Mein Zug rollte in den schäbigen Bahnhof. Am Bahnsteig einige Hinweisschilder. Ich hatte Zeit, sie zu lesen und dachte, dass derlei Hinweisschilder auf einem menschenleeren Bahnhof dem ortsunkundigen Reisenden zwar Orientierung bieten, aber in unserer Zeit eigentlich Ausdruck sozialer Verwahrlosung sind. Doch es kommt auf den Kontext an. Anderorts sind Wegweiser eine soziale Errungenschaft. Jeder verirrte Wanderer dürfte innerlich jubeln, wenn er an einer einsamen Kreuzung von Waldwegen einen Wegweiser entdeckt, diesen stilisierten Arm mit zeigender Hand. Über die kulturelle und soziale Funktion von Wegweisern gilt es nachzudenken:
Als die Menschen noch nicht sinnlos reisten, kam es nur auf die Handelswege an. Soweit sie nicht über Flüsse, sondern über Land gingen, orientierte man sich an den Spuren der Vorgänger. In Europa werden das alte Römerstraßen gewesen sein, die wegen ihrer Gradlinigkeit geschätzt wurden. Die Kenntnis abseitiger Wege wird ein Wissen gewesen sein, das gehütet und vererbt wurde. In unruhigen Zeiten, wenn feindliche Heere oder marodierende Horden über Land zogen, wird man aus Sicherheitsgründen keine Wegweiser aufgestellt haben.
Außer Kriegsherrn und Händlern benötigte noch das Fahrende Volk Kenntnis der gangbaren Routen. Dieser Teil der Bevölkerung, im 18. Jahrhundert fünf bis zehn Prozent, musste unter anderem wissen, wo die sicheren Bleiben, die sogenannten „Kochemer Dörfer“ zu finden waren. Man tauschte die Informationen mit Gaunerzinken auf handgezeichneten Karten aus.
Das Wort „Kunde“, in der frühneuhochdeutschen Bedeutung „Bekannter, Vertrauter“ benennt in der Gaunersprache, dem Rotwelschen, einen „Fahrender, der eine Gegend zum 2. Mal bereist hat“, oft über geheime Pfade, die nur die Fahrenden kannten.
Napoleon ließ die besetzten Gebiete erstmals genau vermessen und kartographieren. Wie berichtet, hatte der preußische Staat nach dem Abzug der Besatzung wenig Interesse an der Kartographierung und ließ sie nicht mehr aktualisieren. Kartenwerk ist Herrschaftswissen, Kartenwerk in Feindeshand ist Fernkommunikation ohne Firewall. Wegweiser gehören demnach nur in sichere Zeiten und demokratisierte Gesellschaften. Vermutlich hat aber erst das Aufkommen des Autoverkehrs eine Ausschilderung der Gegenden nötig gemacht. Wegweiser abseits der Fahrstraßen wurden erst erforderlich, als der Tourismus begann. [Im Bild: Karte meiner Heimatumgebung aus der Zeit Napoleons]
Was ist jetzt so schäbig an Hinweisschildern auf einem menschenleeren Bahnhof? Sie ersetzen den menschlichen Rat, den Arm des Menschen, der einen Weg weist. Da wären Menschen genug, diese Aufgabe zu übernehmen. Einst haben solche Menschen bei der Deutschen Bahn ihren Dienst getan. Ein hilfsbereiter Schalterbeamter mit Dienstmütze gehört so weit in die Vergangenheit, dass die Rechtschreibprüfung meines Schreibprogramms, ihn rot unterkringelt. Man wird die Aufgabe eines Schalterbeamten nicht verlockend finden. Denn in der langen Wartezeit zwischen den Zügen, die einen entlegenen Haltepunkt anfahren, würde er nur tatenlos herumsitzen. Da ist es ökonomischer, ihn wegzurationalisieren. Tatenlos herumsitzen kann er auch zu Hause. Dann kostet er nur noch wenig.
Unter ökonomischen Gesichtspunkten verbietet sich ebenfalls eine leere Bahn, die stoisch nach Fahrplan fährt, obwohl zu später Stunde niemand einsteigen will. Beides, der hilfsbereite Bahnbeamte, der kaum je gefragt ist und die leere Bahn gehören zu dem, was ich „soziale Redundanz“ nennen möchte. Je mehr soziale Redundanz eine Gesellschaft hat, desto liebenswürdiger ist sie. Als die Deutsche Bahn die Fahrkartenautomaten einführte, stellte man ihnen bald Menschen an die Seite, die den überforderten Kunden bei der Bedienung halfen. So ein Automatenguide ist ebenfalls Ausdruck der sozialen Verwahrlosung, aber eine perfidere Spielart, der Mensch als Dienstbote einer Maschine.