Humorkritik – Der Trittenheim hat nicht gelacht

„Wenn ich schlechte Laune habe“, sagte Volontär Schmock, „dann lese ich humoristische Bücher.“

„Bei mir geht das nicht“, entgegnete Chefredakteur Trittenheim. „Wenn ich schlecht gelaunt bin, stoßen Witze mich in bodenlosen Grimm. Am Samstag in der Limmerstraße beispielsweise fand ich auf einem Regal vor dem Antiquariat ein Buch von Horst Evers, Sie wissen schon, Horst Evers, dieser Berliner Storytelling-Kabarettist, dessen Witztechnik die liebevoll möbilierte Übertreibung ist.“

„Ja, den kenne ich, er tritt manchmal bei 3Sat auf.“

„Bei seinen verschwitzten Auftritten, ist er noch zu ertragen, sein wiederkehrendes ‚Mannmannmann, das ist aber auch…‘ funktioniert gedruckt leider nicht, und auch die Übertreibungen wirken nur albern.“

„Warum kaufen Sie denn so ein Buch?“

„Wusste es ja vorher nicht. Am meisten verlockt hat mich auf dem Titel eine Zeichnung von Titanic-Kollegen Bernd Pfarr, dessen leisen, absurden Humor ich geliebt habe.“

„Guter Mann. Leider schon tot. Gibt es denn sonst nichts Erfreuliches über das Buch zu sagen?“

„Doch, war schon irgendwie lustig, dass das Buch nach 144 Seiten schon zu Ende ist und danach wirklich nichts mehr kommt. Hinter dem Buchdeckel ist definitiv Schluss. Ende aus, Mickymaus. Der frische Baum, den es für weitere Seiten gebraucht hätte, der durfte stehnbleiben. Hat überlebt, trotz oder wegen Horst Evers. Weil dem nicht mehr eingefallen ist, glücklicher Weise. Am meisten befriedigt mich, dass ich dem Antiquar drei Euro bezahlt habe und er über die volle Summe verfügen kann, also kein Cent davon an Evers und seinen Verlag geht. Das sollte denen eine Lehre sein und weitere Bücher dieser Art verhindern.“

„Mannmannmann, das ist aber auch …“

„… besser fürs Klima.“

Die Zukunft des Reisens

„Ich weiß nicht, wie sehr sich Reisen noch beschleunigen lassen“, sagte Coster, als die Rede auf die Hyperloop-Technologie kam, bei der Menschen mit bis zu 1000 Stundenkilometern in einer Kapsel durch eine Tunnelröhre rasen. „Letztlich“, fuhr er fort, „ist die Idee der Von-Ort-zu Ort-Verbringung eine Sackgasse, in der nur Energie verschwendet wird. Es ist auch unökologisch, den menschlichen Körper zu transportieren, wo doch der Geist überall hinfliegen kann.“

„Mit dem Finger auf der Landkarte? Oder in der Fantasie? Das ist aber nicht gleichzusetzen mit dem Ergebnis eines Transports, also wirklich am anderen Ort zu sein.“

„Tatsächlich nicht“, räumte Coster ein. „Aber da liegt die Zukunft des Reisens. Zu suchen wäre nach einer Möglichkeit, nur den menschlichen Geist zu transportieren. Dann gälte es, eine Methode zu erfinden, die menschliche Identität mit all ihren Gefühlen, Erinnerungen und Fähigkeiten digital zu speichern. Diese Speicherung ließe sich leicht versenden.“

„Ins Nirwana, äh, ins Nirgendwo? Ans andere Ende des Universums?“

„Natürlich müsste am Zielort ein Empfänger, eine Sorte Dummy warten, in den die digitale Identität eingespeist würde. Die bessere Variante, also die Reise der 1. Klasse wäre, am Zielort einen perfekten Klon ohne eigenen Verstand zu haben. Wichtige Personen würden zwischen ihren auf der ganzen Welt verteilten Klonen hin- und her-switchen. Da es fast mit Lichtgeschwindigkeit geschähe, wäre sogar Bilocation annähernd möglich, also scheinbar an mehreren Orten gleichzeitig zu sein. Einer sitzt in einer Konferenz in Tokio, und mit dem nächsten Augenzwinkern wäre er bei der UN-Vollversammlung in New York City. Er könnte sogar Urlaub auf den Seychellen machen, während er an zwei anderen Orten konferiert.“

„Das liefe auf eine Verdreidoppelung der Identität heraus. Wer würde die an unterschiedlichen Orten gemachten Erfahrungen vereinen, quasi unter einen Hut bringen?“

„Der Reisende vom Anfang wäre zuständig, aber ich weiß nicht, ob sein Geist das verkraften würde. Wahrscheinlich würde er durchdrehen.“

„Das Ganze ist ein guter Romanplot, Coster!“, rief ich.

