Silvester auf Helgoland

helgoland(Im Bild: Helgoland von der schönsten Seite)

„Wer einmal auf Helgoland war, kommt immer wieder!“, schwärmte die Frau. Lisette und ich saßen mit einem älteren Ehepaar aus Berlin am Tisch einer im Wellengang mächtig schaukelnden Hochseefähre. Sie erzählten davon, seit Jahren schon Silvester auf Helgoland zu verbringen. „Ach!“, sagte Lisette ungläubig. Ich sehe noch heute ihren erstaunten Blick, als hätte sie jetzt erst realisiert, wo wir eine Woche gewesen waren. Etwa auf Helgoland? Jedenfalls hatte sie wohl eigentlich Rügen gemeint, wo sie mal hingewollt hatte, und ich wäre im Leben nicht nach Helgoland geschippert, wenn sie nicht den Wunsch geäußert hätte, Silvester auf Helgoland zu verbringen. Helgoland und Rügen kann mal schon mal verwechseln. Aaaber werden jetzt die Oberschlauen sagen: Rügen liegt in der Ostsee und Helgoland in der Nordsee. Na und, würde Lisette entgegnen, sind jedenfalls beides Inseln. Und außerdem glaubte sie, mir einen Wunsch zu erfüllen. Dabei kann ich fast beschwören, das Wort Helgoland nie in den Mund genommen zu haben. Höchstens als wir mal zusammen auf der ostfriesischen Insel Baltrum waren. Da gibt es einen Landeplatz für den Inselflieger. Kleine Inseln habe ja alle etwas Langweiliges. Da ist so ein Flieger, der von einer langweiligen Insel zur nächsten hoppst, ein wenig verlockend. Damals könnte ich gesagt haben, derweil ich den Flugplan studierte: „Ach, guck, der fliegt auch nach Helgoland!“

Helgoland hat im Winter jedenfalls den Charme einer belgischen Kaserne, wenn du weißt, wie trostlos belgische Kasernen aussehen, nur dass ringsum Hochsee ist, rund 50 Kilometer bis zum Festland. Es fehlen historische Gebäude, wie man sie auf den friesischen Inseln gelegentlich findet, denn nach dem 2. Weltkrieg hatte die Royal Air Force Helgoland mit seinen unterirdischen Bunkeranlagen zerbomben wollen. Der etwa ein Quadratkilometer große Sandsteinfelsen hatte Stand gehalten, aber sonst lag wohl alles darnieder und wurde in den 1950-er Jahren ziemlich stillos wieder aufgebaut, da hilft auch nicht die bunte Wandfarbe, mit der man nicht spart auf Helgoland. Eines dieser schmucklosen Reihenhäuser im Unterland hatten Lisette und ich gemietet. Es war, glaube ich, blau getüncht. Mir war egal, wie Haus und Insel aussah. Mit Lisette war es überall schön. Ich war glücklich, Silvester mit ihr verbringen zu können, denn das war viele Jahre nicht möglich gewesen. Wir waren zwar beide verheiratet, aber nicht miteinander.

Die Helgoländer sind Touristen gegenüber gleichgültig, so etwa in der Haltung Ist-mir-doch-egal,-ob-du-auf-die-Insel-kommst-und-dein-Geld-herbringst. Damit sind sie schon weit freundlicher als die Friesen von Nord- und Ostseeküste, die am liebsten hätten, die Touristen würden nur ihr Geld vorbeibringen und dann gleich wieder verschwinden. Man merkt, dass die finsteren Küstenfriesen allesamt von Strandräubern abstammen. Nicht so die Helgoländer. Sie sind nur gleichgültig. Die helgoländische Gleichgültigkeit erlebten wir am Abreisetag, als die Vermieterin telefonisch nicht erreichbar war, so dass wir, um unser Geld loszuwerden, nochmal rauf mussten in die Siedlung auf dem Oberland, wo wir zunächst ebenfalls vergeblich an ihrer Haustür klingelten, weil sie offenbar keine Lust hatte aufzumachen und unsere Miete entgegenzunehmen.

Das Aufregendste an Helgoland ist der Lift vom Unterland zum Oberland. Er ist das einzige öffentliche Verkehrsmittel der Insel, aber selbstfahrend. Da ist kein Fahrstuhlführer, dem du die Knarre an den Kopf halten und befehlen kannst: „Fahren Sie mich nach Kuba!“ No, Sir. Es geht nur etwa 50 Meter senkrecht hoch.

