„Ist hier irgendwo Schwarz?“

Ziemlich genau zwölf lange Jahre ist es her, da waren im Teppichhaus Trithemius bei Blog.de ein Dutzend Kurzfilm-Videos zu sehen, die von Blogger*Innen meiner damaligen Community für die Mitmach-Aktion „Kurzfilmtage im Teppichhaus“ gedreht worden sind. An einen surrealen Beitrag von Freund Merzmensch wurde ich am letzten Sonntag erinnert, als ich während einer Radtour mit meiner Liebsten in der Sonne pausierte. Wir hatten eine freie Bank auf einem Spielplatz gefunden und saßen dort, als würden wir unsere Enkel beaufsichtigen. Da gab es exakt die kurios geformte Federwippe, die im Video „Der Alltag eines Ethnologen“ schier aus dem Häuschen gerät, damals so von mir anmoderiert:

    Die Weltformel? Ein Mann hatte im Mescalinrausch stets einen Satz vor Augen, in dem alle Weisheit der Welt enthalten schien. Doch wenn er aus dem Rausch erwachte, war die Antwort verflogen. Deshalb legte er sich Bleistift und Papier zurecht, um die Weltformel festzuhalten. Und tatsächlich gelang es ihm, den Satz aufzuschreiben. Beim Erwachen langte er nach dem Zettel und las die Weltformel. Da stand in krakeligen Buchstaben: „Die Banane ist gelb.“
    Dass die Dinge sind, wie sie sind, ist das wirklich die Weltformel? Die Banane ist gelb und nirgendwo schwarz? Auf diese Frage hat der Blogger Merzmensch in seinem Film „DER ALLTAG EINES ETHNOLOGEN“ eine „ethnologisch-ontologische Antwort“ gegeben: Die Welt ist MERZ. Sehenswert!

Schuld

In der fremden Universität war ich doch nicht allein. Eine Gruppe Student*Innen hatte mich freundlich aufgenommen. Gelegentlich, wirklich nicht oft, machte sich jemand aus der Gruppe über mein Alter lustig. Als ich mein Tagebuch erwähnte, fragte einer, ob das noch auf Papyrus geschrieben sei. Die jungen Frauen hingegen überspielten mein Alter und waren sehr freundlich, warteten beim Aufbruch geduldig, bis ich mich in meine Schuhe gekämpft hatte. Da war eine Leiter zu einer Dachluke zu bewältigen. Zunächst scheiterte ich. Der vor mir hochgestiegen war und meinen vergeblichen Versuch mitbekam, frozzelte, ich würde das niemals schaffen.

Ich wollte mich nicht lumpen lassen und stieg beim zweiten Mal mit mehr Elan auf die Leiter. Sie endete ein gutes Stück unterhalb der Luke, so dass ich die Arme hindurchstrecken und außen auf das Dach legen musste, um mich hoch zu hangeln. Das war schon ein mühsames Gewürge. Vor mir auf dem Dach lag ein Brett. Beim Versuch, meinen Oberkörper auf das Dach zu ziehen, stieß ich das Brett an. Zu meinem Entsetzen bewegte es sich und glitt auf die Dachkante zu. Ich konnte noch rufen: „Vorsicht Brett!“, da kippte es weg und sauste nach unten.

Sehnlichst hoffte ich, das Brett würde niemanden treffen und verletzen. Ich konnte ja nicht sehen, ob direkt am Haus welche unterwegs gewesen waren, sah nur die Leute weiter hinten auf dem Campus. Die wandten sich plötzlich mit besorgter Miene dem Gebäude zu und eilten heran. Zu den anderen auf dem Dach sagte ich: „Für das Brett konnte ich nichts. Es hätte nicht da liegen dürfen.“ Aber was hatte ich auf dem Dach zu suchen?

Keine, keiner traute sich nachzusehen, was das Brett angerichtet hatte. Wir stiegen wieder vom Dach, und eines der Mädels sagte: „Wir können morgen in der Zeitung lesen, was passiert ist.“
Das beruhigte mich aber nur für den Augenblick, denn es war mir klar, dass es meine moralische Pflicht war, mich zu dem Brett zu bekennen und mich zu vergewissern, wer zu Schaden gekommen war. Schon, um den jungen Leuten ein gutes Beispiel zu geben. Leider tat ich es nicht. Später sah ich einen Mann, dessen Kopf mit Mullbinden umwickelt war. Ich ging rasch vorbei. War es meine Schuld?

