Die Dinge des Lebens (2) – Sandkastenblues

Eine Frau im roten Mantel schiebt ihr Fahrrad mit Kindersitz auf den Spielplatz, hinter ihr her trottet ein kleiner Junge. Obwohl noch alles feucht ist vom nächtlichen Regen setzt sie sich auf die hölzerne Einfassung des Sandkasten und spielt mit dem Kleinen, bleibt dort länger als eine Stunde. Wie sie vorgebeugt sitzt und versonnen im Sand spielt, ist sie von großer Traurigkeit umweht. Ein Kinderspielplatz weckt die Erinnerung an unbeschwerte Zeiten. Das Unbeschwerte scheint sie zu suchen und will sie ihrem Kind vermitteln, vielleicht um eine unschöne Erfahrung zu heilen? Ich ahne eine Geschichte von häuslichem Streit und Hader.

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Auf der Einmündung der Bardowicker Straße direkt bei der Unterführung des Schnellwegs. Hinter mir ein lautes, hässliches Schleifen. Ein Mann auf einem Fahrrad überholt mich und hält an, betrachtet machtlos die immense Stapel von Umsonstzeitungen, die hier unter der Brücke abgeladen sind. Er packt sich einen Stapel aufs Fahrrad. Das Schleifen wird von völlig abgeriebenen Bremsklötzen stammen, die Riefen in die Felge geritzt haben. Da zeigt sich versteckte Armut.
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Im Real-Supermarkt rangieren zwei Angestellte im roten Kittel mit Hubwägen durch die Selbstzahler-Kassenschleuse. Nur hier ist Platz genug für die Ladung, zwei riesige Flachbildschirme im Karton. Hinterher druckst der Käufer.
„Hoho! Stereo!“, ruft jemand. Ich stelle mir die Wohnung vor mit zwei Flachbildschirmen, groß wie Betttücher an den Wänden, und darauf läuft das Programm von RTL II.
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Vergebliche Mail:

    Lieber Nachdenkseiten-Redaktion,

    seit längerem lese ich die Nachdenkseiten und mache mir eigene Gedanken. Einer davon ist der Gedanke, dass mich euer Motto neuerdings stört. Es hat wohl nicht immer im Kopf der Seite gestanden: „Für alle, die sich noch eigene Gedanken machen.“ Dieses resignative „noch“ enthält vielleicht aus eurer Sicht den gesellschaftlichen Befund, die eigenen Gedanken wären eine bedrohte Art, deren Hirten sich wie ein Häuflein Aufrechter just um die Nachdenkseiten versammelt und gemeinsam singend dem Heranstürmen eines gedanklichen Mainstreams zu trotzen versuchen. Aber ach, sie können sich kaum noch halten! In diese ulkige Gesellschaft mag ich mich nicht begeben. Meine eigenen Gedanken waren noch nie und sind auch in Zukunft nicht in Gefahr. Könntet ihr euch vielleicht zu einer optimistischen Geste durchringen und dieses „noch“ einfach streichen? „Für alle, die sich eigene Gedanken machen“ ist sparsamer und hübscher.

