster eingetreten ist, weil ein sehnlichst erwarteter Brief ihres Liebsten ausblieb. Als man nach 50 Jahren das Postgebäude abriss, fand man den Brief zwischen den Dielenbrettern, wo er wohl hingerutscht war. Da war es der Nonne auch egal. Sie hatte ihr Glück anderweitig gefunden.

Wenn Technik im Spiel ist, muss man immer mit Kommunikationsstörungen rechnen. Sogar die Sprache ist so etwas wie ein technisches Hilfsmittel der Verständigung. Natürlich darf man mit dem Wort Technik keinen Stabilbaukasten assoziieren, sondern es geht um die Kenntnis von Verfahrensweisen und die Fähigkeit sich derer zu bedienen. Mit Sprache versucht der Mensch seine komplexe Erlebnis- und Gefühlswelt für andere nachvollziehbar zu übersetzen. Da er sich nicht mal mit der eigenen Erlebnis- und Gefühlswelt richtig auskennt, gelingt ihm die Übersetzung nur unzureichend. Dauernd rutschen ihm Briefe in Dielenritzen. Und fingert man sie hervor, sind sie in Teilen unleserlich und missverständlich. Kompliziert, sag‘ ich doch.

Von der Erschließung des Unbekannten

Mein Zug rollte in den schäbigen Bahnhof. Am Bahnsteig einige Hinweisschilder. Ich hatte Zeit, sie zu lesen und dachte, dass derlei Hinweisschilder auf einem menschenleeren Bahnhof dem ortsunkundigen Reisenden zwar Orientierung bieten, aber in unserer Zeit eigentlich Ausdruck sozialer Verwahrlosung sind. Doch es kommt auf den Kontext an. Anderorts sind Wegweiser eine soziale Errungenschaft. Jeder verirrte Wanderer dürfte innerlich jubeln, wenn er an einer einsamen Kreuzung von Waldwegen einen Wegweiser entdeckt, diesen stilisierten Arm mit zeigender Hand. Über die kulturelle und soziale Funktion von Wegweisern gilt es nachzudenken:

Als die Menschen noch nicht sinnlos reisten, kam es nur auf die Handelswege an. Soweit sie nicht über Flüsse, sondern über Land gingen, orientierte man sich an den Spuren der Vorgänger. In Europa werden das alte Römerstraßen gewesen sein, die wegen ihrer Gradlinigkeit geschätzt wurden. Die Kenntnis abseitiger Wege wird ein Wissen gewesen sein, das gehütet und vererbt wurde. In unruhigen Zeiten, wenn feindliche Heere oder marodierende Horden über Land zogen, wird man aus Sicherheitsgründen keine Wegweiser aufgestellt haben.

Außer Kriegsherrn und Händlern benötigte noch das Fahrende Volk Kenntnis der gangbaren Routen. Dieser Teil der Bevölkerung, im 18. Jahrhundert fünf bis zehn Prozent, musste unter anderem wissen, wo die sicheren Bleiben, die sogenannten „Kochemer Dörfer“ zu finden waren. Man tauschte die Informationen mit Gaunerzinken auf handgezeichneten Karten aus.
Das Wort „Kunde“, in der frühneuhochdeutschen Bedeutung „Bekannter, Vertrauter“ benennt in der Gaunersprache, dem Rotwelschen, einen „Fahrender, der eine Gegend zum 2. Mal bereist hat“, oft über geheime Pfade, die nur die Fahrenden kannten.