Rührstab für unterwegs

„Ohne meinen Pürierstab gehe ich nie aus dem Haus“, sagt Fernsehkoch Mirko Reeh im Interview mit dem Glüxmagazin. Unterwegs zum Bäcker lachte ich über die ungewollte Komik. Wenn ich aus dem Haus gehe, nehme ich Geldbörse, Maske und Schlüssel mit. Ich käme nicht darauf, einen Pürierstab einzupacken, wo es doch selten etwas ambulant zu Pürieren gibt. Selbst wenn jemand mit einer Schale Pommes aus der Tür des Dönerladens träte, wäre es unschicklich, ihm die Pommes zu pürieren. Versehentlich memorierte ich Reehs Aussage mit: „Ohne meinen Rührstab…“ Ein Rührstab wäre ein sinnvolles Utensil für unterwegs, wenn er auf zauberhafte Weise das bewirken könnte, was man unter „anrühren“ versteht.

Vor mir in der Schlange im Supermarkt stehend, verlangte eine alte Frau, ich solle einen Abstand „in der Länge einer Parkbank halten.“ Ich hatte mich getreu an den Markierungen am Boden orientiert und sagte: „Jetzt übertreiben Sie aber.“
„Nein!“, rief sie verzweifelt. „Wir haben einen ganz schlimmen Virus. Das können Sie in jeder Zeitung nachlesen.“ In seinem Wörterbuch des Teufels definiert Ambrose Bierce:

Derlei Zurückweisungen erfrischen nicht, sondern fühlen sich übel an, nicht nur, weil es ein mühsames Geschäft ist, eine Parkbank vor sich herzutragen. Und auch noch längs! Mein armer Rücken.

Bedingt durch die permanenten Aufforderungen zur sozialen Distanz ist die Begegnung im öffentlichen Raum unerfreulich geworden. Entgegenkommende warten vor Engstellen, um Nähe zu vermeiden, oder sie wenden den Kopf ab zur Seite. Ich ertappe mich dabei, für die Dauer der Begegnung die Luft anzuhalten. Das ganze Miteinander steht unter einem üblen Diktat. Ob das je wieder anders wird? Mir begegnete der Postbote von der blauen Post. Gerne hätte ich ihn gegrüßt, doch er schaute mit tieftraurigem Ingrimm zu Boden. Der Mann rührt mich immer wieder, auch ganz ohne Rührstab.

Jüngling der Schwarzen Kunst – Heiliges Alphabet

Hannes stand am Setzkasten und setzte eine Zeile in Versalbuchstaben. Er fragte:
„Warum sind im Setzkasten die Großbuchstaben nicht nach Buchstabenhäufigkeit sortiert, Herr Ewald?“
„Das sind ja die Alten. Sie residieren oben, alphabetisch aufgereiht, gemäß der alten Ordnung, während unter ihnen ihre Enkel und Urenkel quasi durcheinander wirbeln.“
„Die Kleinbuchstaben sind ihre Enkel?“

„Ja, sie sind im achten Jahrhundert aus den Großbuchstaben entstanden. Die Alphabetreihe galt von der Antike bis ins Mittelalter als heilig. Sie aufzulösen, ist Blasphemie. Indem wir die Kleinbuchstaben einfach nach Häufigkeit neu sortieren, bricht die Satztechnik mit der religiösen Tradition. Das muss man sich erst einmal trauen. Gutenberg hat es getan.“
„Was ist denn Blasphemie?“
„Gotteslästerung.“
„Also war Gutenberg kein frommer Mensch?“
„Vermutlich nicht.“
„Aber er hat eine Bibel gedruckt.“
„Vielleicht als Beschwichtigung des Vorwurfs, der Buchdruck sei Teufelswerk.“
„Darum heißt unser Handwerk Schwarze Kunst?“
„Eigentlich wegen der schwarzen Druckfarbe. Aber weil man lange Zeit dachte, der Buchdruck wäre vom Geldverleiher Johannes Faust erfunden worden, glaubte man an einen Teufelsbund. Ich kenne ein Gedicht von Franz Grillparzer:

    Du lichte Schwarze Kunst
    Ob Gutenberg ob Faust
    War man zu Recht im Zweifel
    Denn halb kommst du von Gott
    Und halb kommst du vom Teufel.