    Viele Grüße
    Jules van der Ley

Die Dinge des Lebens – Ich kaufe den letzten Holzleim

Die Fenster des Busses sind von außen mit einem Werbeposter beklebt. Es ist von innen fast transparent, bewirkt aber einen Spiegeleffekt. Ich sitze mit dem Rücken zur Fahrtrichtung und sehe in das schöne Gesicht einer jungen Frau. Sie telefoniert lächelnd und hat sich dabei zum Fenster gewandt. Ihr Gesicht spiegelt sich, so dass es wirkt, als würde sie mit sich selbst telefonieren.
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Im gut sortierten Schreibwarengeschäft, geführt von Vater und Sohn, frage ich den freundlichen Alten nach Holzleim. Er geht in einen Nebenraum und kommt zurück mit einer Flasche Ponal. „Jetzt kann alles wieder gerichtet werden“, sagt er. Ich verschweige ihm, dass ich eine Schublade kleben muss, deren Inhalt aus mir wichtigen Papierartefakten meiner kreativen Vergangenheit besteht. Als ich den Schreibwarenladen verlasse, höre ich ihn zum Sohn sagen: „Wir müssen neues Ponal bestellen.“ Schön, wenn die Warenhaltung noch durch Augenschein und mündliche Nachricht organisiert wird und nicht durch einen frigiden RFID-Code.
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Aus dem türkischen Supermarkt an der Limmerstraße weht türkische Musik. Mich überholt ein groß gewachsener weißhaariger Mann und sagt im Vorbeigehen etwas Despektierliches über seine Schulter weg. Einige Schritte darauf erneut. Ich scheine gemeint zu sein und sage:
„Was reden Sie da?“
„Türkische Musik in Deutschland!“, sagt er verächtlich.
„Das ist ein türkischer Laden, da passt es doch.“
Er antwortet nicht, sondern eilt davon. Ich denke: „Du Depp, hier am unteren Ende der Limmerstraße solltest du dich an türkische Mitbürger längst gewöhnt haben.“ Alt genug ist er auch. Das Alter bringt nicht nur körperliche Einschränkungen, sondern manchmal auch geistige Beschränktheit. Mir ist peinlich, dass er dachte, ich würde ihm beipflichten.
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Eine gute Freundin, sandte mir die Fotografie eines kurzen Textes von Friedrich Karl Waechter. Die witzige Kurzgeschichte ist die genaue Beschreibung einer Cartoon-Bildserie, wie sie F.K. Waechter hätte zeichnen können, wenn er nicht im Jahr 1992 aufgehört hätte zu zeichnen. Den Grund erzählte mir einst sein Freund und Weggefährte Robert Gernhardt.
[Zum Lesen der Kurzgeschichte bitte klicken!]

Vor dem Gericht

Am Eingang des Amtsgerichts, dem Justizpalast aus Kaiser Wilhelms Zeiten, steht eine lange Menschenschlange bis auf den Bürgersteig. Vor mir ein junges Paar. Die blonde Frau trägt einen schwarzen Mantel. Genau zwischen ihren Schulterblättern ist die Naht ein wenig aufgeplatzt. Ich habe genügend Zeit, darüber nachzudenken, wie das wohl passiert sein mag, denn eine Weile geht es nicht voran. Ich weiß nicht, ob ich überhaupt richtig anstehe. Das Amtsgericht hat noch zwei Erweiterungsbauten, mit denen es auf der ersten Etage je durch eine verglaste Brücke verbunden ist. Ab und zu treffen Leute ein, die offenbar glauben, wir stünden wegen einer warmen Suppe vor dem klotzigen Gründerzeitgebäude an und nicht wegen so hoch wichtiger Sachverhalte, derentwegen sie gekommen sind. Oder sie vermuten, wir wären Mitglieder einer Sekte von perversen Schlangenstehern oder aber zu doof, uns vorzudrängen. Sie zwängen sich an der Schlange vorbei, kommen aber allesamt zurück und müssen sich notgedrungen und zu Recht beschämt hinten einreihen. Voran geht’s schubweise. Ich bin schon froh, die Außentreppe überwunden zu haben, doch komme genau in den offenen Eingang zu stehen, wo aus einem seitlichen Schlitz warme Luft strömt, offenbar als Barriere gegen die Kälte. Weiterlesen

Geschnarrt, geschellt und geklingelt

    Wenn, als ich jung war, geklingelt oder geklopft wurde, ward ich vergnügt, denn ich dachte, nun käme es. Jetzt, wenn es klopft, erschrecke ich, denn ich denke: “da kommt’s”
    (Arthur Schopenhauer, 1822)

