Von der Erschließung des Unbekannten

Mein Zug rollte in den schäbigen Bahnhof. Am Bahnsteig einige Hinweisschilder. Ich hatte Zeit, sie zu lesen und dachte, dass derlei Hinweisschilder auf einem menschenleeren Bahnhof dem ortsunkundigen Reisenden zwar Orientierung bieten, aber in unserer Zeit eigentlich Ausdruck sozialer Verwahrlosung sind. Doch es kommt auf den Kontext an. Anderorts sind Wegweiser eine soziale Errungenschaft. Jeder verirrte Wanderer dürfte innerlich jubeln, wenn er an einer einsamen Kreuzung von Waldwegen einen Wegweiser entdeckt, diesen stilisierten Arm mit zeigender Hand. Über die kulturelle und soziale Funktion von Wegweisern gilt es nachzudenken:

Als die Menschen noch nicht sinnlos reisten, kam es nur auf die Handelswege an. Soweit sie nicht über Flüsse, sondern über Land gingen, orientierte man sich an den Spuren der Vorgänger. In Europa werden das alte Römerstraßen gewesen sein, die wegen ihrer Gradlinigkeit geschätzt wurden. Die Kenntnis abseitiger Wege wird ein Wissen gewesen sein, das gehütet und vererbt wurde. In unruhigen Zeiten, wenn feindliche Heere oder marodierende Horden über Land zogen, wird man aus Sicherheitsgründen keine Wegweiser aufgestellt haben.

Außer Kriegsherrn und Händlern benötigte noch das Fahrende Volk Kenntnis der gangbaren Routen. Dieser Teil der Bevölkerung, im 18. Jahrhundert fünf bis zehn Prozent, musste unter anderem wissen, wo die sicheren Bleiben, die sogenannten „Kochemer Dörfer“ zu finden waren. Man tauschte die Informationen mit Gaunerzinken auf handgezeichneten Karten aus.
Das Wort „Kunde“, in der frühneuhochdeutschen Bedeutung „Bekannter, Vertrauter“ benennt in der Gaunersprache, dem Rotwelschen, einen „Fahrender, der eine Gegend zum 2. Mal bereist hat“, oft über geheime Pfade, die nur die Fahrenden kannten.

Napoleon ließ die besetzten Gebiete erstmals genau vermessen und kartographieren. Wie berichtet, hatte der preußische Staat nach dem Abzug der Besatzung wenig Interesse an der Kartographierung und ließ sie nicht mehr aktualisieren. Kartenwerk ist Herrschaftswissen, Kartenwerk in Feindeshand ist Fernkommunikation ohne Firewall. Wegweiser gehören demnach nur in sichere Zeiten und demokratisierte Gesellschaften. Vermutlich hat aber erst das Aufkommen des Autoverkehrs eine Ausschilderung der Gegenden nötig gemacht. Wegweiser abseits der Fahrstraßen wurden erst erforderlich, als der Tourismus begann. [Im Bild: Karte meiner Heimatumgebung aus der Zeit Napoleons]

Was ist jetzt so schäbig an Hinweisschildern auf einem menschenleeren Bahnhof? Sie ersetzen den menschlichen Rat, den Arm des Menschen, der einen Weg weist. Da wären Menschen genug, diese Aufgabe zu übernehmen. Einst haben solche Menschen bei der Deutschen Bahn ihren Dienst getan. Ein hilfsbereiter Schalterbeamter mit Dienstmütze gehört so weit in die Vergangenheit, dass die Rechtschreibprüfung meines Schreibprogramms, ihn rot unterkringelt. Man wird die Aufgabe eines Schalterbeamten nicht verlockend finden. Denn in der langen Wartezeit zwischen den Zügen, die einen entlegenen Haltepunkt anfahren, würde er nur tatenlos herumsitzen. Da ist es ökonomischer, ihn wegzurationalisieren. Tatenlos herumsitzen kann er auch zu Hause. Dann kostet er nur noch wenig.