Wie zur Wiedergutmachung der Blasphemie liegen wenigstens die Großbuchstaben in der angestammten Alphabetreihe. Aber das ist meine persönliche Interpretation. Landläufig passt hier ‚Einen alten Baum verpflanzt man nicht.’“

Hannes überlegte eine Weile und sagte dann: „Ich glaube, das ist Quatsch, Herr Ewald.“
„Ich gebe dir gleich ‚Quatsch’“, schnaufte Ewald und packte Hannes am Kittelkragen.“ Hannes duckte sich weg und wand sich aus seinem Griff.
„Doch, Herr Ewald! Wenn ich irgendein Wort aus Versalbuchstaben setze, beispielsweise HERR EWALD REDET UNSINN, dann verpflanze ich die Großbuchstaben doch auch.“

Am Sonntagmorgen saß Hannes in seinem Zimmer an der Kommode, die ihm und seinem Bruder als Schreibtisch diente. Wie es seine Gewohnheit war, trommelte er mit den Händen auf der Tischplatte. Durch die Erschütterung kippte plötzlich eine Ansichtskarte hervor, die sein Bruder wohl zwischen einigen Büchern versteckt hatte. Es waren auf 26 kleinen Zeichnungen nackte Menschen mit sexuellen Handlungen beschäftigt, mal zu Zweit, mal hatten zwei Männer eine Frau gepackt. Dabei verrenkten sie sich so, dass ihre Körper die Großbuchstaben des Alphabets bildeten.

Als Hannes die Darstellungen betrachtete, begann das Blut in seinen Ohren zu rauschen. Er spürte wie sein Penis anschwoll und hart von innen gegen seine Hose drückte. Der sexuelle Rausch kam so plötzlich über ihn, dass es ihn überwältigte. Das alles war unkeusch, wusste er. Es verstieß gegen das sechste Gebot, aber sein schlechtes Gewissen kam gegen die drastische Sexualität der Zeichnungen nicht an. Er musste sich dringend Erleichterung verschaffen. Hannes ging ins Bad und schloss hinter sich ab. Von wegen „das Alphabet ist heilig.“

Das ist es! Cosma Shiva sei Dank

Vor der Tür des Hauptbahnhofs Hannover standen einige Leute und rauchten, auch ich. Eine Frau im schwarzen Business-Outfit sagte, sie werde sich das Rauchen abgewöhnen, wenn sie irgendwann einmal heirate, und schob nach:
„Wenn ich im Standesamt sitze, höre ich auf zu heiraten.“ Mit diesem ulkigen Versprecher hatte meine Nacht begonnen, nachdem ich mit dem ICE von Aachen zurück nach Hannover gereist war. Im Zug hatte ich geschlafen und geträumt, ich hätte versehentlich den rachsüchtigen ägyptischen Sonnengott Ra beleidigt und mir seinen Zorn zugezogen. Sein Name darf bei Nacht niemals genannt werden und ich hatte es getan.

Gegen zwei Uhr in der Nacht legte ich mich ins Bett und war der Meinung, meine pataphysische Forschungsreise sei ohne nennenswerte Zwischenfälle verlaufen. Sollte der ägyptische Sonnengott, dessen Namen ich vorsichtshalber nicht mehr erwähne, sollte er einen Groll auf mich gehabt haben, so hatte er mich offenbar nicht gefunden, weil er bekanntlich nachts nicht da ist. Im selben Augenblick gab mein Bett Geräusche. Obwohl ich mich nicht bewegte, begann es mehr und mehr zu knarren. Das Knarren ging in ein Knarzen über, dem Geräusch von brechendem Holz. Dann eine Sekunde des Verharrens, und indem ich aufatmete, brach mein Bett ein. Die Matratze sackte unter mir nach unten und blieb dann in der Schwebe.

Ich rappelte mich auf, machte Licht, stellte die Matratze hoch und betrachtete den Schaden. Unter der Mitte meines Bettes hatten sich zwei breite Stützen befunden. Sie waren abgebrochen. Da ich nicht mitten in der Nacht zu tischlern anfangen wollte, schob ich einen alten Setzkasten mitten unter mein Bett und erhöhte ihn durch einen Versandhauskatalog und die beiden abgebrochenen Bretter. Das hielt, und ich schlief ziemlich gut auf dem Relikt der Schwarzen Kunst und den tausendfachen Verheißungen des Katalogs.

