Hamse mal fünf Euro? – Einiges über Münzgeld

Man kann sich was abgucken. Ich habe das mein ganzes Leben lang getan und mir danach meinen Umgang ausgesucht, getreu dem Rat Gracians: „Mit dem umgehen, von dem man lernen kann.“
Das meiste, manches banal, habe ich mir freilich in Beziehungen abgeguckt, so bei Ronja, der vorerst letzten Frau in meinem Leben, den Umgang mit Münzgeld. Sie hatte auf der Küchenfensterbank ein großes Glas voller Kleingeld, das wir, bevor sie umzog, zur Sparkasse gebracht haben, wo man es in eine Zählmaschine kippen konnte und den Betrag in Scheinen ausbezahlt bekam. Ich dachte, auch so ein Glas haben zu wollen, denn so bleibt das Portemonnaie immer schön schlank und die lästige Sucherei nach passenden Münzen kann man sich sparen, weil man immer sicher ist, kein Kleingeld mit sich herumzuschleppen. Einmal im Quartal muss man es aber trotzdem schleppen.

In Hannover bringe ich mein Kleingeld zur Filiale der Bundesbank, weil die Sparkasse Hannover das nur für ihre Kontoinhaber annimmt, und ich habe mein Konto noch in Aachen. Die Münzwechselkasse der Bundesbank befindet sich auf der zweiten Etage eines klotzigen Gebäudes aus der Gründerzeit. Es gibt in der Kassenhalle zwei Türen mit den Zahlen 1 und 2, riesengroß und in Rot und Grün beleuchtet, je nach dem, welcher Kassenraum gerade frei ist. An einer langen Theke an der Stirnseite des Raumes bekommt man von einer Dame eine Wartemarke für ein elektronisches Aufrufesystem.

Diesmal ist es ungewöhnlich voll. Ich bekomme die Nummer 066, und auf der Anzeigetafel an der Decke leuchtet seit meinem Eintreffen schon 052, 053 für Raum 2. Leider sind alle Sessel an der Fensterseite besetzt, so dass ich mich auf einen Platz in der Sesselreihe mit dem Rücken zum Raum setzen muss. Hier warten Leute aus allen sozialen Schichten. „Alle sozialen Schichten“ ist aber ein Euphemismus, denn Menschen aus der Oberschicht siehst du nicht. Der Präsident dieser Bundesbankfiliale, Stephan Freiherr von Stenglin, gehört vermutlich dazu. Aber er wird sich nicht mit Kleingeld hier im Kassenraum herumdrücken. Mitglieder der Oberschicht, des Adels, des Geldadels oder der herrschenden Eliten, nehmen nicht am normalen Leben teil. Mir gegenüber dreht ein schwarzgekleideter Punker seine gedeckelte Sammeldose in der Hand. Er hat eine schwarze, mit Nieten besetzte Schirmmütze auf dem Kopf, auf dem Schirm sitzt stylisch eine Sonnenbrille. Gelegentlich stöhnt er ungeduldig auf und dreht den Kopf zum Fenster, weil er unten auf dem Georgsplatz seine Sachen zurückgelassen hat, bewacht von zwei braunen Hunden. Ich fand sie dort angebunden, als ich eintraf. Ab und zu bellen sie, und der Punker schaut besorgt zu ihnen hinab.

Es geht nicht weiter, denn gewechselt wird heute nur in Raum 2. Die Tür von Raum 1 steht sperrangelweit offen. Davor eine lange Warteschlange, die sich ständig erneuert. Die Leute wollen die neue 5-Euro-Münze „Blauer Planet Erde“ kaufen. Sie hat einen blauen, lichtdurchlässigen Polymer-Ring, und angeblich „spricht darüber ganz Deutschland.“

fünf euroAuch in der Schlange der Begehrlichen sieht man Vertreter fast aller Schichten. Angestellte beiderlei Geschlechts aus dem umliegenden Bankenviertel nutzen ihre Mittagspause, Schüler, alte Ehepaare, ein Mann im Elektro-Rollstuhl, erstaunlich wer alles diese Münze will. Und immer wieder fragen Neuankömmlinge bang, ob es wohl noch Münzen gäbe. Es gebe, wie ich aus dem Kassenraum sagen höre, noch einen begrenzten Vorrat. Pro Person werden nur vier Fünf-Euro-Stücke abgegeben.