Unter ökonomischen Gesichtspunkten verbietet sich ebenfalls eine leere Bahn, die stoisch nach Fahrplan fährt, obwohl zu später Stunde niemand einsteigen will. Beides, der hilfsbereite Bahnbeamte, der kaum je gefragt ist und die leere Bahn gehören zu dem, was ich „soziale Redundanz“ nennen möchte. Je mehr soziale Redundanz eine Gesellschaft hat, desto liebenswürdiger ist sie. Als die Deutsche Bahn die Fahrkartenautomaten einführte, stellte man ihnen bald Menschen an die Seite, die den überforderten Kunden bei der Bedienung halfen. So ein Automatenguide ist ebenfalls Ausdruck der sozialen Verwahrlosung, aber eine perfidere Spielart, der Mensch als Dienstbote einer Maschine.

Kaffeeplausch mit Frau Nettesheim – Wonach man sich zu richten hat

Trithemius
Denken Sie nur, Frau Nettesheim, ich will ins Teestübchen, um mit Ihnen zu plaudern, da verstellt ein Depp mir den Weg und fragt: „Haben Sie die Nachrichten der letzten Woche aufmerksam verfolgt?“ Bevor ich „Nö, wieso?“antworten kann, will er ein Quiz mit mir zu machen.

Frau Nettesheim
Sie belieben mal wieder, in Bildern zu sprechen, Trithemius. Was konkret ist passiert?

Trithemius
Mir ging am Morgen unser Dialog durch den Kopf. Ich habe den Rechner eingeschaltet, um ihn aufzuschreiben, da ploppt diese blöde Bing-Seite auf, Sie wissen schon, die mit dem Postkartenkitsch. Und mitten im Bild erscheint direkt beim Anmeldefeld: „Haben Sie die Nachrichten der letzten Woche aufmerksam verfolgt?“

Frau Nettesheim
Und? Haben Sie?

Trithemius
Warum um Himmels Willen? Warum soll ich wissen, ob ein Minister namens Lindner auf Sylt geheiratet hat oder wie es den wegen Brandstiftung auf Mallorca inhaftierten „Kegelbrüdern“ geht? Soll ich mir mit all dem Dreck den Kopf zukleistern lassen und in einem Quiz nachweisen, dass ich ein braver Infotainment-Trottel bin?

Frau Nettesheim
Das verlangt ja niemand. Aber ein grober Überblick über die Nachrichten scheint mir ganz nützlich zu sein.

Trithemius
Aha „nützlich.“ Sie wissen doch, hohe Frau, was das Wort „Nachricht“ eigentlich bedeutet.

Frau Nettesheim
„Wonach man sich zu richten hat.“

Trithemius
Ganz genau. Welche von den sogenannten Nachrichten enthalten Handlungsaufforderungen von Belang?

Frau Nettesheim
Der Wetterbericht, Veranstaltungshinweise und die Börsennachrichten.

Trithemius

Obwohl die Börsennachrichten für mich unwichtig sind, da ich keine Aktien besitze, ist das Thema nicht unwichtig. Als Aachenerin wissen Sie doch, womit die heute weltgrößte Nachrichtenagentur Reuters begonnen hat.

Frau Nettesheim
Der Bankkaufmanns Julius Reuter versandte die neusten Börsenkurse zwischen Aachen und Brüssel mittels Brieftauben.

Trithemius
Genau. Und noch heute macht Reuters über 90 Prozent seines Umsatzes mit Aktienhandel, genauer Hochgeschwindigkeitshandel. Das Nachrichtengeschäft ist nur Beifang. In diesen Kontext passt, was mir ein Freund letztens erzählte. Er meinte, die verlässlichste Zeitung sei das Handelsblatt. Dort werde schon frühzeitig über weltpolitische Entwicklungen berichtet, weil die Anleger eine Orientierungshilfe bräuchten, wo sie ihr Geld investieren oder besser abziehen sollten. Das sind relevante Nachrichten.

Frau Nettesheim
Aber sollten Sie nicht auch wenigstens Bescheid wissen, was geschieht in der Welt?

Trithemius
Sie meinen, was Medien berichten. Das weltweit Angebot von Agenturen und Zeitungen ist ja tendenziell endlos. Das Medieninstitut, für das ich mal gearbeitet habe, empfiehlt „selektives Lesen.“ Aber das führt ja dazu, dass man nur liest, was einem in den Kram passt. Ich empfehle „interessengeleitetes Lesen“, halte mich fern vom täglichen Tuten und Blasen, und wenn ich eine Frage habe an die Welt draußen, schaue ich nach, was mir die verschiedenen Medien dazu anbieten. Das hält mir den Kopf frei und ich werde nicht zugemüllt mit aufgebauschten Marginalien.