Das war im Jahr 2009. Damals schrieb ich unter Graseinfluss am Internetroman „Die Papiere des Pentagrion“, unterstützt von einigen Bloggerinnen und Bloggern meiner Community bei Blog.de, hatte im Rausch diverse Derealisationserlebnisse, das heißt, die literarische Welt und Alltagsrealität vermischten sich zunehmend. Gestern, gut 12 Jahre später, trat diese Vergangenheit wieder hervor, als wir das inzwischen völlig marode Bett abbrachen, um Platz für ein neues zu schaffen. Der Katalog zeigte eine Hauptschülerin mit dem spirituellen Namen Cosma Shiva, was mir in der Nacht von 2009 vielleicht zugute gekommen, aber nicht aufgefallen war. Sie war ein wenig staubig, hatte aber die lange Zeit unter meinem Bett trotz mühsamer Abstützarbeit gut überstanden und kann jetzt zum Altpapier.

Pferd Behrens

In unruhiger Nacht träumte ich von einem Mann mit dem Vornamen „Pferd.“ Sein ganzer Name lautete Pferd Behrens. Mehr weiß ich nicht mehr. Aber ich erinnere mich an einen Kollegen im Referandariat namens Behrens. Sein Vorname ist mir entfallen. Nennen wir ihn Pferd. Pferd und ich, wir trafen uns wöchentlich im Fachseminar Deutsch. Zwei-dreimal bin ich bei ihm zu Hause gewesen, denn er wohnte mit seiner Frau und einem kleinen Kind wie ich im Aachener Frankenberger Viertel. Sie hatten zwei Zimmer, links und rechts des Hausflurs, was mir als sehr unbequem vorkam. Von seiner Frau erinnere ich nur noch, dass sie Gemütlichkeit verströmte, weil sie stets in plüschigen Schluppen umherging.

Pferd Behrens musste jeden Abend einen ganzen Kasten Bier austrinken, um schlafen zu können. Entsprechend aufgedunsen wirkte sein Gesicht. Es war immer hellrosa. (Ich erspare uns den Witz, er habe gesoffen wie ein Pferd.) Mich verband nicht viel mit ihm. Einmal wollte er mich zum Angeln am Fischteich seines Angelvereins mitnehmen, aber ich lehnte ab, weil mir Angeln als sinnlose Tätigkeit vorkam, vor allem für einen Vegetarier. Trotzdem hatten wir engen Kontakt. Der ging vornehmlich von ihm aus, denn er rief mich täglich mindestens einmal an. Wir schrieben zu dieser Zeit beide an unserer Examensarbeit. Mein Thema lautete: „Laterales Denken als Methode bei der Rezeption fiktionaler Texte im kommunikativen Literaturunterricht.“ Ich fand, schon wegen des Titels hätte ich eine Eins verdient gehabt, bekam aber nur eine Zwei plus, denn der Co-Gutachter fand, ich hätte zu viele Kommafehler gemacht.

Bei meiner Arbeit brauchte ich keine Hilfe, aber Pferd Behrens bei seiner. Er hatte eine neue Methode erdacht, wie man in Sätzen die Wortart Verb identifizieren kann. Wie das ging, weiß ich nicht mehr, aber das Thema seiner Examensarbeit war ebenso innovativ wie mein Thema. Ich fand es überflüssig, dass deutschsprachige Schüler*Innen in Sätzen nach Verben angeln, zumal der reine Grammatikunterricht in NRW abgeschafft war. Er kannte meine ablehnende Haltung zu isoliertem Grammatikunterricht für Muttersprachler, doch rief mich dauernd an, um mit mir grammatische Fragen zu erörtern. Seine Examensarbeit enthielt also einiges von meinem Gehirnschmalz.

Nach dem Zweiten Staatsexamen bekam er eine Stelle irgendwo im Selfkant, einer Region nördlich von Aachen, zog weg, ohne seine neue Adresse mitzuteilen, und meldete sich nie mehr – bis letzte Nacht. Da hatte er seinen Vornamen geändert in Pferd.