Seit ich vor 12 Jahren meine Wohnung bezogen habe, erschreckte ich regelmäßig vor meiner Türklingel. Sie klingelte gar nicht, sondern gab einen heftig schnarrenden Ton von sich. „Schnarren“ trifft es auch nicht. Hättest du noch ein paar onomatopoetische Wörter bereit, dass ich den Klingelton wenigstens verbal konservieren kann? Warum? Gibt es nichts Wichtigeres auf der Welt als meine Türschnarre? Vielleicht. Wer will das entscheiden? Zumindest wäre ihr kurz nachzurufen, denn gestern wurde bei uns an der Haustür ein schickes neues Klingelbrett installiert. Im ganzen Haus bekamen wir neue Haustelefone mit Türöffner. Ich musste den Monteur in meiner Wohnung alleine lassen, denn ich hatte einen Termin. Als ich zurückkam, war das neue Teil an der Wand, so dass ich das alte nicht einmal hätte fotografieren können. Bevor ich ging, hatte mir der Elektriker noch die „Bedienungsanleitung für den Endkunden“ in die Hand gedrückt. Wieso „Endkunde?“ Früher wäre ich mit dieser Frage unruhig zu Bett gegangen und hätte schlecht geträumt von einem Endgegner oder so. Dank Internet konnte ich vor dem Schlafengehen die Antwort in einem Wirtschaftswiki lesen:

    „Endkunde ist der letzte Käufer bzw. Verwender eines Gutes. Da Käufer und Verwender auseinanderfallen können, zeigt sich wieder einmal, dass viele Begriffe im Marketing nicht eindeutig sind.“

Jaha! Uneindeutig. Ist halt BWL-Chinesisch. Aber kein Grund, mir das Auseinanderfallen nachzusagen. Unverschämtheit! Nochmal zurück. Alleweil ändert sich was, und wie es zuvor war, das versinkt sang- und klanglos im Orkus. Ich gestatte mir, daran zu erinnern, wie ich mal völlig unberechtigte Angst vor meiner Türschnarre hatte:

    Neun Uhr morgens. Unten auf der Ecke wartete ein Taxi. Ich schaute eine Weile hin, aber es kommt kein Fahrgast. Für einen Augenblick überlegte ich, ob ich ein Taxi bestellt hätte. Dann wunderte ich mich, dass ich, noch im Schlafanzug hinterm Fenster stehend, mir überhaupt eine derartige Frage stelle. Wie lange wird der Taxifahrer dort unten warten, bevor er ungeduldig wird, aussteigt und irgendwo Sturm klingelt, womöglich brutal meine Schelle presst, so dass ich mitmuss wie ich grad bin. Wo lasse ich mich hinfahren? Im Schlafanzug könnte ich mich höchstens auf der Limmerstraße zeigen. Da würde ich im Schlafanzug nicht auffallen. Allein die Durchgeknallten, die Lindener Sumpfblüten würden mich für ihresgleichen halten wie die Penner damals in Aachen, als ich in den Eingang ihres Sauftreffs gefallen bin.

    Da kam ich Abends mit dem Rad aus der Stadt, hatte was getrunken und kein Licht am Rad. Ich radelte die Trierer Straße hoch. Plötzlich überholte mich ein Polizeiauto. Damit sie mich nicht drankriegten, hielt ich an, wollte meinen rechten Fuß auf den Bordstein setzen, trat daneben und fiel der Länge nach in den zur Straße offenen Eingang einer Trinkhalle, wo sich die Berber des nahen Bahnhofs Rothe Erde trafen, um Bierflaschen und Jägermeisterfläschchen leerzulutschen.

    Ich fiel also in den Eingang und wurde von den anwesenden Pennern mit freundlichem „Hohoho!“ und „Hallohallo!“ begrüßt. Offenbar war das Hineinfallen die angemessene Weise, die Trinkhalle zu besuchen, und ich hatte mich schon im Sturz als einer der ihren qualifiziert.