Frau Nettesheim
Aber Ihr Weltbild?

Trithemius
Speist sich wie bei allen aus innerer Einsicht und Alltagserfahrungen.

Tiefenbachs Pfirsische

Wir haben alles geklaut, nur keine Pfirsiche. Beim Bauern Alwiss saßen wir im Kirschbaum und habe uns an der Überfülle der prallen Kirschen berauscht, bis wir den Bauch voll hatten und die Kirschen nur noch zu Ohrgehängen taugten. Zwetschgen und Äpfel beim Bauern Bolzer waren uns kaum der Rede wert. Wir klauten, was wir erreichen konnten. Im Herbst warfen wir Knüppelholz in Alwissens großen Nussbaum, weil wir nicht nur die Nüsse vom Boden, sondern auch die wollten, die noch grün ummantelt im Baum hingen. Nur an die dicken saftigen Pfirsische der Gärtnerei Tiefenbach trauten wir uns kaum heran. Da ich weiß, wie köstlich sie schmeckten, müssen wir es einmal gewagt haben.

Die Gärtnerei Tiefenbach lag vereinzelt am Dorfrand. Das hoch aufragende Haupthaus der Gärtnerei war zwar von Kastanien umstanden und schien nie in der Sonne zu liegen, doch wenn der Wind in den Kastanien rauschte und das Laub zur Seite wischte, waren da hohe Fenster. Um die Gärtnerei zu erreichen, mussten wir eine offene Wiese überqueren, so dass man uns jederzeit aus dem Wohnhaus würde sehen können. Dann musste ein hoher Zaun überklettert werden, der das Gelände ringsum abschloss. Zudem war uns Gärtner Tiefenbach nicht vertraut. Wir waren schon oft vor dem Bauern Alwiss davongelaufen. Lachten über die stoische Weise, in der er uns verjagte. Duckten uns unter den finsteren Blicken des Bauern Bolzer. Aber den alten Tiefenbach hatte keiner von uns je gesehen. Er war nur eine gestaltlose Bedrohung. Seinen Sohn, stark wie ein Esel, den kannten und mieden wir. Aber der für uns unsichtbare alte Tiefenbach verbreitete nur namenlose Furcht.

Von ihm ging die Rede, dass die Amerikaner, als sie das Dorf eingenommen hatten, ihn ergriffen und ins Feld schleppten, wo sie ihn sein Grab schaufeln ließen. Dann sollte er sich ans Ende der Grube stellen, und ein Offizier hielt ihm eine Pistole an den Kopf. „Scheinhinrichtung“ hieß das. Ja, die Amerikaner hatten den Tiefenbach mit einer Scheinhinrichtung bestraft, wurde im Dorf erzählt. Er hatte wohl seine polnischen Zwangsarbeiterinnen bis aufs Blut gequält. Was genau er getan hatte, war nichts für Kinderohren. Die Erwachsenen hielten dicht. Nur war zu spüren, dass man mit Genugtuung von der Scheinhinrichtung berichtete. Es hatte wohl keinen Unschuldigen getroffen. Auch schien man nicht zu bedauern, dass Tiefenbach sich nach dem Geschehen nicht mehr zeigte. Ob er bei seiner Scheinhinrichtung übergeschnappt war oder ob er sich seiner Untaten schämte, er nahm jedenfalls nicht am Dorfleben teil.

Man muss wohl besonders dreist sein, um so einem die Pfirsische zu klauen. Aber irgendwann müssen wir das getan haben. Irgendwann, ich erinnere mich kaum, sind wir über den Zaun geklettert und haben Pfirsische von einem Baum gepflückt. Tiefenbach hatte sie reichlich. Unverständlich, dass der Herrgott solch herrliche Früchte im Garten eines Verderbten wachsen lässt. Das verstieß gegen mein Empfinden für Gerechtigkeit.

Wenn du lange genug in die finstere Nacht starrst, ergibt sie sich irgendwann und wird hell

Der junge Offizier erbot sich, Franz und mich die 650 Kilometer durch schier endlose Wälder zum Atomkraftwerk zu fahren. Wir kamen nie dort an. Obwohl die Straße fast schnurgerade verlief, wir nur eine einzige menschliche Siedlung sahen, wäre es wert, von der Reise zu berichten, wenn ich nicht in ein Senkloch gerutscht wäre.