Verkehrt

„Als ich erwachte, lag das elterliche Schlafzimmer im Dämmer. Die Sonne des frühen Nachmittags schien durch den verschlissenen gelben Vorhang. Das Zimmer im warmen Schummerlicht war mir vertraut. An der Wand hing mein ganzer Stolz, die Weltkarte eines Margarineherstellers, auf der kleine Zeichnungen anzeigten, aus welchem Land die Rohstoffe für die Margarineherstellung kamen. In der gläsernen Lampenschale an der Decke krabbelte eine Fliege. Wenn sie gelegentlich summend aufflog, wurde ihr Schatten unsichtbar. Nach einer Weile Irrflug, bei dem sie mehrfach leise knallend gegen die Decke stieß, plumpste sie wieder in die Schale und wurde erneut sichtbar. Ich wandte den Blick ab, schaute hinunter und erstarrte.

Zu meinen Füßen lag ein Löwe und beobachtete mich regungslos. Er war weinrot. Ich wusste, es war nur der Faltenwurf der Steppdecke, der zufällig die Form eines liegenden Löwen hatte, aber wusste es der Löwe auch? Meine Angst wich nicht, und ich rührte mich nicht, bis meine Mutter das Zimmer betrat und mich aus der Gefahr erlöste.“

    „Wie alt bist du gewesen?“, fragte Coster.
    „Schätzungsweise fünf Jahre.“
    „Dann hast du eine frühkindliche Erfahrung geschildert, als du noch im magischen Denken befangen warst. Es regt sich allerdings schon die Erinnerung an die Wirklichkeitserzählung, in der Löwen nicht aus Steppdecken gemacht sind.“
    „Wirklichkeitserzählung?“
    „Die in einer Kultur übliche Weltsicht. Sie wird dominant, wenn die Sprachentwicklung abgeschlossen ist. Die Sprache gibt das Interpretationsraster vor. Aus ihr ist die Wirklichkeitserzählung gemacht und durch sie wird sie gefestigt. Was bislang außerhalb der Erzählung möglich war, wird nun ausgeschlossen und zum Bestandteil des magischen Denkens erklärt.“
    „Geben Sie ein Beispiel für die Wirklichkeitserzählung!“
    „Ein grundlegendes Element unserer Wirklichkeitserzählung ist die Rechtshändigkeit. Es werden auch Linkshänder geboren wie du weißt.“
    „10 bis 15 Prozent der Neugeborenen sind Linkshänder.“
    „Ja, doch unsere Sprache schließt sie aus. Es jemandem recht machen, Rechtes tun enthält einen moralischem Anspruch, recht im Sinne von richtig ist die herkömmlich Lebensordnung und Recht ist die staatliche Gesetzgebung. Rechtgläubig ist bei uns der Christenmensch, im Straßenverkehr gilt die Rechts-vor-Links-Regel. Kinder werden aufgefordert: „Gib das gute Händchen!“ Auch die Linkshänder unter ihnen lernen, dass die rechte Hand gemeint ist. Und nicht zuletzt bestimmt die Rechtschreibung die Form der schriftlichen Kommunikation. Da liegt die Idee nah, dass man Linkshänder beim Schreibenlernen auf Rechtshändigkeit umtrainiert.“
    „Es hat auch praktische Gründe: Linkshänder verdecken mit der Schreibhand das jüngst Geschriebene und verwischen es sogar.“
    „Deshalb ist ihnen linksläufige Schrift angemessen, linksläufige Spiegelschrift wie Leonardo da Vinci sie schrieb. Zum Glück haben ihn tumbe Schulmeister nicht umtrainiert. Er wäre nicht das Genie, als das er uns bekannt geworden ist.“
    „Das ist reine Spekulation, Coster. Es fehlt ein vergleichendes System, um das beweisen zu können. Zudem sind Leonardos Aufzeichnungen schwer zu lesen. Wenn man Linkshänder Spiegelschrift schreiben lässt, erschwert es die Kommunikation mit ihnen.“
    „Besser als die körperliche und psychische Gewalt des Umerziehens. Aber egal, es geht um die Wirklichkeitserzählung und wie sie Erscheinungen der Wirklichkeit einteilt in richtig und falsch, existent und nichtexistent. Nicht immer ist die Wirklichkeitserzählung beständig. Manche Menschen können sie bewusst ignorieren. Dann lässt sich das Alltägliche kritisch betrachten und neu bewerten. Eine nützliche Sache für Schriftsteller und Künstler. Doch wenn die Wirklichkeitserzählung unwillkürlich vergessen wird, geschehen den Betroffenen seltsame Dinge. Die Psychologie hat einen Namen dafür: Derealisationserleben. Umtrainierte Linkshänder erleben plötzlich ihre Gliedmaßen nicht mehr als ihre eigenen. Eine Freundin, eine umerzogene Linkshänderin, betrat mal einen ihr sonst vertrauten Supermarkt und fand ihn spiegelverkehrt.“
    „Hat sie wieder herausgefunden?“
    „Ja, aber sie musste an bedrohlichen Löwen aus Steppdecken vorbei.“
    T U P P E S !