    Aufgerappelt und nochmal zurück. Wieso kann ich mich fragen, Männer, ob ich ein Taxi bestellt habe, nur weil es vor dem Haus wartet? Wieso sagt mir die innere Gewissheit nicht, dass ich derlei nicht zu denken brauche? Zweifel an der Gewissheit sind ja nach Wittgenstein nur im Sprachspiel möglich.
    „Hoho, der feine Herr fährt Taxi und zitiert Wittgenstein!“
    „Hat nur den Schlafanzug am Hintern, aber lässt sich hochherrschaftlich kutschieren!“
    „Pah! Wittgenstein! Nach John Locke gründet zwar alle Erkenntnis auf Erfahrung, aber alle Gewissheit auf Intuition.“
    „Entschuldigt! Darüber muss ich erst in Ruhe nachdenken. Bis später dann!“

Upps, nochmal Glück gehabt. Und der Taxifahrer? Meine neue Klingel lässt sich abstellen. Soll er getrost meine Schelle pressen, ich hörs ja nicht, hehe.

Gekritzelt – Verräterische Pumps

Schuss nicht gehört
VW-Werbung im flämischen Radiosender Studio Brussel,
[übersetzt von mir]:
Er: Schatz, ich muss dir was erzählen.
Sie. Ja?
Ich habe einen Volkswagen gekauft.
Sie: Ohh!
Ja, und meine Mutter zieht bei uns ein,
Sie: Ein Volkswagen, das ist sooo schön!

Verlockend
Im Vorabendprogramm des NDR-Fernsehens wurde ein Werbeclip fürs Frühstücksradio gesendet. Eine Moderatorin kommt ins Bild und verkündet freudig: „Natürlich wird auch bei uns morgen früh das Corona-Virus Thema sein.“
Und ich: „Oja, darauf freue ich mich schon.“ (Guter Witz.)

Verräterische Pumps
Ein Familienvater macht eine Kneipentour. In einer Bar lernt er eine schöne Frau kennen. Nach heftigem Flirt beschließen sie, ein wenig mit seinem Auto zu fahren. Auf einem Waldplatz ergreift die Erregung von ihnen Besitz. Doch da stellt der Mann fest, dass er es mit einem Transvestiten zu tun hat. Er wirft ihn aus dem Auto und fährt frustriert nach Hause.
Am nächsten Tag macht die Familie einen Ausflug nach Köln. Die Schwiegermutter sitzt auch im Auto. Nach einem Bremsmanöver sieht der Mann, dass ein roter Damenschuh unter seinem Sitz hervorgerutscht ist. Zum Glück muss eines der Kinder mal. Er hält auf einem Rastplatz, und während alle beschäftigt sind, wirft er den Schuh heimlich in einen Mülleimer. Am Ziel steigen alle freudig aus, nur die Schwiegermutter nicht. Sie kriecht am Boden rum und ruft: „Ich verstehe das nicht! Eben habe ich meine Schuhe ausgezogen und jetzt ist einer weg!“ [Gehört auf Hilversum III]

Rosenmontagsblues

Vor acht Jahren verbrachte ich Karneval in München. Er heißt dort Fasching, aber man merkt nicht viel davon. Deshalb war der Lebensgefährte der Bäckereifachverkäuferin am Rosenmontag nach Köln geflogen, um sich in das Karnevalstreiben zu stürzen. Als ich am Dienstagmorgen Brötchen holte, hatte sie schlechte Laune. War er am Ende im Trubel versackt? Ich habe es nicht mehr erfahren, denn am Abend reiste ich zurück nach Hannover. Hier merkt man von Karneval gar nichts. Nur die Bäcker tun Konfetti auf die Berliner. Dass die aber auch immer gleich so ausflippen müssen.

Im Speiseraum eines Pflegeheims sitzt einer grübelnd über seinem Frühstück. Als ich zwei Stunden später vorbeikomme, sitzt er noch immer da. Man möchte singen „Drink doch eine met, stell dich nit esu ahn. Du sitz he de janze Zick eröm …“

Das letzte Mal war ich vor 20 Jahren zum Rosenmontag in Köln, und zwar in einer Kneipe im Severinsviertel, wo Köln am engsten und urigsten ist. Ich hatte mich mit meinem Bruder und seiner Frau getroffen. Man muss schon vor Beginn des Rosenmontagszugs eine Kneipe aufsuchen. Nachher ist jede Kneipe derart voll, dass man nicht mehr hineinkommt. In der Kneipe im Severinsviertel lernte ich einen Mann kennen, der eine Kalenderdruckerei hatte. Er ließ die Nase hängen, was aber nichts mit den Kalendern zu tun hatte, sondern mit seiner Frau. Jedenfalls war er nicht recht bei der Sache, was karnevalistische Fröhlichkeit betrifft. Er taute erst so richtig auf und wurde lebendig, als er mir von seinem Begräbnisverein erzählte.