Franz und der junge Mann standen redend beieinander, als ich den Fuß auf ein Feld mit Winterweizen setzte. Es hatte mich gereizt, dass noch einige Stoppel vom Sommergetreide sich trotzig reckten, obwohl das neue Korn bereits wuchs. Just die Stoppeln am Rain wollte ich mit den festen Sohlen meiner Arbeitsschuh niedertreten, wollte den starren Widerstand der trocknen Halme spüren und wie sie zerbrechend nachgeben müssten. Die Lust war geringer als ich gehofft hatte, und auf der Suche nach noch mehr Stoppeln streifte ich immer weiter übers Feld. Was einmal Wintergetreide werden sollte, wucherte wie hohes Gras. Unter dem kräftigen Wind wogten die dichten Büschel, legten sich nieder, richteten sich trotzig auf, verwirbelten, drehten sich wie die wilden Haare einer Nixe, dass mir war, als würde ich durch die sturmgepeitschten Wellen eines flachen Gewässers schreiten. Gerade legte sich ein sattes Grasbüschel verlockend vor mir nieder. Ich trat hinzu und sah zu spät, dass unter dem Büschel ein Senkloch im Acker sich aufgetan hatte. Wo ich auftrat, war der Boden nicht sicher. Ich rutschte ab, glitt mit den Füßen voran, und mit den Armen rudernd, fiel ich rücklings hinein.

Schon saß ich fest, wie in einer viel zu tiefen Badewanne. Mich daraus zu erheben, war schier unmöglich, so sehr ich mich mühte. Ich fand keinen Halt, mich hochzustemmen, und da meine Beine vor mir in den Trichter der Senke gerutscht waren, gelang mir auch nicht, einen Fuß oder das Knie unter den Körper zu bekommen. Wenn das Gras dicht bei mir niedergedrückt wurde, konnte ich in der Ferne noch Franz und unseren Fahrer sehen. Franz wandte mir den Rücken zu. Ich rief so laut ich konnte, doch der Wind wischte mir die Rufe vom Mund und trug sie in die falsche Richtung fort. Mein gestreckter Arm schien mir übers Gras zu reichen, so dass es sinnvoll war zu winken. Ich winkte, wedelte mit der Hand, bis mir der Arm erlahmte.

All die vergeblichen Versuche, mich aus der misslichen Lage zu befreien, hatten mich bald erschöpft. Mein Mut sank und ließ mich an das romantische englische Fräulein denken, das hinüber auf eine Rheininsel gerudert war, wo eine Turmruine lockte. Die hölzerne Treppe im Turm schien intakt zu sein. Neugierig stieg das englische Fräulein hinauf. Als es die Turmspitze erreicht hatte, brach mit Getöse die Treppe unter ihm zusammen. Da konnte es von den Zinnen aus winken, wie es wollte. Wenn Rheinschiffer vorbeiglitten, winkten sie zurück oder bekreuzigten sich. Jahre später, beim Abriss der Ruine, fand man das Skelett.

Wieder versuchte ich es mit Winken. Die beiden mussten sich doch allmählich fragen, wo ich abgeblieben war. Franz würde sich umdrehen und nach mir Ausschau halten. Ich wünschte, ich hätte etwas Weißes, ein Stück Stoff zum Wedeln, denn im trügerischen Licht der Abenddämmerung wäre meine Hand leicht zu übersehen. Mit Mühe zwängte ich meine Rechte in die Hosentasche, aber fand sie leer, tastete sodann nach den Knüppeln unter mir, auf die ich gefallen war und die mich schon die ganze Zeit schmerzhaft im Rücken drückten. Einen bekam ich frei. Ich musste dazu starr den Hintern anheben und rutschte durch diese Bewegung tiefer in den Trichter. Froh und erleichtert wollte ich den Knüppel in die Luft strecken, doch sah im letzten Augenblick, dass es der skelettierte Unterarm meines Vorgängers war. Die Hand baumelte noch daran. Nicht auszudenken, wenn der junge Offizier gesehen hätte, wie ein Skelett ihm winkt. Dann könnte ich mich glücklich schätzen, wenn er es beim Bekreuzigen beließe und nicht seine Pistole zücken würde, um dem Spuk ein Ende zu bereiten. Und wie die verstockten Burschen nun mal sind, würde er Franz nicht einmal sagen, warum er geschossen hätte.

