Fatale Nachricht aus Erinnerungswüsten

kategorie surrealer-AlltagFolgendes: Normalerweise kaufe ich Waschmittel beim Discounter, und wenn man mich fragte, wüsste ich nicht mal den Produktnamen zu nennen. Produktnamen nehme ich kaum wahr, kann und will ich mir auch nicht merken. Nicht mal wie Geschäfte heißen, beachte ich. Eine ganze Weile hatte ich mich beispielsweise gewundert, dass der Real-Supermarkt auf der Limmerstraße so anders aufgebaut ist als der Real-Markt nahe dem Lindener Hafen, bis ich mir die Mühe machte, genau hinzuschauen und las, dass Real auf der Limmerstraße eigentlich und wirklich Rewe heißt.

Als ich letztens dort vor dem Regal mit den Waschmitteln stand und nicht wusste, was nehmen, fiel mein Blick auf das Flüssigvollwaschmittel Ariel, und indem ich danach griff, memorierte etwas in mir: „Wäscht nicht nur sauber, sondern rein.“ Einen Augenblick war ich erschrocken und zweifelte an meinem Verstand, der sich meine Festnetznummer nicht merken kann, wohl aber den Werbeslogan eines Waschmittels völlig selbstständig memoriert.

Bevor man mich der Schleichwerbung verdächtigt: Nachdem ich damit gewaschen habe, kann ich sagen, dass der Geruch von Ariel mir unangenehm ist. Er macht mir sogar Kopfschmerzen und nicht zum ersten Mal. Den Geruch habe ich wiedererkannt. Ich hoffe, es ist keine spezielle Mnemotechnik erforderlich, damit mein Gehirn das jetzt endlich abspeichert und mich zukünftig vor weiteren Käufen warnt.

Der Slogan stammt aus dem Jahr 1967. Warum er sich irgendwann in meine Erinnerung einschleichen und seither dort lauern konnte wie ein heimtückischer Virus, schlummernd, aber hellwach und sofort zur Stelle, wenn ich Jahrzehnte später unschlüssig vor einem Regal mit den Waschmitteln stehe, weiß ich nicht. Offenbar hat mein inneres Ordnungsamt versäumt, Schwarze Sheriffs auszuschicken, die ihre Runden ziehen durch die Wüstungen der Erinnerung, den Gedankenmüll aus den Ecken aufstöbern und saubermachen, etwa:

eins - zwei - drei - hier kommt die Ordnungspolizei - Foto: JvdL

Eins – zwei – drei – hier kommt die Ordnungspolizei – Foto: JvdL

„Ariel? Kann weg! Ich erteile Platzverweis!“
„Aber ich bin auch ein Engel, mein Name ist Hebräisch und bedeutet der Löwe Gottes.“
„Wir glauben weder an Gott noch an Engel. Pack deinen Slogan und troll dich!“
„Ariel ist ein Elementargeist, Huhu!“
„Wir glauben auch nicht an Elfen, Gnome und das ganze Gezücht. Sonst noch was?“
„Arielle ist Disneys kleine Meerjungfrau.“
„Das ist doch nur was für sodomitische Päderasten! Raus jetzt!!! Raus! Raus! Raus!“
„Sie, Herr Sheriff! Ariel, wäscht auch schwarze Sachen nicht nur sauber, sondern rein!“
Welch ein hartnäckiger Dreck!