Endlich öffnet sich die Tür von Raum 2 und spuckt ein Ehepaar aus. Einer der Wartenden fragt halblaut, was die wohl so lange darin gemacht haben. Der Punker schöpft Hoffnung, und bald ist er auch an der Reihe. Neben mir ist ein Platz freigeworden. Ein junger Mann setzt sich da. Er hält eine offene Plastikdose, mehr einen kleinen Eimer, in dem ich nur die geriffelten Ränder von 50-Cent-Stücken sehe, seine Spardose offenbar. Die 066 leuchtet auf. Nachdem sich die Stahltür hinter mir geschlossen hat, sage ich aus purer Höflichkeit zum hageren Kassierer: „Sie haben heute ja mächtig Betrieb.“ Sagt er patzig: „Sie müssen sich ja  hier nicht den Hintern breit sitzen.“
„Warum so unhöflich, Mann? Das sichert doch Ihren Arbeitsplatz.“ Er bleibt unbeeindruckt, hält sich vermutlich für unkündbar, weil die Bundesbank eine Anstalt des öffentlichen Rechts ist. Vielleicht spekuliert er auf die Alternative, dem Freiherrn die italienischen Maßschuhe polieren zu dürfen, sollte das Bargeld endlich abgeschafft sein.

Meine Kleingeldsammlung ergibt 141 Euro und vier Cent. Filipe d’Accords Freundin Tina hat mir einen zerrissenen 10-Euro-Schein mitgeben mit der Bitte, ihn umzutauschen. Ich gebe ihn dem ungehobelten Schuhpolierer. Er hält ihn prüfend ins Licht und findet ihn für gut. Die Geldscheine, die er mir unter dem Schalter zuschiebt, sind frisch gedruckt. Ich tausche 20 Euro gegen vier blinkende Fünf-Euro-Münzen, vielleicht will Tina ja zwei.

Zerbrochener Marmor – #Kramladengeschichten

Die Biographie der Dinge

Da ich unter Pseudonym schreibe, kann ich ein Bekenntnis wagen, das ich vorausschicken will, um zu erklären, warum auf meiner Fensterbank Bruchstücke einer Grabplatte liegen. Der Grund ist nicht morbid wie es scheinen mag, sondern nur schräg wie die Phase in meinem Leben, wozu die Bruchstücke gehören. Mit 48 Jahren stand ich vor den Bruchstücken meiner Ehe. Meine Frau hatte sich von mir abgewandt, unsere gemeinsamen Kinder waren inzwischen selbstständig – mein Leben dümpelte dahin. In dieser Phase lernte ich eine zehn Jahre jüngere Frau kennen. Ich nenne sie in meinen Texten Lisette. Sie trug zwar einen Ehering, doch ihr Mann war ein Jahr beruflich im Ausland, und sie erweckte den Anschein, dass ihre Ehe nur noch auf dem Papier bestünde. Als der Mann nach drei Monaten zurückkehrte, fand er das gar nicht, aber ich war bereits rettungslos in seine Frau verliebt. Es folgten fünf Jahre einer innigen Beziehung voller Heimlichkeiten und emotionalem Stress für alle Beteiligten, bis sie sich endlich von ihrem Mann trennte. Erst nach sieben Jahren gelang es mir, mich aus der Verstrickung zu befreien. Aber es war, als würde ich mir einen Arm absägen. Aus diesem Gefühl heraus begann ich zu bloggen. Ich schrieb mich frei.

Während der Zeit der Heimlichkeiten fuhr Lisette einmal mit ihrer Mutter nach Banneux, einem Wallfahrtsort in den belgischen Ardennen. Kurz vor dem Ortseingang sah sie einen Feldweg, dessen tiefe Schlaglöcher nicht mit gewöhnlichem Schutt zugekippt waren, sondern mit Bruchstücken von Grabplatten, wie man sie überall auf wallonischen Friedhöfen findet. Bei aufgegebenen Gräbern ist man in der Wallonie nicht zimperlich. zerschlägt die Grabplatten mit Vorschlaghämmern und lässt die Trümmer pietätlos herumliegen. Hier dienten sie sogar der Wegbefestigung für die Reifen von Traktoren. Lisette hielt ihr Auto an und sammelte einige Bruchstücke für mich ein, weil sie wusste, dass ich mich für alle möglichen Aspekte von Schriftverwendung interessierte.

VotivtafelZu sehen ist eine in die Marmorplatte gemeißelte englische Schreibschrift. Einst war sie mit Goldfarbe ausgelegt. Sie ist aber verblasst. „iements grâce“ ist vermutlich der Überrest von „remerciements (…) grâce“. Wenn es „danke (…) Gnade“ heißt, stammen die Bruchstücke vielleicht nicht von einer Grabplatte, sondern von einer Votivtafel, mit der sich gläubige Katholiken in Wallfahrtskapellen für beispielsweise die Heilung von einer Krankheit bedanken. Diese Interpretation ist mir lieber.