„Wie kommt man darauf, einen Begräbnisverein zu gründen?“, habe ich gefragt.
„Wir haben uns gesagt, aus dem Alter, dass wir Hochzeiten und Kindstaufen feiern können, sind wir raus. Was jetzt noch kommt, sind Beerdigungen. Darum haben wir den Begräbnisverein gegründet.“
„Und was macht ihr so?“
„Wir besichtigen Friedhöfe, und letztens haben wir ein Krematorium besucht“, hat er gesagt und sein Kölsch gekippt. Und wie er sich so erinnert hat an die ganze Technik in einem Krematorium und dass nach der Leichenverbrennung in der Asche noch die Knochen rumliegen, da konnten ihm auch die Karnevalswagen vor den Kneipenfenstern die Laune nicht mehr verderben.
Ich will mich gar nicht über ihn lustig machen. Vielleicht fühlt man sich erst so richtig lebendig, wenn man das Thema Tod nicht verdrängt. Man kann ja eine Sache am besten genießen, wenn man das Gegenteil vor Augen hat. Wenn du zum Beispiel einen freien Tag hast, dann ist die Freude am größten, wenn du weißt, dass die anderen an deinem freien Tag arbeiten müssen.

Das kölsche Wort „rosen“ bedeutet „rasen“, „herumtollen“, „toben“. Es wird mit langem O gesprochen wie in Toast. Dieses „Rosen“ gab dem Rosenmontag den Namen. Das Verb „rosen“ mit „Rosen“ gleichzusetzen und in Analogie vom Veilchendienstag zu sprechen, ist demnach, was die Sprachwissenschaft Volksetymologie nennt. Das nur, damit hier keiner rösig wird.

Teestübchen Stilkritik – Verbales Topfschlagen

Tätowierer schlagen Alarm“, meldet der Kölner Express. Warum? Eine neue EU-Verordnung verbietet gesundheitsgefährdende Farben und will damit jene verirrten Existenzen schützen, die sich bunte Bilder in die Haut stechen lassen, was wiederum die Existenz von Tätowierern gefährdet. Teufel auch. Wie man’s macht, macht man’s … Moment! Die Grünen in Niedersachsen schlagen auch Alarm. Es droht eine (hihi) Grünkohlkrise. Au, verdammt! Erst das Corona-Virus und jetzt auch noch Grünkohl! Rollt sie an deutsche Grenzen zum Schutz gegen eine heranstürmende Schweinpest. Die Jäger schlagen Alarm. Sie stehen da auf verlorenem … Grünkohl lässt sich nicht gut rollen? … Das kann warten, denn auch „Krankenhäuser schlagen Alarm!“ Schrecklich. Man muss sich so ein Krankenhaus einmal vorstellen, wie es mit dem Kochlöffel den Nudeltopf bearbeitet, dass es nur so scheppert. Alarm! Alarm! Warum? Krankenhausärzte „ersticken in Bürokratie.“ Während unsere Ärzte lautstark verröcheln, hätten wir fast den Alarm um Schwarzwälder Schinken überhört. Steigende Schweinepreise verteuern den gut abgehangenen Schwarzwälder Schinken. Ob Jungen hier aushelfen können? Ach nein, die werden ja nur in der Schule abgehängt. Anwohner schlagen Alarm wegen Überschuss in Bad Aibling, ähem, Aschhofen. Man will da „Nicht noch mehr Puten!“ Grund: „Mangel an Erziehern droht.“ Der Mangel mal wieder. Alleweil bedroht er unschuldige Alarmrufer wie auch Naturschützer: „Langgöns Feldwege verschwinden.“ Mir doch egal, sagt die Generation Rücksichtslos. Die wird sich noch umsehen, wenn die Flugzeuge vom Himmel fallen. „Piloten schlagen Alarm.“ Wohl primär aus Eigennutz.