Die Besucherin

Kategorie KopfkinoDer See war in Aufruhr. Der Wind trieb unaufhörlich wie lebendig zuckende Wellen vor sich her, bis sie gegen das befestigte Nordufer klatschten. Ich stellte mir vor, dass die fetten Maschseekarpfen sich dicht an den Grund des flachen Gewässers drücken müssten, um nicht von der Strömung mitgerissen und an die Kaimauer geschmettert zu werden.
„Sei mal nicht so dramatisch, Trithemius“, sagte Coster. „Natürlich haben die Karpfen weit draußen eine ruhige Bucht, wo sie sich tief in den Schlamm buddeln können. Im Schlick fühlen sie sich geborgen, weshalb man Maschseekarpfen vor Schlachtung und Verzehr mindestens eine Woche in der Badewanne halten sollte, damit sie den Schlammgeschmack loswerden.“
„Was Sie wieder zu wissen glauben, Coster!“
Eigentlich war es kein Wetter, um noch draußen zu sitzen, obwohl die Terrasse des Museumscafés durch eine brusthohe gläserne Einfassung gegen Wind geschützt war. Mich fröstelte trotzdem, denn es hatte leicht zu regnen begonnen.
„Wir wollen etwas anderes reden“, sagte Coster und sah unentwegt an mir vorbei zum Kurt-Schwitters-Platz hin. Du erinnerst dich gewiss noch an meine Metapher von der aufstrebenden Stadt, Trithemius.“ Weiterlesen

Retro total – Über die bald mögliche Simultanität der Zeiten und wie sie das Ende der Menschheit bringt

Kategorie KopfkinoWie derzeit das Akustische und Visuelle vergangener Zeiten sehr genau reproduziert werden kann, zeigen Schallplatte und Film aus den 1960-er Jahren. Wie heute sogar dreidimensionale Klänge und Bildwelten sich digital speichern lassen und jederzeit reproduzierbar sind, so könnte es eines Tages gelingen, auch den haptischen Erfahrungsbereich sowie Gefühle perfekt zu konservieren und für spätere Zeiten reproduzierbar zu machen. Zusammen mit Bild und Ton ergäbe das die Simultanität der Zeiten ohne Zeitparadoxon, denn insgesamt schritte der Mensch weiter in der Zeit voran. Weiterlesen

Ach, die unbedachten Worte

kategorie surrealer-AlltagAuf der obersten Etage wohnt eine dunkelhaarige Schönheit. Einmal, schon was länger her, kam ich spätabends zurück aus dem Vogelfrei, wo ich mit den Herren Leisetöne, Putzig und D’accord beim Bier gesessen hatte. Gerade wollte ich die Haustür aufschließen, als zwei junge Frauen herantraten und vertraut grüßten. Ich sagte erstaunt: „Ach, Hallo, Sie wollen auch ins Haus? Ich hatte Sie leider nicht sofort erkannt.“ „Ja“, sagte die eine, „man kennt sich ja gar nicht hier im Haus.“ Darauf antwortete ich, was mir augenblicklich Leid tat: „Doch Sie kenne ich. Sie kommen immer wie ein Gewitter die Treppe runter.“

Es hatte wie Kritik geklungen, war mir klar. Doch tatsächlich habe ich mich immer gefreut, ihre geschwinden Schritte auf den Treppen zu hören, die auf den Holzstufen wie ein anschwellender Trommelwirbel klangen und mich, der ich in derlei Rhythmik verliebt bin, für sie eingenommen hatten. Ich liebe das rasche Trapptrapptrapp, dieses Ungestüme junger Weiber, denn es gehören Bewegungsgeschick und ein flinker Geist zu derart raschen Schritten. Als junger Mann war ich auch schnell treppab, aber es war mehr ein geländergestütztes Überspringen von mehreren Stufen, nicht diese rasche Abfolge von links, rechts schöner Füße.

Leider hat sie sich meine unbedachte Bemerkung zu Herzen genommen und hinfort ihre Schritte gezähmt, und ich fürchte, sie hat ihr ganzes Wesen dazu zähmen müssen. Das habe ich nicht gewollt. Ich will nicht Schuld sein an einem Geschäft, das Angelegenheit des Lebens und der Zeit ist. Dieses Pärchen besorgt ihr das langsame Treppab früh genug und braucht meine Hilfe nicht. Wie gern würde ich meine unbedachten Worte zurückholen.