Aber ich hatte verstanden, was mir drohte. Ich sah mein Schicksal vor mir, hatte es sogar in der Hand, ohne zu wissen, wie ich den Knochen loswerden konnte. Vom Grauen überwältigt, lag ich starr. Mich befiel eine lähmende Müdigkeit. Ich konnte die Augen nicht offen halten, sondern glitt in einen Tagtraum. Vor mir sah ich einen Haufen sauber gespaltete Holzscheite. Ich griff danach und zog sie an meine Brust. Mir schien, ich könnte mich an ihnen hochziehen. Da stand Franz hinter mir und fragte: „Brauchst du Hilfe?“

„Nein.“

Über die zarten Gewebe der Erinnerung

Es erhebt sich die Frage, ob die Archivare den Keller der Erinnerungen gründlich ausräumen. Immer seltener holen sie etwas hervor, wobei unklar ist, wie oft und sorgsam sie suchen. Wenn sie ein Fragment vor mir ausbreiten und ich beginne, es schreibend zu entfalten, geschieht Seltsames. Schon währenddessen befällt mich ein Zweifel, ob das Ereignis überhaupt stattgefunden hat. Die Nacherzählung löscht die Erinnerung aus. Was vorher zarte Handschrift und blasse Tinte war, ist mit fetten Druckbuchstaben überschrieben. Ob man die Erinnerung noch finden könnte, indem man die Überschreibung abschabt wie bei den Palimpsesten des Mittelalters, ist zweifelhaft.

    Palimpsest (griech.) Das ist: wieder (palin) abgeschabt (psestos)
    Angeblich aus Sparsamkeit oder Materialnot schabten die christlichen Mönche in den Skriptorien des Mittelalters die überlieferten heidnischen Texte vom Pergament, um es neu zu beschriften. Dass aber allein ökonomische Zwänge wirksam waren, erscheint sehr fragwürdig. Indem die Schreibermönche die heidnischen Texte abschabten und mit frommen Texten überschrieben haben, wurden die heidnischen Worte gleichzeitig unschädlich gemacht. Das erneute Beschreiben des abgeschabten Pergaments entspringt dem Überwindungsgedanken. Wie man die Heidentempel niederlegte und Kirchen oder wenigstens Kapellen darauf errichtete, wie man auf jedem Kultplatz ein Kreuz oder ein Bilderstöckchen aufstellte, so wurde das heidnische Denken durch die Kraft der überschriebenen heiligen Texte endgültig gebannt.

Da den Archivaren das Bewahren der Erinnerung am Herz liegt, ist nicht auszuschließen, dass sie manche Erinnerung nicht preisgeben, um sie zu erhalten und zu bewahren. „Bewahren“ für wen oder was denn? Ich bin der einzige Nutzer des Archivs. Niemand außer mir hat Zugang. Welchen Sinn hätte es, meine Erinnerungen vor meinem Zugriff zu schützen? Geht es etwa um Religion?

Die Poesie der Liste (2)

Die Poesie der Liste

Im hintersten Winkel meiner Festplatte fand ich heute eine Liste, die ich im Jahr 2003 erstellt habe. Dort sind SF-Romane aufgelistet, die im Zeitraum 1968 bis 1982 Jahre im Heyne Verlag erschienen sind und sich in meinem Besitz befanden. Im Jahr 2003 hauste ich nach einer Trennung in einem dunklen Eineinhalb-Zimmer-Apartment eines großen Neubaus in Aachen-Burtscheid. Ich hatte mir die Wohnung angesehen, als die Morgensonne hineinlugte. Zu anderen Tageszeiten lag sie im Schatten des darüberliegenden Balkons. Mein Leben verlief damals wie eine Achterbahnfahrt. Es gab nur jauchzende Höhen und niederdrückende Tiefen, selten Mittellagen, die mich zur Ruhe kommen ließen.