„Ich weiß, aber ich bin zu faul, den Roman zu schreiben. Auch mangelt es mir an Motivation. Ich bin, wie du weißt, längst tot.“

Eine Furcht, stärker als der Mutter Hand

Ohne Erlaubnis ist ein Wanderer im unwegsamen Gebirge meiner Erinnerung unterwegs. Manchmal löst sich ein Brocken unter seinem Fuß, poltert herab und trudelt durch mein Bewusstsein. Da erinnere ich mich plötzlich an ein Erlebnis, bei dem ich etwa fünf Jahre alt war. Meine Mutter fuhr mit mir und meiner Sandkastenfreundin Josie mit dem Zug zu einem Verwandtenbesuch an die Mosel. Es waren Josies Verwandte. Josies Mutter stammte aus dem kleinen Moseldorf Ernst. Es gibt ein verschollenes Schwarz-weiß-Foto, so eines mit dem geriffelten weißen Rand. Meine Mutter in der Mitte trägt einen weiten Rock, eine Jacke und einen kecken Hut. Sie hat links und rechts Josie und mich an der Hand.

Gerade frage ich mich, wer das fotografiert hat. Vielleicht ist das Foto eines jener falschen Erinnerungen, die sich gerne mit richtigen verbacken, so dass ein nicht aufzulösendes Konglomerat entsteht.

Es war für mich die erste Fahrt mit der Eisenbahn. In Koblenz mussten wir umsteigen. Wir gingen durch eine belebte Unterführung, als uns ein Soldat oder Polizist in Uniform entgegenkam. Plötzlich bekam ich große Angst. Ich riss mich von der Hand meiner Mutter los und rannte weg. Warum der Uniformierte mich so ängstigte, weiß ich nicht. Böse Zungen könnten vermuten, dass ich wohl bereits im Kindergarten ein kleiner verstockter Verbrecher war, der die Polizei fürchten musste. In Wahrheit habe ich im Leben nur wenig mit der Polizei zu tun gehabt. Einmal, mit 19 Jahren wurde ich vorgeladen, weil ich in der Druckerei Fehldrucke von Fahrscheinen der Kölner Verkehrsbetriebe (KVB) an mich genommen hatte. Ich gab an, ich hätte ein einziges Blöckchen genommen, um daraus eine Collage zu gestalten, denn Leute vom grafische Gewerbe sähen in den Drucksachen einen anderen Wert als deren Auftraggeber. Die Sache wurde fallengelassen. Meine Furcht vor Soldaten war begründeter. Niemand versieht das Kriegshandwerk, niemand tötet seine Mitmenschen, ohne innerlich abzusterben. Folglich bin ich Kriegsdienstverweigerer.

An die Mosel gelangten wir damals doch, trafen wohl erst im Dunkeln ein. Am nächsten Morgen erwachte ich und sah vor dem Fenster eine Nebelwand. Als es heller wurde, verwandelte sich die Nebelwand in einen direkt hinterm Haus aufragenden Weinberg. Nie zuvor hatte ich einen derartig steilen Berg gesehen. Und dass ihm erlaubt war, so dreist gegen das Haus vorzurücken, war mir unbegreiflich.

Als Jugendlicher nächtigte ich mit Freunden in der Jugendherberge des Moselstädtchens Cochem. Josies Bruder Werner war auch dabei. Wir beschlossen, nach Ernst zu seinen Verwandten zu trampen. Eine Gruppe um Werner fand zuerst eine Mitfahrgelegenheit. Wir folgten wenig später nach. Ich erinnerte mich, dass die Verwandten Göbel hießen. Wir fanden im Ort eine Bäckerei, eine Metzgerei, einen Gasthof, ein Weingut Göbel, aber unsere Freunde waren verschwunden.