Stattdessen die passenden Rhythmen:
White Rabbits
Percussion Gun

Doofes Laub und was man dagegen machen kann

kategorie alltagsethnologieHeute traf ich mehrere Arbeiter der Stadtreinigung mit Laubbläsern. Es waren neue Geräte, denn beinah wurden sie durch den Verkehrslärm übertönt. Ich habe einen der Männer zur Rede gestellt, was er sich dabei dachte, seine Arbeitszeit und meine Steuergelder mit einem wirkungslosen Gerät zu vertändeln. „Ihr Laubbläser hat ja höchstens 120 Db“, habe ich gesagt und: „Das ist für hannöversches Laub doch gar nichts. Schließlich ist es in der lautesten Stadt Deutschlands aufgewachsen und jetzt im welken Alter längst taub. Ihr Spielzeug-Laubbläser kommt gegen diese Laubtaubheit nicht an. Er ist viel zu schwach. Da kann das tückische Laub sich doof stellen.“

„Hören Sie!“, sagte, rief, schrie, brüllte der Mann und übertönte spielend seinen Laubbläser im Leerlauf. „Hören Sie, Ihre Einwände sind durchaus berechtigt! Doch verantwortlich für die Anschaffung des viel zu leisen Geräts bin ich nicht. Meine Vorgesetzten haben es mir einfach auf den Buckel geschnallt! ‚Was soll ich damit?‘, habe ich gesagt! ‚Das Gerät bewirkt doch nichts. Es ist ja kaum lauter als ein Bus.‘ Und wissen Sie, was mein Chef gesagt hat?!“

„Woher denn?! Ich kenne Ihren Chef nicht mal!“

„Danke, danke, Herr Doktor, Herr Professor“ – Schnapsschuss: JvdL

„Er sagte, die Laubbläser mit den Düsentriebwerken seien einfach zu teuer im Verbrauch. 120 Db müssten reichen!“

„Wenn das so ist, dann bitte ich um früheres Anfangen mit der Laubbläserei, möglichst schon um vier Uhr, um die Leistungsschwäche Ihres Bläsers zu kompensieren. Wenns noch leise in der Stadt ist, hört das Laub besser und wagt es nicht länger, faul rumzuliegen. Nur, wenn es sich bequem auf einen weichen Hundehaufen gebettet hat, lassen sie es besser ruhen, wegen des Glücksfaktors, verstehen Sie?!“

„Donnerwetter, Sie kennen sich aus! Vielen Dank für Ihre hilfreichen Bemerkungen, Herr Doktor. Ich schätze mich glücklich, in Ihnen einen versierten Experten der professionellen Laubbläserei getroffen zu haben, Herr Professor!“
„Gerne! Man hilft, wo man kann.“

Heult doch – alle!

Kategorie zirkusDie Handlungsfähigkeit der EU stünde auf dem Spiel, tönte es gestern im regierungstreuen Verlautbarungsorgan „heute-journal“ (ZDF). Die kanadische Handelsministerin, Chrystia Freeland, sei „unter Tränen“ abgereist, nachdem der Abschluss des unterschriftsreifen Handelsvertrags CETA am Widerstand des wallonischen Regionalparlaments vorerst gescheitert ist. „Wir sind doch Freunde“, bekundete sie ihr Unverständnis der wallonischen Bockigkeit. Dass man in der EU die ablehnende Entscheidung eines demokratisch gewählten Parlaments nicht akzeptieren will, zeigte sich am Statement Angela Merkels: „Bei uns dauert es eben manchmal länger.“ Das enthielt ja die Botschaft: „Wir Konzernfreunde finden schon einen Weg.“ Ähnlich äußerte sich der Premier der belgischen Zentralregierung Charles Michel: „Wir sitzen noch am Verhandlungstisch, und wenn man am Tisch sitzt, dann muss man wild entschlossen sein, alles zu tun, um der Lösung eine Chance zu geben.“ Entsprechend nennt FAZ.net die demokratische zustande gekommene Ablehnung „Proteste“, als ginge es um ein paar aufgebrachte Milchbauern, die wichtige Zufahrten mit ihren Treckern blockieren. Passend hatte man bei heute einen ausgemergelten wallonischen Biobauern gezeigt, der ein paar kümmerliche Feldfrüchte in der Hand hatte, bei dem jeder dachte, den und das kann man getrost vergessen.