Ein unfassbares Getöse schlägt einem alleweil aus den Medien entgegen. Um jeden Quark wird Alarm geschlagen. Das Wort „Alarm“ ist mit „Lärm“ verwandt und wurde im 15. Jahrhundert aus dem italienischen „allarme“ entlehnt. Dort ist es ursprünglich aus „all‘ arme“ (zu den Waffen) hervorgegangen. Kein Wunder, dass die Leute nachts nicht mehr schlafen können.

Weil unsere Journaille das Schreiben ohne Denken liebt, befindet sich die Welt im dauerhaften Alarmzustand. Liebe Journalisten, bitte dieses Sprachkästlein nicht mehr öffnen. Es enthält dummes Zeug.

Schreibende Affen – Digitale Poeten

Vorsorglich versichere ich, dass ich folgenden Text im Jahre 2006, also vor 14 Jahren fürs Teppichhaus Trithemius verfasst habe und er nicht, wie böse Zungen behaupten, von einer Horde Affen an Schreibmaschinen durch wildes Herumhämmern auf den Tasten per Zufall erzeugt wurde. Er ist auch abgedruckt in „Buchkultur im Abendrot.“ Fürs Teestübchen habe ich ihn aktualisiert und mit den passenden Links zum probaten Liebesbrief- und SF-Horror-Plotgenerator versehen.

Pitter sitzt in der Küche am Tisch und malt. Der Vater kommt dazu und betrachtet die Zeichnung (zitiert nach einem Buch in Klevisch-Weselisch, das ist niederfränkisch):

    „Wat sall dat gäwen, wenn et ferdig ös?“
    „En Päärd, Vadder!“
    „Maar dat hätt jo bloß drei Been! Wo ös denn datt verde?“
    „Dat ös noch in den Inkpot, Vader!“

Pitter glaubt also, alles zu Zeichnende oder zu Schreibende befinde sich schon oder noch im Tintenfass. Die Vorstellung wirkt kindlich-naiv angesichts der schier unzähligen Vielfalt möglicher Zeichenspuren.

Doch wie verhält es sich bei den Buchstaben? Befinden sich alle Texte dieser Welt bereits in den Produktionskesseln der Suppenfirma, so dass man sie aus der Buchstabennudelsuppe herauslesen könnte? Man ist geneigt zu bestreiten, in einem Topf mit Buchstaben wären alle zu schreibenden Texte bereits enthalten. Wenn dem so wäre, dann müsste jeder Text auch auf mechanische Weise aus einem theoretisch unendlichen Buchstabensuppentopf hervorzuholen sein, also ohne kreativen Impuls.

Cicero fand die Idee der mechanischen Texterzeugung noch so abwegig, dass er damit die Theorie von der Erschaffung der geordneten Welt aus Atomen zu widerlegen suchte:

    „Derjenige, welcher Soartiges für möglich hält, müsste ebenso glauben, dass, wenn man unzählige Formen der 21 Buchstaben des Alphabets auf die Erde schütte, (…), die Annalen des Ennius daraus entstehen könnten.“

Spätestens im Barock denkt man anders darüber. So errechnet Leibniz die Anzahl der möglichen Kombinationen von 24 (* Buchstaben des Alphabets mit 620.448.401.733.239.439.360.000. Die Zahl weist die Summe aller Inhalte aus, die sich mit unserem Alphabet ausdrücken lassen. (* K und C sowie I und J gelten noch als jeweils ein Buchstabe.)

Ließe man einen Computer die entsprechenden Permutationen durchführen, also eine einfache Buchstabenvertauschung vornehmen, müssten nicht nur die Annalen des Ennius dabei herauskommen, sondern auch dieser Text hier und alle Kommentare dazu sowie alle Texte in den Archiven der einzelnen Blogs, in Zeitschriften, in Büchern usw.