Gestörte Briefzustellung

Komplizierte Welt. Ich möchte unter Mitzi Irsajs Text „Nichts hinterfragen“ kommentieren und darf nicht. Als ich den Kommentar absenden will, poppt eine Anmeldemaske auf und die Nachricht, ich wäre unter meinem Namen nicht angemeldet. Ich bins aber, sonst könnte ich ja hier nichts veröffentlichen. All meine Versuche, werden nicht akzeptiert, bis ich ganz rausgeschmissen werde, weil ich die Anzahl der Versuche überschritten hätte. Der Kommentar ist natürlich auch weg. Zwar habe ich ihn vorsorglich in der Zwischenablage gespeichert, doch von da flutschte er in den digitalen Orkus. Mitzi wird denken, jetzt habe ich so einen klugen Text über Glücksmomente geschrieben, und der Klotz kommentiert nicht.

Dabei achten wir gegenseitig darauf, die Aufmerksamkeit zwischen uns zu bewahren. Es ist eine Kommunikationsstörung, für die ich nichts kann. Ich weiß nicht, wie viele Sozialbeziehungen an derlei Kommunikationsstörungen kranken. Mir fällt der Fall der Frau ein, die aus Kummer und Enttäuschung mit 18 Jahren ins Kloster eingetreten ist, weil ein sehnlichst erwarteter Brief ihres Liebsten ausblieb. Als man nach 50 Jahren das Postgebäude abriss, fand man den Brief zwischen den Dielenbrettern, wo er wohl hingerutscht war. Da war es der Nonne auch egal. Sie hatte ihr Glück anderweitig gefunden.

Wenn Technik im Spiel ist, muss man immer mit Kommunikationsstörungen rechnen. Sogar die Sprache ist so etwas wie ein technisches Hilfsmittel der Verständigung. Natürlich darf man mit dem Wort Technik keinen Stabilbaukasten assoziieren, sondern es geht um die Kenntnis von Verfahrensweisen und die Fähigkeit sich derer zu bedienen. Mit Sprache versucht der Mensch seine komplexe Erlebnis- und Gefühlswelt für andere nachvollziehbar zu übersetzen. Da er sich nicht mal mit der eigenen Erlebnis- und Gefühlswelt richtig auskennt, gelingt ihm die Übersetzung nur unzureichend. Dauernd rutschen ihm Briefe in Dielenritzen. Und fingert man sie hervor, sind sie in Teilen unleserlich und missverständlich. Kompliziert, sag‘ ich doch.

Ein Traum

In einem Hochhaus bestieg ich einen Aufzug, ohne zu wissen, wohin ich musste, vermutlich auf die 4. Etage. Der Aufzug war groß wie ein Klassenzimmer und an drei Seiten verglast. Überall standen Leute in kleinen Gruppen herum und gaben sich gleichgültig. Einige wandten uns den Rücken zu, als wäre es ihnen egal, wann und wohin der Aufzug fahren würde. Vermutlich wollten sie sich nicht um die Bezahlung kümmern. Mir ging es ähnlich, denn ich hätte eigentlich die Treppe nehmen können. Da ich noch immer schwankte, war ich nicht gewillt, für die geringe Passage Geld zu opfern. Ein Student erbarmte sich, schob eine 50-Cent-Münze in einen Schlitz, zog einen Hebel hinab und presste den Knopf für die 10. Etage. Für mich viel zu hoch. Als der Aufzug sich in Bewegung setzte, überlegte ich, ob ich wohl unterwegs würde aussteigen können. Die übrigen Leute taten weiterhin gleichgültig. Die Gewissheit, dass es nicht zur Seite, sondern aufwärtsgehen würde, schien ihnen zu reichen.

Auf der 10. Etage verließ der Student den Aufzug. Einige folgten ihm, doch die meisten standen abwartend herum. Da ich beobachtet hatte, wie der Aufzug zu bedienen war, erbarmte ich mich, steckte 50 Cent in den Schlitz, zog den Hebel und presste den Knopf für die 4. Etage. Mir schien, als würde der Hebel nichts bewirken. Offenbar hatte ich es an Nachdruck fehlen lassen, denn der Aufzug bewegte sich nicht. Ein Blick nach draußen zeigte umliegende Gebäude im Licht der herauf dämmernden Sonne und eine sich fortwindende Straße. Unten tauchte ein Mann mit Krücken auf. Er hielt den bandagierten rechten Fuß in die Luft gestreckt und eilte trotz Krücken erstaunlich schnell von dannen.