Ach, sie halten uns ja für so dumm. Sie glauben, wir sind kleine Mädchen, denen man was vom Pferd erzählen kann. Weniger blumig hatte sich der wallonische Ministerpräsident Paul Magnette, im Zivilberuf Politikwissenschaftler, geäußert, dass man bei der EU glaube, er hätte CETA nicht verstanden. Magnette kritisiert, was auch Hundertausende Bürger der EU als Bedrohung ihrer Demokratien ansehen, die Regeln zum Investorenschutz, die Schiedsgerichtsbarkeit für Investoren und die mögliche Privatisierung von hoheitlichen Aufgaben. Was wir verstanden haben: Unsere Volksvertreter wollen einen Teil ihrer Zuständigkeit aus der Hand geben und dem freien Spiel von Konzerninteressen ausliefern.

Ich war in die heute-Sendung geraten, weil ich die anschließende Heute-Show sehen wollte. Dass den Autoren dieser Satire-Show kein Wort zum CETA-Trauerspiel eingefallen war, ist schwer vorstellbar. Möglicherweise hatte man aber keine Zeit und musste wichtigere Themen behandeln wie die Tatsache, dass die Käufer von VW-Dieselfahrzeugen in den USA entschädigt werden, in Deutschland aber nicht, was wieder mal zeige, dass US-Behörden es mit dem Konsumentenschutz ernster meinen als unsere. Eine interessante Darstellung von Moderator Oliver Welke, weil CETA von Kritikern als trojanisches Pferd angesehen wird für TTIP, den Handelsvertrag mit den USA. Wir lernen, die Verträge können so schlecht nicht sein, zumindest nicht für den, der einen VW-Diesel besitzt und US-Bürger ist.

Blödes Schwenkfutter - Quelle: ZDF-Heute-Show

Blödes Schwenkfutter – Quelle: ZDF-Heute-Show

Schon bei der Heute-Show zuvor, am 14. 10. waren mir Zweifel an der Zielrichtung der ZDF-„Satire“ gekommen. Da setzte man sich mit den Hasstiraden auf Facebook auseinander, deren Löschung Bundesjustizminister Maas verlangt. Dem Zuschauer wurde vermittelt, dass es dem Männlein im Kommunionsanzug nicht gelingt, sich mit seinen Vorstellungen bei Facebook durchzusetzen. Maas gegen Facebook wäre als würde Margot Käsmann gegen beide Klitschkobrüder boxen. So weit, so lustig. Doch zuvor, als die Kamera über das Publikum strich, das bei jeder abgehandelten Ungeheuerlichkeit klatschend und jubelnd auf den Sitzen hüpft, und sich freut, auch mal im Fernsehen zu sein, da fand das ZDF nichts dabei, den facebook-Account der Heute-Show einzublenden.

In Österreich ist die Verbindung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks mit Facebook verboten.
Ist ja auch Schleichwerbung für einen Konzern. Doch wenn es um Konzerninteressen geht sind wir alle längst verkauft und nur noch blödes Schwenkfutter – im Zirkus des schlechten Geschmacks.

Coster liest den Herbst von drinnen

Kategorie KopfkinoZur herbstlichen Melancholie habe er keine Lust, sagte Coster. Der dubiose Professor für Pataphysik an der Technischen Hochschule Aachen schaute aus dem Fenster hinüber auf den kleinen Park. “Ich mag es, wenn die Bäume sich biegen und vergeblich vor dem Wind verneigen, der ihnen mitleidslos die Blätter raubt. Aber auch wenn kaum Wind geht wie heute und unablässig Regen fällt, als würde es nie mehr etwas anderes geben, und ich stehe am Fenster, die Beine am Heizkörper, durch den wohlig warm das Wasser blubbert, das lässt mich angenehm schaudern.“