Kurz vor dem Jahreswechsel transportierten wir jedenfalls eine Pulle Sekt und zwei Gläser mit dem Lift vom Unter- zum Oberland, liefen raus aus dem Ort zum höchsten Punkt der Insel, saßen eng beieinander im eiskalten Seewind und warteten auf das Feuerwerk. Die meisten Raketen gingen aber nicht von Helgoland hoch, die meisten zischten von See aus in den Nachthimmel. Ich hätte nie gedacht, dass so viele Schiffe in der Deutschen Bucht unterwegs wären, ungesehen auch bei Tag, weil sie hinterm Horizont aus nichts als Wasser vorbeiziehen. Da oben auf der kahlen Hochebene von Helgoland, wo der Seewind ungehindert durch unsere Kleidung biss, stießen Lisette und ich aufs neue Jahr an. Damals hatte ich Hoffnung. Heute weiß ich, meine Neujahrswünsche erfüllen sich nie wie geglaubt.

Als unsere Fähre am Neujahrstag im Hafen von Cuxhaven anlegte, war es schon dunkel und es schneite. Wir fanden Lisettes alten VW-Golf total vereist vor. Er sprang aber an und brachte uns ohne Mucken zurück nach Aachen. Das kommende Jahr sah unsere Trennung. Ich begann zu bloggen, schrieb mir den Kummer vom Herzen und strandete in Hannover.

Fünf Jahre später war ich nochmals im Hafen von Cuxhaven, aber nicht mit Lisette, sondern mit Mimi. Wir wollten auch nicht nach Helgoland, sondern feierten Mimis Geburtstag in Cuxhaven. Damals war mein Leben nicht minder seltsam. Ich weiß noch, dass der Hotelier mich fragte, ob Mimi meine Sekretärin wäre. Sah ich vielleicht aus wie einer, der sich Sekretärinnen hält? Und Mimi wirkte nun wirklich nicht wie eine Sekretärin. Den Bericht von dieser ethnologischen Forschungsreise gibt es hier zu lesen.

Teestübchen Trithemius wünscht allen treuen Leserinnen und Lesern einen Guten Rutsch und ein gutes neues Jahr.

Ein Jahr verrinnt, ein neues kimmt – Grafik und Gifanimation: JvdL

Das Geschenk – eine Anekdote

Ein Maler, der seit über 30 Jahren mit seiner Kunst unbeachtet geblieben war, zu Recht, wie einige sagten, der schlich sich auf einen Geburtstagsempfang im Rathaus, den die Stadt zu Ehren ihres verdienten Kultursenators gab. Mit einem seiner besten Gemälde unterm Arm gelang es dem Maler, sich durch die Menge zu kämpfen und bis zum Jubilar vorzudringen. Unter den Augen der Pressevertreter, die den Senator umringten, riss der Maler Paketband und Packpapier von seinem Gemälde und bot es mit zitternden Armen dar. Wie aber ringsum schon das Blitzlichtgewitter losbrach und alles für den armseligen Triumph des Malers wie bereitet schien, da verschränkte der Senator die Hände hinter dem Rücken und sagte, indem er kalt auf das Bild hinabsah: „Meine Frau duldet nicht die weitere Einbringung von Gegenständen in unseren Haushalt.“

Frohe Weihnachten im Teestübchen

Heuer hat mich in der Vorweihnachtszeit erstmals nicht der Trübsinn erfasst. Für diesen Trübsinn war ein Ereignis meiner Kindheit verantwortlich. Da freute ich mich nämlich auf Weihnachten, und ganz unerwartet ist mein Vater gestorben. Er wurde nur 49 Jahre alt. Viel weiß ich nicht von ihm, denn an Wochentagen kam er erst von der Arbeit im fernen Düsseldorf, wenn ich schon schlief. In seiner knappen Freizeit musste er eine Modelleisenbahn für meinen älteren Bruder und mich gebaut haben, was ich erst später realisierte, denn ich glaubte noch, das Christkind hätte die gebracht.

Wenn mein Bruder abwesend war, durfte ich die kostbare Anlage nicht bedienen, allenfalls einige Waggons mit dem Finger auf den Schienen vor und zurückschieben. Dann aber kam Pater Arnold, ein Mönch aus dem nahen Kloster, der schon mal in der Gemeinde aushalf. Eigentlich besuchte er uns, um meiner Mutter seelsorgerischen Beistand zu leisten, doch nachdem er seinen langen roten Schal vom Hals gewickelt hatte, galt sein Interesse unserer Modellbahn. Und ganz destruktiv war er vorrangig an Zugunglücken interessiert. Er stachelte meinen älteren Bruder immer wieder an: „Friedrich, lass uns nochmal Zusammenstoß spielen!“ Zu meinem Entsetzen wurden zwei Loks auf eine Schienenstrecke gestellt, die dann mit Karacho gegeneinander fuhren und aus dem Gleis kippten. Noch heute mag ich keine Zerstörungsorgien, wie sie Hollywood so gerne darstellt.