Auf dieser Idee fußen auch Textgeneratorprogramme wie der hilfreiche Liebesbriefgenerator für alle, denen die Liebe die Sprache verschlagen hat. Schon 1974 erschien auf Deutsch der Science-Fiction-Horror-Taschencomputer von Gahan Wilson, eigentlich ein Flussdiagramm, mit dessen Hilfe man einen Film- oder Romanplot generieren kann. Doch auch ein Programm, das Wörter aus Wortlisten zu grammatisch richtigen Sätzen zusammenstellt, ist einfach zu schreiben, ich habe schon Mitte der 1980-er Jahre ein derartiges Programm für die Permutation von Palindromsätzen geschrieben. Texte lassen sich also rein mechanisch erzeugen. Theoretisch könnte eine Horde Affen an Schreibmaschinen allein durch Herumhämmern auf den Tasten alle Literatur der Welt hervorbringen, wenn man sie nur lange genug gewähren ließe. Freund Merzmensch experimentiert schon geraume Zeit mit KI-Programmen, die aufgrund weniger Impulse ganze Abhandlungen verfassen, hier Talk to Transformer.

Wenn es also grundsätzlich möglich ist, alle Texte des Alphabets mechanisch zu erzeugen, was bedeutet das für unser Verhältnis zur Schrift, zum Schreiben und Lesen? Am Beispiel Liebesbriefgenerator zeigt sich, dass alle dort aufgeführten Wortwendungen sofort zu hohlen Phrasen werden, wenn man den Generator kennt. Es handelt sich hier um eine kuriose Randerscheinung, doch grundsätzlich nehmen die von Automaten erzeugten Texte zu, sie machen einen Großteil der Briefpost aus, und auch hier ist Schriftsprache zur Phrase verkommen. Zudem werden immer mehr Texte verfasst, was bedeutet, dass sich Wortinhalte rascher abnutzen. Insgesamt strebt die Schriftsprache ihrer Banalisierung zu. Oder überspitzt formuliert:

Das Erzeugen von Information führt zur Sinnentleerung der Information.

Der Altertumsforscher Werner Ekschmitt hat schon 1968 auf eine interessante Parallele hingewiesen. Er beschreibt die Bibliothek von Alexandria, die vor ihrer Zerstörung 500.000 Papyrusrollen enthalten haben soll. Für Ekschmitt ist das Anwachsen der Textproduktion ein Zeichen für untergehende Kulturen. Die Menschen untergehender Kulturen könnten die Wörter nicht mehr bei sich behalten. Zeigen die Texte bei Twitter oder Facebook die Logorrhoe des Untergangs?

Teestübchen Stilkritik: Meisterhafte Einfachheit

Einmal, in Aachen noch, war ich bei einer Autorenlesung in einem Café namens Schnabeltasse. Der Name tut nichts zur Sache, seine Nennung hilft mir nur, mich zu erinnern. Eine junge Frau las einen Text, in dem der Vitrinenschrank in der Küche ihrer Oma vorkam. Man kennt solche Oma-Küchen-Vitrinenschränke. Wir hatten früher auch einen. Meine Frau hatte ihn hübsch lackiert, und ich brach mir die Nase daran. Ich hatte in den unteren Fächern nach Töpfen gekramt. Derweil meine Frau ein Türchen des Vitrinenoberteils geöffnet hatte, um Geschirr herauszunehmen. Als ich mich aufrichtete, stieß ich mit der Nase gegen die Kante des offenen Türchens und ging zu Boden. Ich erinnere mich, dass meine Frau ziemlich lachen musste, weil meine Nase mir schief im Gesicht stand. Vor dem Garderobenspiegel bog ich sie in etwa wieder gerade.

Über so einen Vitrinenschrank hatte die junge Autorin geschrieben. Er war nicht Schauplatz einer Handlung, sondern stand einfach im Weg. Die Frau hatte der Lust nachgegeben, den Schrank in allen Einzelheiten zu beschreiben, erst von außen, dann sein Inneres, so dass man sich als Leser bei der Nase genommen und zu einer touristischen Vitrinenschrank-Führung genötigt fand, ein barbarischer Akt bei meiner ramponierten Nase!