Alptraum von Agenten

Unter Agenten gibt es den Fall des sogenannten Schläfers, also eines schädlichen Agitateurs, der eine Weile unauffällig und unerkannt unter einer bürgerlichen Tarnung lebt, um dann irgendwann aktiviert zu werden. Der bekannteste Fall ist der des Kanzlerspions Günter Guillaume.

Im Traum war ich in ein großes Mietshaus in der Endzeit der Nazidiktatur versetzt. Ich war ohne Zutun Mitglied einer Gruppe, die sich dem heimlichen Erhalt alter Nazistrukturen verschrieben hatte. Das wurde nicht offen ausgesprochen, aber ich sah es, sobald ich darauf aufmerksam geworden war. Man besaß und verwendete beispielsweise nur deutsche Produkte und vermied Fremdwörter, lehnte also überhaupt kulturelle Einflüsse von anderen Völkern ab. Mir war bald klar, dass es in all den Häusern der Stadt ähnliche Schläferzellen geben musste, wusste aber nicht, was dagegen zu tun wäre. Hier versickerte mein Traum, gab mir aber zu denken.

Nur scheinbar beruhigend wäre die Vorstellung, die Mitglieder der Schläferzellen würden alt und gebrechlich oder würden wegsterben, bevor sie gesellschaftliche Bedeutung erlangen könnten, entsprechend der Parabel, die Bert Brecht durch Herrn Keuner erzählen lässt in „Maßnamen gegen die Gewalt“:

    „In die Wohnung des Herrn Egge, der gelernt hatte, nein zu sagen, kam eines Tages in der Zeit der Illegalität ein Agent, der zeigte einen Schein vor, welcher ausgestellt war im Namen derer, die die Stadt beherrschten, und auf dem stand, daß ihm gehören solle jede Wohnung, in die er seinen Fuß setzte; ebenso sollte ihm auch jedes Essen gehören, das er verlange; ebenso sollte ihm auch jeder Mann dienen, den er sähe. Der Agent setzte sich in einen Stuhl, verlangte Essen, wusch sich, legte sich nieder und fragte mit dem Gesicht zur Wand vor dem Einschlafen: „Wirst du mir dienen?“ Herr Egge deckte ihn mit einer Decke zu, vertrieb die Fliegen, bewachte seinen Schlaf, und wie an diesem Tage gehorchte er ihm sieben Jahre lang. Aber was immer er für ihn tat, eines zu tun hütete er sich wohl: das war, ein Wort zu sagen. Als nun die sieben Jahre herum waren und der Agent dick geworden war vom vielen Essen, Schlafen und Befehlen, starb der Agent. Da wickelte ihn Herr Egge in die verdorbene Decke, schleifte ihn aus dem Haus, wusch das Lager, tünchte die Wände, atmete auf und antwortete: „Nein.““

Dass man irgendwann „Nein“ würde sagen können und die Sache wäre erledigt, ist sicher eine trügerische Hoffnung. Die Schläferagenten haben Nachkommen, unschuldige Kindlein, die mit der Zeit verdorben werden. Und sind sie bereit, Macht zu übernehmen, beherrschen sie all die schmutzigen Kniffe sowie die schädlichen rhetorischen Mittel und setzen die Skrupellosigkeit ihre empathielosen Eltern mit der Kraft ihrer Jugend ein, sind also noch schrecklicher und bösartiger als ihre fett und faul gewordenen Vorfahren. Also wird das Verderbte, das Asoziale weiterleben in den Häusern und nach gesellschaftlicher und politischer Macht streben, um genau dort weiterzumachen, wo die Großväter gescheitert sind.