Ist schon etwas länger her, als ich entdeckte, dass die Technik des Graphics Interchange Formats (GIF) erlaubt, aus Einzelbildern Trickfilme zu gestalten. Da reizte es mich, für mein damaliges Teppichhaus-Blog eine digitale Modellbahn auf die Schienen zu bringen. Vorlage war diese uralte Zeichnung von mir.

Ich weiß, dass bei der Fülle der Daten mein damaliger Rechner fast in die Knie ging. Heute läuft die Animation bei mir ohne zu ruckeln und ich hoffe, bei Ihnen und euch auch. Im Trickfilm passiert nicht viel, vor allem gibt es keinen fatalen Gegenzug auf Kollisionskurs. Es gab eine Version, bei der zum Schluss frohe Weihnachten gewünscht wird. Die finde ich aber nicht mehr. Drum hier mündlich/schriftlich: Allen treuen Besucherinnen und Besuchern wünsche ich ein schönes, besinnliches Weihnachtsfest sowie Glück und Gesundheit fürs neue Jahr,
Ihr und euer

Herr Schläucher sein Bein

    „Nehmen Sie sich Zeit für den größten Mist, heben Sie die schweren Winterjacken wildfremder Leute hoch.“ (Eugen Egner/Titanic)

Die Zeit für den grösten Mist musste ich mir gestern Nacht in der drangvollen Diele von Herrn Putzig nehmen, der in seinen Geburtstag hineinfeierte. In seiner Diele stauten sich die erst nach 24 Uhr eintreffenden Gäste. Mir half allerdings ein freundlicher junger Mann. Indem er sich den wachsenden Jackenwust auflud und unter der Last immer kleiner wurde, bekundete er, dass er sich glücklich schätze, mich wenigsten bei dieser Gelegenheit kennenzulernen, der ich ja wohl nach Hause wolle. Es war nicht die geringste Ironie in seinen Worten,- aber er kennt mich ja nicht wirklich, hehe.
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Alljährlich das gleiche Gedöns – Zwei Anrufe im Bus

Im vollbesetzten Bus der Linie 100 telefoniert einer.
„Reg dich nicht auf, Schatz, am 19. kommt die Fußbodenheizung rein.“
Ich frage die Frau neben mir: „Wann kommt die Fußbodenheizung rein?“
„Ich weiß nicht“, sagt sie, weil sie offenbar in Gedanken gewesen ist.
„Am 19.“, sagt der Mann, der neben uns im Gang steht.
„Wieso erst am 19.?“, fragt die Frau mit Kinderwagen.
Die Busfahrerin bläst ins Mikrophon: „Ich finde es auch knapp, so kurz vor Weihnachten. Kein Wunder, dass Frau Schatz in Panik gerät.“