Mir näherte sich ein anderer Student und sagte, der Aufzug habe mal wieder eine Macke, klappte geschickt ein Bedienungspaneel auf, legte eine gedruckte Schaltung frei und stocherte mit einem Schraubenzieher darin herum, bis Funken sprühten und der Aufzug sich rumpelnd in Bewegung setzte, diesmal abwärts. Auf der 4. Etage stieg ich aus und setzte mich in einen Wartebereich. Am anderen Ende des Gangs, noch mausklein, tauchte der Mann mit dem Gipsbein auf und eilte mit seinen Krücken auf mich zu. Obwohl er wie zuvor kraftvoll ausschritt, dauerte es eine Weile, bis er mich erreichte, grüßte und schnaufend neben mir Platz nahm. Ich sagte: „Auch guten Tag! Aber bitte, was haben Sie in meinem Traum verloren?“
„Ich hatte einen Sportunfall, denn wie Sie an meinem kraftvollen Ausschreiten ablesen können, bin ich ein Sportler.“
„Ja, gut. Aber warum sind Sie die Straße hinab so davongeeilt, schneller als ich ohne Krücken laufen könnte?“
„Ich musste Geld in die Parkuhr werfen. Obwohl ich schon vor Stunden einen Termin hatte, verzögert sich mein Aufrufen, so dass ich fürchtete, einen Strafzettel zu bekommen.“
„In meinem Traum sollte kein Sportler, der an Krücken geht und obendrein ein Gipsbein hat, in meinem Traum sollte so einer keinen Strafzettel fürchten.“
„Die Politessen sind da gnadenlos.“
„Ich beschäftige im Traum keine Politessen.“

Da wurde ich aufgerufen und ging hinein. Ich sollte nur still da sitzen und einer Dame bei der Arbeit zuzusehen. Sie verschwand fast hinter einem Stapel Formulare und beeilte sich, Aufkleber mit meinen Daten von einem Bogen abzuziehen und jeweils rechts oben auf ein Formular zu pappen, den beklebten Bogen umzuwenden und neben den Formularpacken zu stapeln. Sie arbeitete wortlos und zügig. Der eine Packen wuchs, der andere schrumpfte, nur dass der wachsende Packen ein bisschen unordentlich war, so dass ich mich sorgte, er könnte irgendwann umkippen. Plötzlich lag Schnee. Ich zog zwei Mützen übereinander.

Sich auskennen – eine schwindende Kulturtechnik

Wenn sich der Aachener irgendwo nicht auskennt, dann sagt er: „Hier kenn‘ ich mich nicht.“ Durch die fehlende Präposition „aus“ wird die Blickrichtung verändert, weg vom geografischen Umfeld auf den Sprecher. Mir scheint, dass mit „hier kenn ich mich nicht“ ziemlich gut der innere Zustand beschrieben wird, in dem sich befindet, wer in fremder Umgebung unterwegs ist. Wer sich gewöhnlich in einem vertrauten Streifrevier bewegt, erlebt sich auf befremdliche Weise, in der er sich nicht kennt. Man fühlt sich orientierungslos und verunsichert. In diesen Zustand geriet ich vergangenen Samstag per Fahrrad auf dem Weg zu einer Geburtstagsfeier in einem Schrebergarten.

„Guten Tag, wo ist denn hier die Constantinstraße?“, frage ich den jungen Vater, der gerade sein Baby in der Trage aus dem Auto gehoben hat.
„Kann ich Ihnen gleich sagen“, sagt er und stellt die Trage ab.
Dann holt er sein Smartphone hervor und indem er fragt:
„Mit C oder K?“,
„Mit C“, gibt er „Constantinstraße“ ein. Ich hatte nicht vorgehabt, ihm so einen Aufwand abzuverlangen, dass er sein gutes Kind in den Staub stellen muss, sondern hatte ganz naiv gedacht, er könnte mir den Weg aus der Erinnerung an eigene Ortskenntnis sagen, denn die gesuchte Straße muss ganz in der Nähe sein. Freilich kann er auf seinem Smartphone einen Schleichweg durch ein ausgedehntes Schrebergartengelände ablesen, der mich exakt an das Ziel meiner Verabredung bringt: zum Parkplatz am anderen Ende des Geländes.