Seit dieser Zeit reagiere ich allergisch auf Beschreibungen und Schilderungen, die nur um ihrer selbst Willen geschrieben werden, so als würden ihre AutorInnen beim Schreiben eitle Pirouetten drehen und rufen: „Schaut nur, wie schön ich das kann!“ „Auf der Glatze Locken drehen“, nennt Karl Kraus die substanzlose Schönschreiberei. Derlei lässt mich immer an den klugen Befund des Buchdruckers Theodore Low De Vinne denken:

    „The last thing to learn is simplicity.“

Meisterschaft zeigt sich eben nicht in verbalen Häkeldeckchen oder schlimmer noch in sprachlichem Bombast, sondern im Respekt vor der Vorstellungskraft von Lesern und Hörern. Es geht darum, nicht deren Lebenszeit zu verschwenden, um „Weniger ist mehr“, um Leerstellen, um nicht Gesagtes, nicht Geschriebenes, quasi um Rücksicht auf meine geschundene Nase.

Für Tüftler: Der übersetzte Spruch als Rebus, gleichzeitig das Teestübchen-Motto. Auflösung

Das Teestübchen-Motto: Zeichnung JvdL

Einiges über die Karrenspuren des Denkens

Manchmal stehe ich auf und gehe in die Küche, weiß dort aber nicht, warum ich hingekommen bin. Böse Zungen werden behaupten, das liege an meiner Schusseligkeit, was mich aber nicht trifft, denn selbstverständlich ist meine Schusseligkeit wichtig. Ich hege nämlich die Vorstellung, dass Schusseligkeit ein wirksamer Schutz gegen eingefahrene Denkwege ist. Meine innere Welt stelle ich mir als weite Ebene vor. Der Aufmerksamkeitsfunke des Denkens ist ein Karren, der dort seine Wege zieht. Dabei graben sich seine Räder immer tiefer, je öfter da lang gedacht wird. Das hat zur Folge, dass es zunehmend schwerer wird, neue Wege zu befahren, weil die Räder des Karrens immer wieder in die alte Karrenspur rutschen. Vergesslichkeit oder Schusseligkeit ist wie ein Flutwasser, das für kurze Zeit die Ebene überschwemmt und die meisten Karrenspuren verschwinden lässt, so dass, wenn die Ebene wieder trockengefallen ist, völlig neue Wege gefahren werden können.

Kürzlich nun entdeckte ich eine Karrenspur, die offenbar nie ein Flutwasser erreicht hat. Sie war schon tief eingefahren und betraf den Namen eines niederländischen Künstlers, Theo van Doesburg. Eine vom deutschen Sprachverständnis gegrabene Karrenspur ist, oe in Doesburg als Umlaut zu lesen, also Dösburg. In diese Karrenspur war ich nie gerutscht, denn ich weiß, dass Niederländisch OE wie langes U gesprochen wird. Mit diesem Wissen befand ich mich aber in einer parallelen Karrenspur, und es gelang mir erst gestern, sie zu verlassen und einzusehen, dass Dusburg und Duisburg durchaus eins sein können. Denn das I in Duisburg ist ein sogenanntes Dehnungs-I, gibt also an, dass diese Ruhrgebietstadt am Rhein Dusburg mit langem U gesprochen wird, also nicht Düsburg, wie wir das üblicher Weise tun. Does oder Duis geht auf mittelniederländisch dôse (Sumpfgebiet) oder dust (Unterholz) zurück.

Theo van Doesburg ist mir aus dem Kunststudium seit etwa 1975 ein Begriff, weil er ein Freund von Kurt Schwitters war. Von Duisburg weiß ich gewiss länger, obwohl ich noch nie dort war. Ich kann nur über mich staunen, dass mir die Ähnlichkeit zwischen Doesburg und Duisburg erst nach 45 Jahren aufgefallen ist. Die tiefsten Karrenspuren werden von Sprach- und Schreibgewohnheiten gegraben.