Alle gucken Herrn Schatz an, der rasch sein Smartphone wegsteckt und sich im Sitz aufrichtet:
„Ich heiße überhaupt nicht Schatz!“
„Aber Ihre Frau!“, sage ich.
„Nein, ich nenne sie nur Schatz. Ein Kosenamen!“
„Nennt sie Schatz und mutet ihr vor Weihnachten so einen Dreck zu!“, sagt die Frau mit Kinderwagen kämpferisch.
„Ja, genau!“, rufe ich. „In der Vorweihnachtszeit will Frau es doch gemütlich haben und Plätzchen backen!“
„Und keine staubigen Handwerker mit dreckigen Schuhen im Haus haben“, pflichtet der Mann im Gang mir bei.
„Handwerker mit dreckigen Schuhen oder Handwerkerinnen mit dreckigen Schuhen!”, korrigiert Frau Kinderwagen, „soviel Zeit muss sein!”
„Wieso sollte nur die Frau immer Plätzchen backen?“, fragt meine Sitznachbarin jetzt auch noch keck. „Sie haben ja altmodische Vorstellungen.“
„Wieso ich? Herr Schatz ist es doch, der sich nicht um die Plätzchenbäckerei kümmert, sondern kurz vor Weihnachten noch eine Fußbodenheizung einbauen lässt.“
„Soll meine Familie Weihnachten denn frieren?“, fragt Herr Schatz, der ganz anders heißt, aufgebracht.
„Das hätten Sie sich auch früher überlegen können!“, sagt Frau Kinderwagen.
„Aber die Finanzierung war vorher nicht gesichert“, sagt der Schatz kleinlaut.
Da tönt die Busfahrerin über alle Lautsprecher im Bus: „Wer im Sommer nicht spart, dem ist der Winter zu hart!“
„Äsop“, murmelt der graumelierte Herr im teuren Mantel.
„Das hat sie wohl eher aus einer Fabel von La Fontaine“, sagt Herr Schatz, der froh ist, von sich ablenken zu können. “Die Heuschrecke fiedelt den ganzen Sommer und …”
„Ich wüsste nicht, dass unser Oskar Fabeln geschrieben hätte“, mischt sich jetzt der Mann in Anstreicherhose ein.
„Mischen Sie sich nicht ein, mischen Sie besser Farbe“, sagt Frau Kinderwagen spitz, „Herr Schatz meint nicht Ihren Oskar Lafontaine, sondern den französischen Dichter Jean de La Fontaine.“
„Und backen Sie besser Plätzchen, aber das können Sie Kampfemanze vermutlich nicht!“, sagt der Anstreicher.
„Ich kann Ihnen aber eine langen“, sagt Frau Kinderwagen, „Macho, Frechdachs, Banause und wer weiß was!“
„Ruhe im Bus!“ herrscht die Busfahrerin, „sonst halte ich die Luft an, bis ich blau im Gesicht bin.“
„Der Mann hat angefangen!“, rufen alle und zeigen auf mich.
Das Telefon von Herrn Schatz klingelt wieder.
“Schatz”, meldet er sich, “jetzt hör auf, im Bus rumzunerven! Die Heilige Familie hatte auch keine Fußbodenheizung!”

Das war ein ganz neues Argument, dem ich mich gern gewidmet hätte. Leider fiept mein Smartphone Wecker und ich muss aussteigen, äh, aufstehen, um den Bus zu kriegen. Da ging natürlich alles wieder von vorne los.

Ein Lächeln zur Unzeit

Wenn ich glaubte, etwas verloren zu haben und zu Hause meinen Irrtum bemerkte, weil friedlich auf dem Tisch lag, was ich verloren glaubte, bei diesen Gelegenheiten habe ich beobachtet, dass sich zwar Erleichterung einstellt, aber das Verlustgefühl nicht sofort weicht. Offenbar werden bei einem vermeintlichen Verlust Botenstoffe ausgeschüttet, die sich erst langsam abbauen. Es ist plausibel, dass Botenstoffe sich über den Blutkreislauf langsamer bewegen als der Gedankenfunke von Synapse zu Synapse springt. Demgemäß sind unsere tiefen Gefühle langsamer als unsere Gedanken.

Die träge Nachwirkung von Gefühlen lässt sich auch umgekehrt beobachten. Nach einer angenehmen Begegnung bringt man ein Lächeln mit und trägt es noch eine Weile vor sich her. Dies könnte einen Moment erklären, in dessen Folge mein Leben eine völlig neue Wendung nahm, so dass man diese Zeilen hier überhaupt lesen kann. Denn ich verließ meine Heimatstadt und wandte mich ganz dem Schreiben zu.

Zur Vorgeschichte: Ich war quasi versehentlich in ein Verhältnis verstrickt worden, liebte eine verheiratete Frau so sehr, dass ich die problematische und kräftezehrende Beziehung sieben Jahre ertrug. Nach vier Jahren trennte sie sich endlich von ihrem Mann, und eigentlich hätte jetzt alles gut sein können. Es war aber nicht gut. Als sie noch mit ihrem Mann zusammenlebte, fühlte sie sich berechtigt, ihn zu betrügen, weil er sie geringschätzig behandelte. Nachdem sie sich von ihm getrennt hatte, entwickelte sie moralische Bedenken, sagte: „Ich kann dir nicht geben, was ich ihm genommen habe.“ und „Man darf sein Glück nicht auf dem Unglück anderer aufbauen.“ Am Ende kam es mir gegenüber zu einen Vertrauensbruch, in dessen Folge ich die Beziehung beendete. Es fühlte sich an, als würde ich mir bei vollem Bewusstsein einen Arm absägen.

Einige Wochen nach der Trennung strich ich ruhelos durch die Straßen, auf der Suche nach Ablenkung vom Trennungsschmerz. Willkürlich nahm ich die Krämerstraße vom Markt hinunter zum Münsterplatz. Vor mir ragte der Dom auf, plötzlich bog Lisette lächelnd um die Mauerecke. Wir grüßten uns – und verharrten einen Augenblick.