Sich auszukennen, ist offenbar nicht mehr nötig. Google Maps ist da präziser. Innere Landkarten der näheren Umgebung werden nicht mehr angelegt, im Bewusstsein, jederzeit auf die Navigation-Applikationen zugreifen zu können. Man muss sich nicht mehr in der Gegend auskennen. Es reicht, sich auf dem Smartphone auszukennen, zu wissen, wo man die Navigations-App findet und wie sie zu bedienen ist. In den unerfreulichen Zustand, sich wie der Aachener „nicht zu kennen“, gerät nur, wem die technische Hilfe versagt, was bekanntlich nie vorkommt. Darum geht, sich auszukennen verloren wie die Handschrift und die Fähigkeit des Kopfrechnens.

Später unterhielt ich mich mit einem Mitglied des Fahrradclubs ADFC über das Lesen von gedruckten Landkarten und dass auch diese Kulturtechnik bald überflüssig sein wird. Er sagte, im Gegenzug würden die Landkarten immer weniger Informationen enthalten. Auf meine erstaunte Nachfrage, ergänzte er, früher seien beispielsweise noch Überlandleitungen eingezeichnet gewesen.

Die schwindende Informationsdichte bei Landkarten ist plausibel. Denn die Informationen bei den diversen Institutionen und Unternehmen einzuholen, ist ein Kostenfaktor. Die Auflagen von gedruckten Karten sinken. Daher müssen Kosten gespart werden.

Ein Traum wird wahr

Einmal in meinem ganzen Leben habe ich einen Wahrtraum geträumt, also träumerisch vorweggenommen, was noch gar nicht geschehen war. Wie so etwas möglich ist, weiß ich nicht. Denn gemeinhin folgen Ereignisse chronologisch aufeinander und es tritt nicht eines vom Kopf der Reihe ab und mogelt sich irgendwo nach hinten. Aber die Erinnerung ist über die Jahre frisch geblieben, denn ein Wahrtraum ist eine derart erstaunliche Erfahrung, dass man sie nicht mehr vergisst. Ich war noch ein kleines Kind. Damals lebten wir zur Miete auf einem alten Gehöft, das der ältlichen Jungfrau Cäcilia Küttelwäsch gehörte. Wir hatten dort nur zweieinhalb Zimmer.

Das halbe Zimmer war ein kleines Gelass unter der Dachschräge, in dem gerade Platz für ein Bett und eine Kommode war. An der rückwärtigen Seite hatte es eine verschlossene Türluke, durch die man in den Raum über der Toreinfahrt gelangen konnte. Die Tür war wie der Rest des Zimmers tapeziert und hatte ein Schlüsselloch, in dem ein Schlüssel stak. Ich habe die Luke aber nie offen gesehen. Trotzdem gab sie dem Zimmerchen die Aura eines Durchgangs. Man konnte sich darin nicht wirklich wohlfühlen.

Mein fünf Jahre älterer Bruder war einst der alleinige Bewohner gewesen. Nachdem ich aus dem Kinderbettchen im Elternschlafzimmer verbannt worden war, musste mein Bruder Bett und Gelass mit mir teilen. Er wird nicht ganz traurig über seinen neuen Mitbewohner gewesen sein, denn rückblickend glaube ich, dass er dort Angst hatte. Das Zimmer bot nur einen tröstlichen Luxus, einen Lichtschalter direkt an der Wand neben dem Bett. Mein Vater hatte ihn dorthin verlegt, damit mein Bruder jederzeit Licht machen konnte, wenn ein nächtliches Knistern, Knacken und Huschen ihn geweckt und erschreckt hatte. Daher vertrugen wir uns gut im gemeinsamen Bett, obwohl er mir sonst keinen weiteren Platz im Zimmer zugestand.