„So schwärmerisch kenne ich Sie gar nicht“, sagte ich. „Das würden Sie anders sehen, wenn Sie nur eine nasse Parkbank hätten und Ihnen der Regen die Zeitungen durchweicht, mit denen Sie sich bedeckt halten.“
„Natürlich“, murmelte er und wandte sich vom Fenster ab. „So lange ich kein Leben als Obdachloser führen muss, erlaube ich mir, den Herbst zu lieben. Da stehe ich morgens auf und weiß nicht wo anfangen vor lauter Schaffensdrang. Früher habe ich die Zeit auch gern in der Institutsbibliothek verbracht. Denn gibt es eine bessere Gesellschaft als ein kluger Geist, der zwischen Buchdeckeln wohnt? Du klappst das Buch auf, und Blatt für Blatt spricht er zu dir. Wusstest du, dass das Umwenden der Seiten in Tibet als wesentlicher Bestandteil des rituellen Lesens gilt? Die Tätigkeit ist ein Teil der Verbalisierung. Coster verstummte und sah wieder hinaus. Dann sagte er leise: Bei Rudolf Arnheim habe ich schöne Verse von der amerikanischen Dichterin Denise Leverton gefunden: Weiterlesen

Nachricht aus dem Toten Briefkasten

kategorie alltagsethnologieLang ist’s her, da sah ich einen Ex-Agenten des KGB im niederländischen Fernsehen. Er plaudert einiges über die Kommunikations-Methoden des KGB aus, also wie man Nachrichten austauschte, bevor es das Internet gab. In fremden Städten unterhielt man für die Agenten Tote Briefkästen. War eine Nachricht hinterlegt, wurde auf dem Bürgersteig Joghurt ausgekippt. Die Farbe des Joghurts markierte die Dringlichkeit der Nachricht. „Warum Joghurt?“, fragte der Reporter.
„Weil Joghurt auf dem Bürgersteig eklig aussieht. Alle machen einen Bogen darum.“

Auf dem Weg durch die Stadt sehe ich manchmal, dass jemandem nächtens sein Essen aus dem Gesicht gefallen ist. Dann denke ich immer: Wer weiß, welcher perverse Nachrichtendienst hier einen Toten Briefkasten unterhält. Aber dass Kotze etwas anderes bedeutet als Kotze, ist Romantik früherer Tage.

Nur die Post hat noch Tote Briefkästen, also nicht die Briefkästen, die nur einmal in der Woche geleert werden. Es sind solche grauen Kästen, die unauffällig in der Stadt aufgestellt sind und zu den Stadtmöbeln zählen. Sie werden am frühen Morgen mit Briefen beschickt. Die Postboten der jeweiligen Bezirke laden dort ihre Karren nach. Früher hatten sie nur eine Fuhre, mit der sie sich morgens aus dem Postamt auf ihre Tour machten. Heute haben sie vielleicht fünfmal soviel, weil die Zustellbezirke vergrößert wurden. Deshalb rennt meine Postbotin auch immer so. Bei mir klingeln zwei Postboten, morgens einer von der blauen, mittags von der gelben Post. Sie klingeln, um ins Haus zu kommen, nicht weil sie Post für mich hätten. Beim blauen Postboten beeile ich mich, die Tür zu öffnen, besonders wenn’s regnet. Der junge Mann hat meine Hochachtung. Sein Gehalt reicht garantiert nicht, um jemals eine Familie zu gründen, denn er verdient ein Drittel weniger als der gelbe Kollege, und der bekommt schon wenig.

Postbote pausiert - Foto: JvdL

Postbote pausiert – Foto: JvdL

Weil er bei jedem Wetter auf dem Spielplatz vor meinen Fenstern Pause macht, muss ich viel über ihn nachdenken. Wie schaut er wohl in diese Welt? Bei schlechtem Wetter wie heute würde er gewiss lieber warm und trocken in einer Bäckerei sitzen, sich von einer rundlichen Verkäuferin einen heißen Pott Kaffee bringen lassen, in ein frisch belegtes Brötchen beißen und seine Zeitung lesen. Aber er hockt auf einer zugigen Bank, trinkt Kaffee aus der Thermoskanne, isst ein Brot, das er sich mitten in der Nacht auf dem Klodeckel geschmiert hat, weil er auf dem Küchentisch die Post sortieren muss, sitzt da und zankt sich mit dem nasskalten Wind um die Zeitung.