„Kommst du oder gehst du?“, fragte sie.
„Ich gehe“, sagte ich und wandte mich ab.

Ich weiß, wäre sie nicht lächelnd um den Dom gebogen, hätte ich das nicht geantwortet und mich nicht abgewandt. Aber dieses Lächeln, das nicht mir gelten konnte, denn sie hatte es mitgebracht, bevor sie mich hatte sehen können, signalisierte mir, dass sie unsere Trennung längst überwunden hatte und anders als ich, wieder beschwingt unterwegs war. Es kam mir vor wie ein neuerlicher Verrat.

Dass ich mich geirrt hatte, zeigte sich in den Wochen danach, in denen sie alles tat, mich wieder zu gewinnen. Das Lächeln konnte jemandem gegolten haben, dem sie zuvor begegnet war. Es hätte auch sein können, dass sie ahnte, mich zu treffen, weil sie eine Frau mit derlei Vorahnungen war.

Die Spekulation ist müßig. Die Trennung war rückblickend dringend nötig, ja, für mich überlebenswichtig. In der Folge begann ich zu bloggen, um meinen Schmerz zu bewältigen. Das geschah im Jahr 2005. Seither habe ich gut 5000 Texte verfasst, und am Anfang war ihr Lächeln zur Unzeit.

Ein erlösendes Lächeln

Wie wanderten zu dritt, meine Freundin Helen, ich und ein Mann, der sich uns angeschlossen hatte, der wohl Theo hieß. Wie es ist in Dreierkonstellation, da verbünden sich naturgemäß immer zwei gegen den dritten, wobei sich wechselnde Paarbeziehungen ergeben können. Im Laufe der Tage wandte sich Helen zunehmend von mir ab und Theo zu. Daher trotteten sie fortwährend einige Schritte hinter mir her. Ging ich langsamer, um sie aufholen zu lassen, gingen sie auch langsamer. Das Land war uns fremd, und Helen war als einzige der Landessprache mächtig.

Ich weiß nicht, wer unsere Wanderroute in den letzten Tagen bestimmt hatte, ob sie es war, weil sie unter Theos Einfluss in eine finstere Laune verfallen war und ihr nachgab, aber wir gerieten immer tiefer in einen düsteren Landstrich, den ich freiwillig nie betreten hätte. Nachts kampierten wir auf freiem Feld, denn außer krüppligem Gehölz voller Dornenranken gab es nichts, was hätte Schutz bieten können. Morgens bauten wir schweigend unser Lager ab und brachen ebenso schweigend auf. Wenn wir pausierten, hockte ich mich auf die Hacken und schrieb in mein Notizbuch, während sie leise redend abseits saßen.

    Bis zu dieser Stelle im Text habe ich frei formuliert. Für die weiteren Schritte muss ich endlich mein Buch hervorholen und die Notizen ablesen, um das Folgende korrekt wiedergeben zu können, denn inzwischen weiß ich um die Unzuverlässigkeit menschlicher Erinnerungen. Auch geraten ja spontane Notizen stets besser als solche, die in ruhiger Überlegung hin und hergewendet werden. Man feilt und ziseliert daran herum, bis am Ende nur noch billige Schönheit da ist und der Inhalt sich verflüchtigt hat. Mir fällt das Gleichnis vom vortrefflichen Bogen ein. Der Besitzer des Bogens ist derart in dessen Trefflichkeit verliebt, dass er ihn gemäß verzieren möchte. Er schnitzt am Bogen herum und verschönert ihn mehr und mehr durch sein Schnitzwerk, doch als er ihn spannt, bricht der Bogen entzwei.

    Ah, – wo waren wir?

Am dritten Tag erreichten wir einen düsteren Gebäudekomplex. Man kennt das von Häusern in tiefen Alpentälern, wohin ein halbes Jahr die Sonne nicht scheint. Aber das Haus lag in der Ebene und litt trotzdem an Sonnenarmut. Ich trat durch ein offenes Tor auf den Hof und klopfte an die Tür des Haupthauses. Ein Mann wie ein Schemen passend zum schattigen Haus öffnete und ließ mich ein. Wie sagt schon Platons Sokrates: „Sprich, damit ich dich sehe.“ Was der Mann brabbelte, war für mich keine Sprache und so blieb er für mich diffus. Helen war mit Theo vor dem Tor zurückgeblieben, so dass mir nichts blieb, als seine Gesten zu lesen. Er bedeutete mir, warum in Gottes Namen wir in diese Gegend gekommen wären. Hierhin würden sich nie Touristen verirren. Das ganze Land werde von Touristen gemieden, wenn sie bei Verstand sind.