Der Abschleppdienst muss abgeschleppt werden

Im Winter 2013/2014 ist das russische Kreuzfahrt- und Forschungsschiff Akademik Shokalskiy in der antarktischen See mit 74 Personen an Bord im Eis eingeschlossen worden, dann fuhr sich der zur Rettung herbeigeeilte chinesische Eisbrecher Xue Long (Schneedrache) im Packeis fest, und auch der australische Eisbrecher Aurora Australis konnte nicht zu den Eingeschlossenen vordringen.

Im arktischen Wintereinbruch unserer Tage spielte sich vor meinen Fenstern eine ähnliche Kuriosität ab. Zugegeben wars weniger dramatisch. Beim Versuch, einen geparkten PKW aus dem Schnee zu befreien, hatte sich ein Abschleppwagen des ADAC selber festgefahren und versuchte gut eine halbe Stunde wegzukommen. Ich hörte seinen Motor und die durchdrehenden Räder für die Dauer meines Mittagsschlafes. Als ich danach ans Fenster trat, war ein weiterer Abschleppwagen vorgefahren und versuchte den Kollegen freizuschleppen.

Doch das wirklich Ulkige war eine Dreiergruppe, die sich eingefunden hatte: Ein Kamera-, ein Tonmann und was der dritte tat, konnte ich nicht sehen. Der Kameramann eilte jeweils den ADAC-Fahrern hinterher, die gewichtig zwischen den beiden Fahrzeugen hin- und hergingen, der Tonmann folgte, der andere auch, drei eifrige Leute vom Fernsehen umschwärmten die Situation, damit man heute Abend in den Nachrichten zeigen kann, wie der Wintereinbruch sogar den ADAC in Schwierigkeiten gebracht hat.

ADAC steckt im Schnee – Foto: JvdL – größer: Klicken!

Dass ich mir gestern in ungewohnten Winterschuhen blutige Blasen lief, wird nur hier berichtet. Das kam so: Normalerweise kann ich mit der Linie 9 der Überlandwerke und Straßenbahnen Hannover AG (ÜSTRA) aus einer Randgemeinde bis fast vor meine Haustür fahren. Doch am Nachmittag war der Schienenverkehr aus dem Vorort eingestellt. Da stapfte ich gut zwei Kilometer durch den Schnee zu einer Straßenbahnlinie, auf der noch Bahnen fuhren, teils als U-Bahnen. Dann versuchte ich in der U-Bahnstation der Innenstadt in die Linie 9 umzusteigen. Sie wurde über die elektronische Anzeige angekündigt. Die Minuten zählten herab auf Null, aber die Bahn kam nicht. Stattdessen verschwand sie aus der Anzeige und eine andere wurde angekündigt. Eine Frau fragte bei der Informationssäule an. Der ÜSTRA-Mitarbeiter am anderen Ende vernahm erstaunt die Botschaft, dass die Bahn nicht gekommen war, stellte dann fest, dass er sie ebenfalls nicht mehr in seinem Computersystem hatte. Immerhin war er jetzt auch informiert, was zeigte, wozu Informationssäulen eigentlich gut sind. Nach kurzer Recherche sagte er, dass die Linie 9 vermutlich und gegebenfalls gar nicht mehr führe. Trotzdem kündigte das System fröhlich weitere Bahnen an.

Auf meinem erzwungenen Fußweg nach Hause warnte ich einen jungen Mann, der gerade einen Fahrschein ziehen wollte: „Das Geld können Sie sich sparen. Die Bahn fährt nicht.“
„Trotzdem danke!“, sagte er grimmig, als hätte ich den Bahnverkehr eingestellt. Wo an Haltestellen keine elektronischen Anzeigentafeln installiert sind, wartete man im Schneetreiben vergeblich auf die Bahn. Selbst die Üstra-App zeigte keine Ausfälle an, und ich konnte nicht jedem Bescheid geben, zumal die Überbringer schlechter Nachrichten sich den Zorn der Betroffenen zuziehen. Als ich an der Haltestelle nah meiner Wohnung vorbeiging, wurde endlich über Lautsprecher durchgesagt, dass der Linienverkehr eingestellt sei.
„Wir bitten um Verständnis.“

Na klar. Im Februar schneit es immer völlig überraschend. Außerdem sind die ÜSTRA-Verantwortlichen ja erst gestern von hinterm Mond eingewandert und konnten von den Warnungen der Wetterdienste nichts wissen. Und wenn sogar der ADAC im Schnee steckenbleibt, macht die ÜSTRA sich völlig zu Recht einen schlanken Fuß.

