„Bin ich durch’n Wind!“, stöhnte Chefredakteur Julius Trittenheim.
„Man sieht’s“, versetzte Volontär Hanno P. Schmock und zeichnete mit den Fingerspitzen unter seinen Augen Trittenheims Augenringe nach. „Woran liegts?“
„Schlecht geträumt: Ich sollte eine Unterrichtsstunde halten. Vor mir ganz erwartungsvoll etwa 25 mir noch unbekannte Kolleginnen und Kollegen und eine Handvoll Schüler. Zu Beginn waren meine Unterlagen verschwunden. Nach einigem Suchen tauchte ein dicker Ordner auf. Ich blätterte ihn durch – von hinten nach vorne, von vorne nach hinten, aber fand mich nicht zurecht. Das Auditorium verfolgte all meine Handlungen aufmerksam. Ich wusste nicht, was tun und erzählte zunächst etwas Belangloses, kündigte aber an, wir würden theoretisch und praktisch arbeiten. Dann fand ein aufmerksamer Schüler unter meinem Ordner eine gelbe Mappe. Sie enthielt offenbar das handschriftliche Konzept der Stunde, doch ich hatte nicht die geringste Ahnung, sah nur, dass eine Folie dabei lag und fragte nach einem Tageslichtprojektor. Den musste der Schüler aus einem Nachbarraum holen. Da fehlte aber das Kabel. In einer Vitrine stand ebenfalls ein Projektor sogar mit weißem Kabel. Ich tauchte mit Kopf und Schultern in die Vitrine ein, um den Stecker vom Projektor abzuziehen. Da sah ich, dass das andere Ende keinen Stecker für die Steckdose hatte, sondern in ein nutzloses Teil aus Messing in Form einer langen Patrone mit Kugelkopf auslief. Was für eine vergebliche Handlung und quälende Verzögerung, und gnadenlos verrann die Zeit.
Nachdem ich meinen Kopf aus der Vitrine gezogen hatte, fand ich in der Mappe bei meinen Unterlagen einen Haufen Zeitungsausschnitte, Texte und Fotos, hatte aber nicht die geringste Ahnung wozu. Jedenfalls teilte ich die aus, um die aufkommende Unruhe zu beschwichtigen, damit jeder erst mal beschäftigt war. Da ich die Menge an Ausschnitten deutlich überschätzte, die ersten aber ganz klein waren, manche bestanden nur aus einem Satz oder sogar nur aus einer Zeile, gab ich den Schülern jeweils eine Handvoll, doch für manche Kollegen hatte ich nichts. Ich musste dem ersten Schüler wieder einige Ausschnitte abnehmen. Der murrte, denn er hatte inzwischen völlig sinnfrei an alle, selbst an die kleinsten Textausschnitte schmale Halter aus Pappe geklebt. Als ich den Kollegen die Zettel mit Haltern austeilte, sah ich auf einem Tisch einen eingeschalteten Tageslichtprojektor, der zur linken Wand strahlte. Ich schimpfte, den hätte man mir doch zeigen können. Inzwischen hatte sich mir nicht die geringste Vorstellung eingestellt, was die Leute mit den Ausschnitten tun sollten. Das Konzept dieser Stunde war mir völlig entfallen, als hätte ein Fremder es aufgeschrieben. Bevor ich also die Folie auflegen konnte, erwachte ich, und mir war klar, dass ich vor gehabt hatte, den Projektor fälschlich an die Rückwand zu richten. Immerhin war mir noch ein Arbeitsauftrag eingefallen. Jeder sollte eine kurze Beschreibung seines Ausschnitts machen. Genauso sinnvoll wäre gewesen, an jeden weiteren Ausschnitt einen kleinen Halter aus Pappe zu kleben. War das peinlich. Noch völlig beschämt stand ich auf und wankte ins Bad, fühlte mich wie ein Betrunkener. Dann goss ich eine Kanne Tee auf und setzte mich hin, den Traum aufzuschreiben.“
„Das hätte ich doch tun können!“, sagte Marion Erlenberg, „schließlich haben Sie mich als Maschinenfräulein eingestellt.“
„Ich konnte nicht warten, denn ich wollte aufschreiben, solange die Eindrücke meines peinlichen Alptraums noch frisch waren“, sagte Trittenheim.
„Wohl am Abend zu sehr gezecht, Chef?“, sagte Volontär Schmock und grinste wissend.
„Überhaupt nicht, hatte keinen Tropfen Alkohol getrunken. Höchstens war da noch Restalkohol vom Hack-Treffen am Freitagabend, hatte sich in einem Winkel meines Körpers verborgen und war erst in dieser Nacht aufgespürt und in die Blutbahn geschwemmt worden.“
„Unwahrscheinlich!“, befand Frau Kirchheim-Unterstadt.
„Glaube ich selbst nicht“, sagte Trittenheim. „Vielmehr glaube ich, dass ich besoffen von eigenen Stresshormonen war. Gestern Abend habe ich mir im Fernsehen zwei dumme Filme angeschaut, einen irrsinnigen von einer chinesischen Mumie und später einen voller Gewalt. Da wurde geprügelt und geschossen, dass ich mich mittendrin mehrmals gefragt habe: Trittenheim, was guckst du dir fürn Mist an? Aber ich konnte mich der Gewaltorgie nicht entziehen. Die Faszination des Dummen. In der Nacht vermischte sich der Quark und bescherte mir quälende Alpträume, von denen ich den letzten erzählt habe.“
„Dabei wollten Sie noch von Ihrer Hamburgfahrt berichten“, mahnte die Kirchheim-Unterstadt.
„Ja, von der menschenleeren Hafencity, Klitschko, dem Huhn und Ihrem Linksdrall“, ergänzte Marion Erlenberg.
„Muss warten. Bin zu groggy.“