War Helen noch bei Verstand? Oder waren ihre finstere Gesinnung und ihre Hinwendung zum dubiosen Theo Ausdruck einer heftigen geistigen Erkrankung, wobei nicht zu sagen wäre, was eher da war, die Hinwendung oder die Gesinnung. Man schelte mich nicht eitel, dass ich einer Frau, die sich von mir abwendet, die geistige Gesundheit abspreche. Eher würde ich das Gegenteil behaupten, dass die Abwendung von mir geradezu ein Ausdruck geistiger Gesundheit ist. Wenn da nicht Theo wäre. Was für ein Name überhaupt? Jedenfalls erfasste mich ein Groll auf Helen, dass sie nicht dolmetschte, als wir aufbrachen und ich mich für die Gastfreundschaft bedanken wollte. Sie setzte dazu an – und verstummte, als wären mit einem Schlag alle Erinnerungen an die Sprache ihr gelöscht worden. Wir gingen, ohne zu wissen, wohin wir uns wenden sollten, um wieder zivilisiertes Land zu erreichen. Der Mann schien entschlossen, uns zu begleiten. Wir gelangten an einen Ort, wie ich nie zuvor einen gesehen hatte. Vor uns erhob sich eine Stadtmauer aus groben schwarzen Quadern. Rechts der Straße und dem Tor kam unter einem düsteren Brückengewölbe ein Flussbett hervor. Da war am Wegrand ein Quader abgestellt mit einem T-Zeichen darauf. Ich fragte mich, was es wohl bedeutete. Der Mann hob den Quader ins Flussbett und sagte etwas, das wie Deutsch klang: “Gegen Sperrmüll.“ Tatsächlich schien das Zeichen beachtet worden zu sein. Sperrmüll war nicht zu sehen. Dagegen lagen im Flussbett entblößt die trostlosesten Gesteinsbrocken, die ich je gesehen hatte. Der Fluss war fast versiegt. Ich sah, wie sich unser Begleiter flach auf den Bauch legte, wie um aus dem Rinnsal zu trinken, das vom Fluss übrig war.

Mich schauderte bei der Vorstellung, bäuchlings auf dem feuchten Boden zu liegen, Theo und Helen waren weitergegangen und ich folgte. Wir passierten eine Mauerpforte und stiegen über feuchte Steinstufen nach oben in einen Hof. Alles war aus diesen groben Quadern erbaut, deren Schwärze unter einer grünen Schicht von Flechten verdeckt war. Die Quader schienen jeden Lichtstrahl zu verschlucken, der sich in diese steinerne Trostlosigkeit wagte. Die gesamte Stadt war feuchte, moosbewachsene Düsternis. Ein Geschäft mit tröstlich beleuchtetem Reklameschild sahen wir nicht. Vergeblich hielten wir nach öffentlichen Gebäuden Ausschau. Ebenso fehlten die Menschen. Auch sorgte ich mich um den Mann, den wir bäuchlings im Flussbett zurückgelassen hatten. Ach, wie sehnte ich eine Bahnstation herbei, wo ein Zug vorfahren würde, um uns in zivilisierte Landstriche zu bringen. Da trat Helen nah an mich heran. Sie lächelte, und ich erwachte.

Einiges über Jack

Wenn auf dem Gehweg einer hinter mir herläuft, gehe ich langsamer, damit die aufdringliche Person überholen kann. Heute ließ ich mich wieder überholen. Es war ein stämmiger Mann in Jeans. Seine feisten Oberschenkel rieben aneinander, aber das schleifende Geräusch, das ihn begleitete, kam von seiner Jacke. Sie war nämlich künstlich. Auf der rechten Schulter trug der dickliche Mann ein Monogramm. Er hieß Jack Wolfskin. Das ist ein Allerweltsname wie Hans Meier. Ich habe schon Hunderte mit dem Namen Jack Wolfskin gesehen. Sie werden in einer Fabrik am Stadtrand aus Fleischklopsen geklont.