Pik-zehn auf der Hand – über Lesen und Verstehen

In der Schlusszsene von Roman Polanskis Politthriller „Der Ghostwriter“ wehen die Manuskriptseiten eines Buches durch eine Londoner Straße. Daran wurde ich erinnert, als ich auf dem Weg zum Bäcker eine große Anzahl von Buchseiten am Boden verstreut fand. Sie stammten von einem ausgesetzten Buch, dessen Leimung sich im Starkregen der letzten Tage aufgelöst hatte. Die meisten Seiten klebten völlig durchnässt am Boden und würden erst weitergeweht werden, wenn der Wind sie getrocknet hätte. Eine Seite klaubte ich mit spitzen Fingern auf, um sie zu Hause zu trocknen und zu scannen. Wozu?

Es lässt sich eine Übung damit machen, die ich aus dem Studium kenne, nämlich Texte ohne ihren Kontext zu beurteilen, um den Leseprozess besser zu verstehen. In den 1970-er Jahren richtete man in der Literaturtheorie den Blick vom literarischen Werk auf den Leser, getreu der Einsicht, dass Leser*innen einem Text erst Bedeutung geben. Ein Buch ohne Leserinnen/Leser ist nur ein Gegenstand aus Papier. Man kann wie Lichtenberg darauf stehen, Pfefferkuchen backen, es auf Mauslöcher pressen, nach Ratten damit werfen und allerhand mehr [E 308].

Erst wenn ein lesendes Auge die im Buch enthaltenen Worte erschließt, ihnen Bedeutung abgewinnt, wird ein Buch zur Literatur. Dabei sind die einzelnen Wörter kein neutrales Gefäß, in das eine Autorin/ein Autor einen gemeinten Inhalt hineingegossen hat, so dass ihn die Rezipienten eins zu eins herausnehmen können. Leser*innen müssen Wortinhalte mit eigenem Weltwissen verknüpfen können. So muss man beispielsweise wissen, dass mit der „Hand“ in Zeile drei (zum Vergrößern bitte anklicken!) nicht das Körperteil Hand gemeint ist, sondern die Kartenhand, also die jeweiligen Spielkarten, die Kartenspieler auf der Hand haben. In Zeile neun finde ich einen Lektoratsfehler: Im Satz „(…) als wolle sie ihr ein Geschenk machen“ [Konjunktiv I] muss es „wollte“ [Konjunktiv II] heißen, denn der Satz ist keine indirekte Rede, sondern gibt eine mögliche Handlung an. Im vorletzten Satz dieser Seite: „(…) sie ist doch eine alte Nutte, vergessen wir das nicht“ ist unklar, wen das „wir“ meint. Ist es Pluralis Majestatis und gehört zum inneren Monolog oder spricht die auktoriale Erzählerstimme?

Vermutlich ließe sich noch mehr finden. Diese kritische Betrachtung ist möglich, solange Autorin oder Autor und ihre Reputation unbekannt sind.

Unabhängig vom Textinhalt gibt der Text weitere Signale, die Verstehen und Interpretation beeinflussen: Die typographischen Signalelemente wirken außerbewusst. Zu sehen ist, dass es sich um eine Buchseite, nicht um eine getippte Manuskriptseite oder ein Schmierblatt handelt. Man kann also davon ausgehen, dass eine Gruppe sachkundiger Verlagsmitarbeiter den Text wert fand, ihn zu lektorieren, ihn typographisch professionell zu gestalten, zu drucken und zu publizieren. (Genau diese Sicherheit ist durch die Möglichkeit der Selbstpublikation im Schwinden begriffen.)

Soweit diese Übung zur Rezeption. Eine Nachrecherche ergab, dass die Seite aus dem Buch „Umarmen hat eine Zeit“ (1981) von der vielseitigen Schauspielerin und Autorin Lili Palmer stammt.