Napoleon ließ die besetzten Gebiete erstmals genau vermessen und kartographieren. Wie berichtet, hatte der preußische Staat nach dem Abzug der Besatzung wenig Interesse an der Kartographierung und ließ sie nicht mehr aktualisieren. Kartenwerk ist Herrschaftswissen, Kartenwerk in Feindeshand ist Fernkommunikation ohne Firewall. Wegweiser gehören demnach nur in sichere Zeiten und demokratisierte Gesellschaften. Vermutlich hat aber erst das Aufkommen des Autoverkehrs eine Ausschilderung der Gegenden nötig gemacht. Wegweiser abseits der Fahrstraßen wurden erst erforderlich, als der Tourismus begann. [Im Bild: Karte meiner Heimatumgebung aus der Zeit Napoleons]

Was ist jetzt so schäbig an Hinweisschildern auf einem menschenleeren Bahnhof? Sie ersetzen den menschlichen Rat, den Arm des Menschen, der einen Weg weist. Da wären Menschen genug, diese Aufgabe zu übernehmen. Einst haben solche Menschen bei der Deutschen Bahn ihren Dienst getan. Ein hilfsbereiter Schalterbeamter mit Dienstmütze gehört so weit in die Vergangenheit, dass die Rechtschreibprüfung meines Schreibprogramms, ihn rot unterkringelt. Man wird die Aufgabe eines Schalterbeamten nicht verlockend finden. Denn in der langen Wartezeit zwischen den Zügen, die einen entlegenen Haltepunkt anfahren, würde er nur tatenlos herumsitzen. Da ist es ökonomischer, ihn wegzurationalisieren. Tatenlos herumsitzen kann er auch zu Hause. Dann kostet er nur noch wenig.

Unter ökonomischen Gesichtspunkten verbietet sich ebenfalls eine leere Bahn, die stoisch nach Fahrplan fährt, obwohl zu später Stunde niemand einsteigen will. Beides, der hilfsbereite Bahnbeamte, der kaum je gefragt ist und die leere Bahn gehören zu dem, was ich „soziale Redundanz“ nennen möchte. Je mehr soziale Redundanz eine Gesellschaft hat, desto liebenswürdiger ist sie. Als die Deutsche Bahn die Fahrkartenautomaten einführte, stellte man ihnen bald Menschen an die Seite, die den überforderten Kunden bei der Bedienung halfen. So ein Automatenguide ist ebenfalls Ausdruck der sozialen Verwahrlosung, aber eine perfidere Spielart, der Mensch als Dienstbote einer Maschine.

Die Archivare des Entlegenen

Wer genötigt ist, einen Artikel für eine große Zeitung zu schreiben, dem stellt deren Dokumentationsabteilung eine Mappe mit Artikeln zusammen, die zu diesem Thema bereits erschienen sind. Die gilt es zu sichten und beim Schreiben auswertend heranzuziehen. Beim Denken scheint es mir ähnlich zu sein. Man hat ein Thema gewählt, und sogleich eilen willfährige Archivhelfer umher und sammeln ein, was im eigenen Kopf über das Thema zu finden ist. Besonders lieb sind mir jene, die etwas Entlegenes anschleppen, egal, ob es zu gebrauchen ist. Es darf auch verstaubt sein oder nur noch in Fetzen vorliegen wie ein Jahrhunderte Jahre altes Schriftstück.

Möglicherweise regt es ja Gedanken an, auf die man sonst nicht gekommen wäre. Darum ist es ratsam, in der Sammelphase offen zu sein und nicht etwas sofort zu verwerfen, nur weil es auf den ersten Blick unnütz erscheint.

Man darf nämlich die Archivare des Entlegenen nicht vor den Kopf stoßen. Lässt man sie gleichberechtigt hantieren, stärkt das ihr Selbstbewusstsein und fördert ihren Arbeitswillen. Ich habe mich Zeit meines Lebens für das Entlegene interessiert, auch und besonders in den Jahrzehnten der Forschung zum Thema „Buchkultur.“ Heraus kam ein Werk, das die Gegenstände und Phänomene durchaus plausibel beschreibt, quasi von ihren Grenzbereichen her.

Geht es denn hier noch weiter im Text? Leider ist den Archivaren zu warm, und das Entlegene herbeizuschaffen, ist ihnen heute zu mühsam. Man wird sich gedulden müssen.