Damals entdeckte ich für mich den Internetmarktplatz Ebay und wusste endlich, was ich mit gut 400 SF-Taschenbüchern tun sollte, die ich aus Platzmangel lieblos im Keller aufbewahrte. Ein Schritt zurück:

Ende 1968 arbeitete ich zusammen mit meinem älteren Bruder in einer Kölner Druckerei. Zu unserem Feierabendritual am Freitagnachmittag gehörte, ins Zentrum zu fahren und in der Buchabteilung von Karstadt nach neuen SF-Büchern auszuschauen, die in einer Reihe aus dem Heyne Verlag erschienen. Mein Interesse an SF-Literatur hat mich auch während des Studiums in den 1970-er Jahren nicht verlassen. Einige Jahre zeichnete und gestaltete ich monatlich eine Seite für die Studenten-Zeitschrift „Aachener Prisma.“ Honorar gab es keines, aber man konnte bei einer Mitarbeiterin Rezensionsexemplare von Neuerscheinungen ordern. Das war besonders bei teuren Fachbüchern nützlich.

Irgendwann bat ich, bei SF-Verlagen Rezensionsexemplare zu bestellen. Ich wolle einen Aufsatz über Science Fiction verfassen. Ab dann sandte der Heyne Verlag regelmäßig seine gesamte Monatsproduktion, ohne ja eine Gegenleistung zu bekommen oder zu verlangen. Schenke einem Sammler die komplette Sammlung, und er wird das Interesse verlieren. So ging es auch mir. Die Bücher wurden mir lästig. Die meisten stellte ich ungelesen ins Regal, wo sie in zwei Reihen hintereinander verstaubten. Bei meinem Umzug nahm ich sie mit und deponierte sie im Keller. Für den Verkauf bei Ebay erstellte ich die Fleißarbeit der Liste. Ich glaube, ein Mann aus Freiburg hat die Sammlung für 440 DM gekauft. Die TB wären heute viel mehr wert, weil einige Titel lange vergriffen sind. Aber ich war jung brauchte das Geld.

Eine von 12 Seiten der Liste:

Mitten drin und trotzdem …

Einmal, lange ist’s her, in einer anderen Realität, saß ich am Aachener Münsterplatz in einem Café und beobachtete das Treiben draußen. Da kam ein alter Mann daher und fragte, ob der Platz an meinem Tisch frei sei.
„Klar, bitteschön!“
„Hier hat man ja einiges zu sehen!“, sagte er, stellte ein Tablett mit Kaffee und gedecktem Kirschkuchen ab und zwängte sich in den Stuhl.
„Ja, das ist ein Trubel – der Münsterplatz ist aber auch besonders schön.“
„Darum sitze ich hier gern“, sagte er, „man ist mitten drin, und trotzdem …“

Genau darüber hatte ich die ganze Zeit schon nachgedacht. Der Anlass war eine steinalte Frau gewesen. Sie war klein und dünn, ging krumm gebückt am Stock, denn sie trug einen ordentlichen Buckel unter ihrer Strickjacke. In ihrer kleinen linken Klaue ruhte der steife Bügel eines Damenhandtäschchens aus braunem Leder. Diese Handtasche war garantiert älter als du. Die Frau war rührend, wie sie da vorsichtig einen Fuß und den Stock vor den anderen Fuß setzte. Ich dachte, was sie da wohl in ihrem Handtäschchen hat? Da war Zeit genug, sich das auszumalen:

    – Ein sorgsam gebügeltes Spitzentüchlein. Bevor sie ausging, hatte sie ein paar Tropfen Kölnisch Wasser hineingeträufelt;
    – ein feiner Kamm aus Horn;
    – ein Fläschchen Klosterfrau Melissengeist;
    – das Portemonnaie mit Kleingeld.

Das alles braucht sie nicht, wenn sie nur die paar Meter unterwegs ist. Sie hält ihr Täschchen, doch eigentlich gibt das Täschchen ihr den Halt. Sie wäre ohne die Handtasche nicht angezogen, und wohin mit leeren kleinen Klaue wüsste sie auch nicht.

Irgendwann im Verlaufe seines Lebens hört der Mensch nicht mehr auf das hektische Bimmelimm des Lebens. Vorher hat seine Glocke noch ungefähr mithalten können. Jetzt wird sie langsamer, oder die Zeit läuft schneller, egal, irgendwann wird aus dem eigenen Bimm ein langsames Bamm. Manches im Leben hat eine endgültige Form angenommen, die Frisur, die Kleidung, der Musikgeschmack, der Tagesablauf … Nach und nach erlahmt die Neugier auf die Welt. Die Lebensbahn schwingt nicht mehr. Weit hinten, wo der gerade Weg sich perspektivisch verengt, ist auch das schwarze Stoppschild zu ahnen. Und rechts und links bleiben immer mehr von der eigenen Art zurück.