Obwohl beide Boten bei Wind und Wetter unterwegs sind, verödet mein Briefkasten langsam. Seine Ödnis passt zum Leben der Leute, die ihn befüllen, meistens aber nicht befüllen. Ich schließe den Briefkasten aus reiner Gewohnheit auf. Fast täglich gähnt mich das hässliche Blechmaul an. Ab und zu finde ich allerdings Lang-DIN-Umschläge mit Briefen, die von Textautomaten geschrieben wurden und „gültig ohne Unterschrift“ sind. Dazwischen liegen die bunten Faltblätter der Pizzabringdienste. Sich Pizza bringen zu lassen, womöglich von einem „Lieferheld“ gehört für mich zur Proll-Kultur. Als noch eine Frau in meinem Leben war, haben wir freilich ab und zu Essen bestellt, was nicht bedeutet, dass ich Beziehungen zur Proll-Kultur zähle, wohl die Botendienste. Schäbige Geschäftsmodelle wie die blaue Post, die nur mit Billiglöhnen funktionieren, würde eine anständige Regierung verbieten. Aber sie fördert das Elend noch. Mit den Worten einer Ex-Freundin: „In deren Richtung wollte ich mich nicht mal übergeben.“

Die Zeitung – (2) Das Stylen der Glatze – Vom Kappen, Frisieren und Ondulieren der Fakten

Kategorie MedienWer Augen- und Ohrenzeuge eines Ereignisses war, über das in den Medien berichtet wird, hat sich gewiss schon mal über die Diskrepanz gewundert zwischen der eigenen Wahrnehmung und der medialen Darstellung. Das kann an der journalistischen Aufbereitung eines Themas liegen. Ein einfaches Beispiel: In meiner Zeit als Lehrer an einem Aachener Gymnasium nahm ich im Herbst 1989 erstmals am bundesweiten Schulprojekt „Zeitung in der Schule teil“. Die teilnehmenden Schulklassen bekamen für sechs Wochen einen Klassensatz der Tageszeitung, um im Deutsch- oder Politikunterricht damit zu arbeiten und über ein selbstgewähltes Recherchethema für die Zeitung zu schreiben. Dabei wurden sie didaktisch von der jeweiligen Redaktion und wissenschaftlichen Mitarbeitern des organisierenden Instituts begleitet. Auf Wunsch des Sponsors, der örtlichen Sparkasse, sollte unsere Schule die Eröffnungsveranstaltung ausrichten. Unter dem Motto „101 Möglichkeit, die Zeitung zu nutzen“ ließ ich die Schüler meiner 9. Klasse Exponate aus Zeitungspapier gestalten, unter anderem auch ein Kopfkissen und eine Steppdecke, die wir auf der Liege aus dem Sanitätsraum drapierten. Weiterlesen

Die Zeitung – Kurze Betrachtung eines gescholtenen Mediums – (1) Nachrichten aus dem Taubenschlag

Kategorie Medien„Welches Medium ist am glaubwürdigsten?“ fragte im Jahr 1998 das Forsa-Institut die deutsche Bevölkerung: Platz eins mit 41 Prozent belegten die Tageszeitungen. Auf Platz zwei landete das öffentlich-rechtliche Fernsehen mit 31 Prozent. Die Deutschen vertrauten 1998 also primär jenen Medien, die derzeit oft als „Lügenpresse“ gescholten werden. Dem Internet als Nachrichtenquelle vertraute nur ein Prozent der Befragten. Aus journalistischer Sicht war 1998 die Welt noch in Ordnung, von morgens um sieben bis abends spät zu den „Tagesthemen“ (Statistik: Volker Schulze, Die Zeitung, Aachen 2001)

Im Jahr 1998 habe ich noch Zeitungsartikel ausgeschnitten und archiviert. Meine Einstellung zum Medium Zeitung war relativ unkritisch, obwohl ich Einblick in redaktionelle Vorgänge hatte, weil ich neben meiner Tätigkeit als Lehrer für ein Institut arbeitete, das didaktische Zeitungsprojekte in Schulen organisierte. Ich glaubte, man müsse nur zwei Zeitungen unterschiedlicher Ausrichtung lesen, um sich eine verlässliche Meinung zu bilden. Meine Einstellung hat sich in jetzt 18 Jahren radikal gewandelt. Weiterlesen