Das ist natürlich Quatsch. In Wahrheit sind es ganz normale Männer. Sie betreten in der Innenstadt einen Laden als sagen wir Hans Schafspelz und kommen wieder heraus als Jack Wolfskin. Für das Privileg, Jack Wolfskin zu heißen, bezahlen sie Geld. Dieses Phänomen hat etwas mit Mimikry zu tun. Das bedeutet: Harmlose Tiere ahmen das Aussehen von gefährlichen Tieren nach, um Fressfeinde abzuhalten. Welche Fressfeinde vom Monogramm Jack Wolfskin abgehalten werden, weiß ich nicht. Wir können aber von der Mimikry auf die Fressfeinde schließen. Sie müssen viel größer sein als ein dicklicher Mann mit feisten Oberschenkeln, damit sie ihn fressen können. Vermutlich handelt es sich um außerirdische Monster. Sie können Lateinschrift lesen und verstehen Englisch. Wenn sie auch noch mit der Konnotation englischer Namen vertraut sind, denken sie, dass Jack ein zäher Naturbursche aus lauter Muskeln und Samensträngen ist (Lumberjack). Seine Jacke sieht zwar nicht aus wie ein Wolfspelz, ist aber einer. Die außerirdischen Fressfeinde sind also ziemlich dumm, wenn sie glauben, ein Jack im synthetischen Wolfpelz wäre ungenießbar. Auf die Idee, einen aus der Haut zu pellen, sind sie offenbar noch nie gekommen. Vielleicht wäre ein Jack ohne synthetischen Tierpelz sogar ziemlich lecker.

Die Jack-Wolfskin-Mimikry hat einen erheblich positiven Nebeneffekt, nämlich die Begünstigung bei der Partnerwahl. Weibchen finden Jack-Wolfskin-Männchen besonders attraktiv und paaren sich gern mit ihnen, weil sie hoffen, dass man ihnen kleine Jacks macht, die ebenfalls nicht gefressen werden. Auf diese Weise findet eine natürliche Selektion statt. In wenigen Jahrzehnten wird man auf den Straßen und Plätzen nur noch synthetische Wolfshäuter sehen, die Jack heißen. Dann sind die außerirdischen Monster gekniffen.

Die teuersten Weihnachtskekse Hannovers

Nicht alle Tage wird einer meiner Texte von einer Journalistin aus Moskau vorgelesen, so geschehen auf der Weihnachtsfeier der Schreibgruppe, der ich seit einigen Wochen angehöre. Eine Kollegin hatte ein Textwichteln organisiert und vorbereitet. Wir hatten ihr kurze Texte zugesandt, und am Abend war ein Los des zu lesenden Textes zu ziehen, hernach der nummerierten Reihe nach vorzulesen. Die Journalistin war als Gast zugegen, und damit auch sie etwas vorlesen konnte, bekam sie einen überzähligen Text von mir, nämlich den hier: „Wer wollte da wach bleiben?“

Mir war ein wenig mulmig wegen der anzüglichen Stellen im Text, aber die junge Frau fand’s lustig und den Text gelungen, puh! Immerhin konnte ich mich rausreden, ich hätte nur einen Traum aufgeschrieben, aber die Gefahr bestand, dass sie gesagt hätte: „Deinen Kopf möchte ich ja lieber nicht haben.“ Ist sowieso klar, ihrer war viel hübscher.

Das Textwichteln war recht unterhaltsam, denn es galt auch zu raten, wer welchen Text geschrieben hatte. Ich lag dreimal richtig, kenne die Gruppenmitglieder ja noch nicht so gut. Passend zur Qualität der vorgelesenen Texte war das exquisite Weihnachtsgebäck, das auf zwei Etageren verteilt auf unserer Tischreihe stand. Die Kekse waren über Nacht einzeln von Adlern eingeflogen worden, weshalb uns das Café mit Recht einen exorbitanten Preis berechnete. Proletenhafte Fußballer verspeisen mit Blattgold ummantelte Steaks, wir feingeistigen Autorinnen und Autoren taten uns gütlich an Keksen zu fast fünf Euro pro Person. Da ich nur einen Keks gegessen habe, war das für mich der Stückpreis. Ein Fotobeweis dieses Beispiels einer nahezu obszönen Dekadenz existiert glücklicher Weise nicht. Der Tierschutzverein würde uns eins drüber geben, obwohl wir den Nachtflug der vom Aussterben bedrohten Adler zum Zwecke des Kekstransportes weder gewünscht noch veranlasst hatten.

Eine von 11 Losschachteln

Es ist derlei Dekadenz einfach so in unserer Welt, und ob wir wollen oder nicht, hat der Handel die Vorweihnacht und mithin das arme Christkind in Geiselhaft. Demgemäß kommt die weihnachtliche Innerlichkeit im Werbespot als Merci-Gesülze daher, was als tränenrührender Vorhang all das Elend der Herstellungsvorgänge und die Schäbigkeit der Produktionsbedingungen unserer Weihnachtskonsumgüter verdeckt, das und die aufzuzählen ich echt zu müde bin, zumal das jede/jeder selbst wissen kann.