Als der berühmte englische Lexikograph Dr. Samuel Johnson von dem jungen James Boswell überschwänglich für sein Wörterbuch der englischen Sprache gelobt wurde, winkte Dr. Johnson ab. Von den Personen, denen er früher mit seiner Leistung hätte imponieren wollen, sei keiner mehr da. Damit der stattliche Dr. Samuel Johnson jetzt das Frauchen nicht verdrängt, sage ich mal, dass sein Beispiel eigentlich unnötiges Beiwerk ist. Ich habe den selbstgefälligen Kerl nur versehentlich rausgekramt.

Man ist mitten drin – und trotzdem …, darum geht es. Manchmal ist es gut, daran zu denken, wie stetig man sich auf das eigene Bamm zu bewegt. Es ist eine gute Methode sich wieder vernünftig auf das eigene Leben zu konzentrieren. Bevor du nur noch Bamm machst und bevor du das Stoppschild schon ahnen kannst, mach was Gutes aus deinem Leben, das Beste, was drin ist. Dann hast du auf dem letzten Stück deines Weges wahrscheinlich mehr bei dir als nur einen Stock und ein fast leeres Handtäschchen.

Von der Verachtung der Nachfahren

Ich hoffte, es hätte in der Nacht geregnet, doch was da gleißend von den Blättern der Eiche tropfte, war nur Sonnenlicht. Wenig Regen in Sicht – bei uns die Plage der Gartenbesitzer und Landwirte, doch nicht lebensbedrohlich. Das Bild eines kleinen pakistanischen Mädchens geht mir nicht aus dem Kopf. In der vom Austrocknen bedrohten Stadt Islamabad, bei 40 Grad und mehr, holt es an einer öffentlichen Wasserstelle Wasser für seine Familie. Derweil sein blauer Kanister befüllt wird, schaut es mit großen Augen neugierig und gleichsam ängstlich besorgt in die Kamera. Warum wird es gefilmt? Will man ihm das bisschen Wasser streitig machen, von dem das Überleben der Familie abhängt?

Tatsächlich hat das Mädchen VertreterInnen der Zivilisation gesehen, die indirekt für die lebensbedrohliche Wassernot ihrer Familie, Pakistans und anderswo verantwortlich sind. Reporter und Kamerateam sind nach Pakistan geflogen, der Story wegen, die sie an Fernsehanstalten verkaufen können. Der Reporter hat in der Stadt auch gewerbliche Wasserdiebe ausfindig gemacht, und lässt sie erzählen von korrupten Beamten in der Wasserbehörde, die den Diebstahl decken.

„Selber schuld“ ist eine der Botschaften der Reportage. Doch Wasserdiebstahl ist ein Begleiteffekt des Mangels. Die Reportage zeigt auch, wie dramatisch die Gletscher des Himalayas abschmelzen. Dann gelingt es nicht mehr, sich etwas in die Tasche zu lügen. Die Klimaerwärmung ist von den hoch entwickelten Industriegesellschaften verschuldet.
Alle Nutznießer dieser Hochentwicklung, also wir, tragen die Verantwortung mit. Noch suchen wir nach Auswegen, damit wir weitermachen können wie bisher. Die Umstellung auf Elektromobilität ist einer dieser dubiosen Auswege. Niemand weiß, wo all der Strom herkommen soll, wenn ein Ende der Verbrennermotoren gekommen ist und alle stattdessen mit E-Autos fahren wollen. „Von der Sonne, natürlich!“, rufen jene, die sich nicht ändern wollen. Erneuerbare Energie aus der ewigen Sonne. Natürlich wird die Sonne nicht ewig andauern, doch lange genug, um den Planeten unbewohnbar zu machen.

Im von der Sonne ausgedörrten Land Pakistan ist zu ahnen, dass die menschliche Art sich in den Untergrund wird zurückziehen müssen. Das Mädchen wird als alte Frau noch erleben, dass ihre Enkel das Tageslicht zu scheuen gelernt haben und gleich Schaben in den Felsritzen der Welt hausen werden. Im Inneren der Erde wird genug Wasser sein, bis die Gattung Mensch sich dem Leben im Untergrund angepasst hat. Es werden Albinos sein, mit riesigen Augen. Sie werden voller Verachtung an uns denken. Sind noch gar nicht geboren und verachten uns schon.