Im wesentlich größeren Dachzimmer nebenan wohnte das Ehepaar Köhn, er ein sehniger, schweigsamer Mann, auf dessen rechten Unterarm ein Indianer mit prächtigem Kopfschmuck tätowiert war. Von Beruf war er Eisenbieger. Wenn Herr Köhn seine Unterarmmuskeln spielen ließ, zog der Indianer Grimassen. Frau Köhn war eine lebensfrohe, attraktive, mollige Dresdnerin und arbeitete als Sekretärin bei der Genossenschaft. Beide waren sogenannte Flüchtlinge.

Eines Abends schenkte mir Frau Köhn eine Aprikose. Ich hatte noch nie eine Aprikose gesehen und hielt sie für eine unbekannte Sorte Pfirsich. Meine Mutter schlug vor, die Aprikose für den nächsten Morgen zu verwahren. Sie legte sie auf die Kommode, wo ich sie ansah, bis es dunkel geworden war. In der Nacht räumte ich von der Aprikose, biss hinein und war enttäuscht, dass sie nicht die erwartete Süße eines Pfirsichs hatte, sondern säuerlich schmeckte, mit einem bitteren Unterton. Diese Geschmackserfahrung im Traum war ziemlich deutlich. Als ich am Morgen in die Aprikose biss, schmeckte sie genau wie erträumt.

Es muss ein Wahrtraum gewesen sein. Wie konnte ich den Geschmack träumen, obwohl ich zuvor noch nie eine Aprikose gegessen hatte? War in der Nacht das Raum-Zeit-Kontinuum durcheinander geraten? Eine Störung der Kausalität? Oder hatte ich im Traum Anteil am kollektiven Weltwissen der Menschheit? In jedem Fall glaube ich, dass man derlei Erfahrungen nur in Dachstuben machen kann. Weiterlesen

„Frauebrür“ – Das schmackhafte Frauenbrötchen

Kaum ein Beitrag im Teestübchen in letzter Zeit bekam soviel Resonanz wie die beiden Butterbrottexte. Das verzeichne ich mit leisem Bedauern, denn andere Themen liegen mir mehr am Herzen. So zweifelte ich tagelang, ob ich den Text „Auf ein Butterbrot“ überhaupt veröffentlichen sollte. Inzwischen hat sich aus den beiden Texten aber neben dem Kulinarischen auch ein interessanter sprachlicher Gesichtspunkt ergeben, so dass ein Update nötig wurde. Anlass für alles war ja eine Frühstücksgewohnheit, die meine Lebensgefährtin wunderlich fand, nämlich das Deckeln einer Brötchenhälfte mit einer Scheibe Schwarzbrot. Sie glaubte, das „weltweit“ noch nirgends gesehen zu haben, während ich wusste, dass diese Deckelung im Rheinland bekannt ist. Ich bin sicher, dass ich mir die Deckelung nicht ausgedacht habe, sondern dem Vorbild meines älteren Bruders gefolgt bin. Die Behauptung im vorigen Text, ich hätte die Welt um gedeckelte Brötchenhälften bereichert, bezog sich nur scherzhaft auf die Bemerkung der Schwäbin.

In Aachen hat ein solches Brötchen sogar einen Namen: „Frauenbrötchen.“ Das spezielle Brötchen hatte ich mir in der Kur beim Frühstück geschmiert und wurde von einer Tischnachbarin belehrt, dass mein Brötchen in Aachen „Frauenbrötchen“ genannt wird. Sie wusste auch eine Erklärung zu geben, die ich nicht ganz plausibel fand, zumal ich in 25 Jahren meiner Aachener Zeit nie davon gehört hatte. Auch der rührige Aachener Kollege Peer van Daalen kannte es nicht. Den ersten Hinweis gab Kollege Noemix. Er hatte auf der Seite „Frag Mutti“ den Hinweis einer Annegretn gefunden: „Das nannte man in den 50er/60er Jahren im Rheinland „Frauenbrüderchen.“ Quelle Noemix verwies hellsichtig auf die lautliche Ähnlichkeit von „Frauenbrötchen“ und „Frauenbrüderchen.“ Aufklärung brachte G.Cüsters, ein mir bislang unbekannter Teestübchenbesucher in folgendem Kommentar:

    „Als von den Großeltern „e Oche“ aufgezogenes Blag bin ich des Öcher Platts sowohl passiv als auch aktiv mächtig. „Frauebrüüdche“ hab ich auch immer verstanden und mir ewig mit „Frauenbrötchen“ übersetzt. Diese Gewissheit kam, ich weiß nicht mal mehr, wann und wie, eines Tages ins wanken.Inzwischen habe ich einen anderen, durchaus plausibel klingenden Ansatz:
    zwischen Kasernenstraße und Im Mariental, wo sich früher mal das Arbeitsamt befand, gibt es eine kurze Straße mit dem Namen „An den Frauenbrüdern“. Bei besagten Frauenbrüdern handelt es sich um Ordensbrüder der Karmeliter, die im Volksmund bspw. auch in Köln genau so genannt wurden. Das Ordenskleid dieser Mönche besteht aus einem weißen Chormantel mit einem braunen Skapulier darüber, was ein bisschen an eine Tafel Kaffee-Sahne-Schokolade erinnert. Diese Farbkombination findet sich in der Kombination des halben Brötchens mit dem Schwarzbrot wieder. Nach meinem Dafürhalten handelt es sich also eher um ein „Frauebrüerche“, also ein „Frauenbrüderchen“. Ich lasse mich da aber auch gerne eines besseren belehren.

Nicht nötig, lieber G.Cüsters. Vielen Dank für den erhellenden Hinweis! Tatsächlich fand ich dazu den Beleg in Will Hermanns; Aachener Sprachschatz, 1970, fotomechanischer Nachdruck 1992. Ich hätte gleich mal nachschlagen können.

Das „Frauenbrötchen“ ist demnach ein Wort der Volksetymologie. Nicht mehr Verstandenes wird lautlich verfälscht und bekommt eine neue Plausibilität. Die Erklärung der dicken Frau könnte sogar ihre eigene sein. Volksetymologie ist ein wesentlicher Motor der Sprachentwicklung. Selten hilft es gegenzusteuern, wie ich am Beispiel „Halbschwarz“ schon zeigen konnte. Ob es nun korrekt „Frauebrür“ oder volksetymologisch „Frauenbrötchen“ heißt, Hauptsache es schmeckt!

Held des Schwarzbrotdeckels

Am vergangenen Sonntagmorgen bestrich ich eine Brötchenhälfte mit Margarine, belegte sie mit einer Scheibe mittelaltem Gouda, darauf vier Scheiben Ei, hartgekocht und zwei Tomatenscheiben, würzte mit Pfeffer und Salz und deckelte das mit einer Scheibe Schwarzbrot. Erneut sagte die Schwäbin sie kenne niemanden, der sich eine solche Stulle zum Frühstück schmiert und ergänzte „weltweit nicht.“ Sie ist eine weitgereiste Frau, so dass ich „weltweit“ durchaus ernst nehme. Die Deckelung eines solchen Brotes hat praktische Gründe, denn so bleibt der Belag am richtigen Ort und bietet das gebündelte Geschmackserlebnis.

Man kann natürlich derlei aufgetürmten Belag auch ungedeckelt lassen. Dann aber ist eine Brötchenhälfte ungeeignet und sollte durch eine Brotscheibe ersetzt werden. Eine solche Stulle isst man am besten mit Messer und Gabel.

Im letzten Jahr während meiner Kur in Aachen hat mich eine sehr dicke Frau belehrt, eine mit Schwarzbrot gedeckelte Brötchenhälfte heiße in Aachen „Frauenbrötchen“, weil das Schwarzbrot die Verdauung fördere, womit ein Frauenproblen gelöst wäre. Ich habe zwar gut 25 Jahre in Aachen gelebt, doch nie zuvor von einem „Frauenbrötchen“ gehört, was wiederum zeigt, dass Ortskenntnis nicht bedeutet, alle kulturellen Üblichkeiten zu kennen, was natürlich auch für „weltweite“ Ortskenntnis gilt. Es kann immer noch eine dicke Frau oder sonst ein Spezialist den Finger heben und mit Neuigkeiten aufwarten. Überdies wären die Schöpfer des Begriffs „Frauenbrötchen“ zu rügen, da er impliziert, Verstopfung wäre ein Frauenproblem. Allerdings habe ich im Vorabendprogramm von ZDF und ARD schon diverse Werbespots gesehen, in denen Mittel für einen leichteren Stuhlgang angepriesen werden. Akteure vulgo Erleichterte sind in den Spots allesamt Frauen. Die Pharmaindustrie wird ihre Zielgruppe kennen.