Es war aber trotzdem ein vergnüglicher Abend, den wir in kleiner Gruppe noch in einem Lokal auf der Limmerstraße ausklingen ließen, erstens um auf einen Geburtstag anzustoßen und zweitens anzustoßen auf die Neuerscheinung meines Buches Goethes bunter Elefant, das es jetzt für kurze Zeit zum Einführungspreis von 99 Cent auch als E-Book gibt. Nicht zuletzt stießen wir an auf eine kuriose Neobooks-Autorenabrechnung für ein verkauftes E-Book, die mir jüngst zugestellt wurde über 55 Cent. Juhu! Das ist ja mehr als ein Zehntel Keks.

Hören wir ein fabelhaftes Weihnachtslied der Pogues:

Früher war hier alles schöner

Ein Freund hat mal erzählt, dass er im Zivildienst eine alte Frau betreute, für die sich die Grenzen zwischen medialer Realität und Alltag verwischten. Einmal hatte er gesagt: „Da haben Sie aber einen schönen Blumenstrauß.“ Sie wehrte ab, der sei zuvor viel schöner gewesen: Dann wären die kleinen Männchen aus dem Fernseher gekommen und hätten den Strauß gegen schlechtere Blumen ausgetauscht. Immerzu würden die Männchen die Dinge in ihrer Wohnung stehlen und gegen schlechtere austauschen. Wir wollen annehmen, dass dem nicht so war, sondern dass es sich um eine Wahnvorstellung handelte.

Meine Großmutter hatte das erste Radio im Dorf. Es war in einem Schrank untergebracht. Als einmal ein kleiner Junge zu Besuch war, der Freund ihres jüngsten Sohnes, ertönte aus dem Schrank eine Stimme. Da rief der Junge entsetzt: „Tant, Tant, do is ene Käel im Schaaf!“ (Tante, Tante, da ist ein Kerl im Schrank!) Aus einer ähnlich naiven Haltung gegenüber Rundfunkgeräten könnte die Idee stammen, Fernsehgeräte wären von kleinen Männchen bevölkert. Sie müssen kleiner sein als übliche Menschen. Sonst würden sie ja nicht ins Fernsehgerät passen, was zumindest für die Zeit vor den Fachbildschirmen gilt. Dass diesen Männchen nicht zu trauen ist, demonstriert das Fernsehen ständig. Bei der Übermacht von Kriminal- und Actionfilmen im TV-Programm könnte man tatsächlich auf die Idee kommen, das Fernsehen würde von Kriminellen beherrscht.

Die bildnerischen Mittel des Fernsehens werden eingesetzt, um die dargestellte Gegenwart zu überhöhen. Das gilt besonders für die Spots des Werbefernsehens. Dort scheint alles besser und schöner zu sein als in der Lebenswirklichkeit eines durchschnittlichen Menschen. Das Gras ist grüner, der Himmel blauer, die Menschen sind attraktiver und offenbar glücklicher, die Lebensverhältnisse besser, die angepriesenen Produkte sind optimal ins Bild gesetzt, Beschränkungen durch die Physik sind ausgehebelt, aus dem Off schallt Musik, tönen geheimnisvolle Stimmen und vieles mehr.

Angenommen, man kauft einen Blumenstrauß und stellt ihn in die Wohnstube, dann ist der Anblick zunächst etwas Besonderes. Aber schon beim zweiten Betrachten ist er redundant, und mit der Zeit nutzt sich der Anblick zunehmend ab. Der erste positive Eindruck schwindet und ist nicht mehr zurückzuholen, zumal ein Blumenstrauß verwelkt. Schuldige für diesen Prozess der Banalisierung zu finden, entlastet von der Idee der Vergänglichkeit. Im übertragenen Sinne ist die Erklärung der alten Frau sogar plausibel. Indem das Werbefernsehen stets ein überhöhtes Ideal zeigt, banalisiert es die Realität und stiehlt ihr ständig die Bedeutung. Somit hat die alte Frau eine passende Metapher dafür gefunden, wie Medien auf unsere Wirklichkeitserfahrung einwirken.

    Ich bitte vielmals um Entschuldigung: Hier stand früher ein viel besserer Text. Boshafte kleine Internetmännchen haben ihn gegen einen schlechteren ausgetauscht.