Die Rede sei wieder von gedeckelten Stullen, die es „weltweit“ nur bei mir geben soll. Bei allen gesellschaftlichen Zwängen zur Konformität möchte doch jedes Individuum einzigartig sein. Ich könnte mich also damit zufriedengeben.

    „Gerne wäre er aus besseren Gründen gefeiert worden, doch er hat die Welt um gedeckelte Stullen bereichert.“

Da stünde ich in einer Reihe mit John Montagu, dem 4. Earl of Sandwich und dem legendären Fernsehkoch Clemens Wilmenrod, dessen Person und Name in Deutschland untrennbar mit dem Toast Hawaii verknüpft ist. Wilmenrod war kein Koch und im Hauptberuf Schauspieler, verfasste ein 400 Manuskriptseiten dickes Buch mit dem Titel „Ohne mich“, fand aber keinen Verleger.

    „Auch JvdL hat einiges geschrieben und hatte keinen Verleger. Schauspielern konnte er nicht. Sein Bestes war der Schwarzbrotdeckel auf der Stulle.“ Vielen Dank.

Die Begriffe Deutschland und weltweit verweisen auf einen bislang unberücksichtigten Aspekt. Sind nicht alle Fisimatenten, die einer mit der Stulle anzustellen beliebt, auf eng definierte geografische Bereiche beschränkt? Geht es nicht letztlich um Kulturgrenzen? In welchen Ländern ist die Stulle überhaupt fester Bestandteil der Mahlzeiten? Wo kennt man das Butterbrot? Vielleicht liegt schon in den Anrainerstaaten die Butterbrot-Diaspora. Man belehre mich. Das Butterbrotzentrum liegt vermutlich in Deutschland, wo es mehrere tausend Brotsorten zur Auswahl gibt und Brot sogar eine eigene Zeit hat, die „Brotzeit.“

Herr Erlenberg muss reisen – Verschwistern Sie sich!

Schmerzlich sei der heftige Streit mit ihrer Schwester gewesen, der mit dem völligen Zerwürfnis endete. Es geschah in der Küche der Petra-Schwester. Petra berichtet: „Also, wenn ich eine Sauce abschmecke, spüle ich den benutzten Löffel nachher ab. Meine Schwester legt ihn einfach neben den Kochtopf und taucht ihn zum nächsten Umrühren und Verkosten wieder ein. Sie wollte nicht einsehen, dass die mehrfach Benutzung des Löffels unhygienisch ist.“

Die Konzerin scheint zu vergegenwärtigen, dass sie es wie die Schwester hält und meint:
„Aber sich wegen dieser Kleinigkeit zu überwerfen?“

Petra ist unzufrieden und sucht Bestätigung bei Erlenberg: „Was sagen Sie dazu, mein Herr?“
Zu seinem Missvergügen sieht sich Erlenberg in das Gespräch einbezogen.

„Das bisschen Spucke am Löffel ist sicher zu vernachlässigen, besonders wenn Suppe oder Sauce kochen. Außerdem gebe ich zu bedenken, dass es Kulturen gibt, in denen Mahlzeiten vorgekaut werden, nicht nur für die noch zahnlosen Kleinkinder. Es ist offenbar unschädlich, sonst wären diese Menschen längst ausgestorben.“

Petras Miene verfinstert sich. Erlenberg ergänzt: „Erst kürzlich erinnerte eine Freundin daran, unsere Großmütter hätten die Kirschen mit einer Haarnadel entkernt.“ Er zwinkert der Konzerin zu: „Die Frauen hatten die Haarnadeln praktischer Weise immer bei sich. Und bekanntlich wusch man die Haare nicht so oft wie heute.“

„Ach, das ist ja alles furchtbar ekelhaft!“, ruft Petra.

„Ich selber bin auch pingelig“, räumt Erlenberg ein. „Aber das scheint mir ein neuzeitliches Phänomen zu sein, verstärkt durch Ängste vor Ansteckung. Ich fürchte, wenn wir zunehmend Ekel voreinander entwickeln, werden wir vereinsamen.“

„Der Herr hat Recht“, sagt die Konzerin. „Petra, versöhnen Sie sich mit Ihrer Schwester, äh, verschwistern sie sich wieder!“