Als letztens die Fenster bei mir geputzt wurden, lagen die Bruchstücke im Weg. Dadurch wurde die Erinnerung wieder lebendig, denn eigentlich liegen sie schon so lange auf den Fensterbänken, zuerst in Aachen, jetzt in Hannover, dass ich sie nicht mehr beachte.

Father & Son und Mutter & Sohn in Hänschenklein

Vor vielen Jahren, als ich erstmals von Wikipedia las und von der Idee begeistert war, ahnte ich nicht, dass ich einmal „Hänschen klein“ nachschlagen und tatsächlich fündig werden würde. Man hätte mich freilich einen Nachmittag in einer Bibliothek verbringen sehen, wo ich vielleicht gefunden, wonach ich suchte, vermutlich aber etwas ganz anderes und mich fest gelesen hätte. Vor besagten vielen Jahren hätte ich auch nicht gedacht, dass ich noch mal ernsthaft Hänschenklein singen würde. Dazu hatte mich vor einiger Zeit meine reizende Logopädin angestiftet.

Heute macht Ann auf Father & Son, einen Song von Cat Stevens aufmerksam. Das Motiv des Vaters, der den Sohn am Aufbruch in die Welt hindern will, entspricht einer bekannten Variante von Hänschenklein, nur dass hier die Mutter den Aufbruch sogar erfolgreich verhindert:

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Kleiner Kamin löscht die Glut – #Kramladengeschichten

Die Biographie der Dinge

Seit ich vor gut vier Jahren mit dem Rauchen aufgehört habe, liegt ein Zigarettenlöscher aus Messing in meiner Kramlade. Als ich noch rauchte, war mein Ehrgeiz, perfekte Zigaretten zu drehen. Es war eigentlich das Beste am Rauchen. Eines habe ich jedoch nie hinbekommen: Die Selbstgedrehte richtig auszudrücken. Einmal bin ich mit einem neuen jungen Kollegen von Aachen zum Kloster Marienthal gefahren, um ihn einzuarbeiten. Da fiel mir bald ein sympathischer Zug an ihm auf. Er wusste nicht nur immer, wohin ins Jackett ich meine Lesebrille gesteckt hatte, sondern drückte auch fürsorglich an den Raststätten meine noch qualmende Kippe aus.

Im Jahr 2010 bin ich mit dem Fahrrad von Hannover nach Aachen gefahren. In Aachen nächtigte ich bei meinem guten Freund Thomas. Bis tief in die Nacht saßen wir in seiner Küche, feierten meine glückliche Ankunft und tranken aus schönen alten Gläsern. Und immer wieder gerieten mir die Welten durcheinander, diese reale Welt und die Welt meiner Texte, in der er Jeremias Coster war, Professor für Pataphysik an der RWTH Aachen.

kleiner schornsteinIrgendwann schob Coster mir diesen kleinen Schlot aus Messing über den Tisch und sagt: „Den schenke ich dir.“ Ab dann versuchte er mir beizubringen, meine Kippe hineinzustecken. Das konnte ich auch, obwohl das Loch im Zigarettenlöscher naturgemäß kleiner sein muss als der Zigarettenlöscher selbst. Trotz dieser probaten Lösung für mein Zigarettenausdrückproblem versuche ich immer wieder die Zigarette im Aschenbecher auszudrücken. Es passen ja manchmal nur kleine Dinge in meinen Kopf, aber immerhin. Dann sollte doch so ein furzkleiner Zigarettenlöscher auch hineingehen. Zum Glück hatte der Mann eine Engelsgeduld, wartete wie ein guter Lehrer, ob ich es selbst konnte, und erst wenn er sah, dass meine Hand erneut zum Aschenbecher irrte, wies er freundlich auf den Zigarettenlöscher hin und erklärt nochmals dessen Funktion. „Du brauchst die Zigarette nur hineinzustecken, einfach mit der Glut hineinfallen zu lassen. Sie verlöscht von selbst.“

Leider ist Thomas vor jetzt zwei Jahren freiwillig aus dem Leben geschieden. Ich vermisse diesen liebenswerten Mann sehr. Mir blieben zwei Dinge, der Zigarettenlöscher und ein Filmdöschen mit etwas von seiner Asche, wovon ich nächstens erzählen will.

Weitere Texte zum Mitmachprojekt unter #Kramladengeschichten

Krempel aus der Hosentasche – Sergej Tretjakovs Biographie der Dinge – #Kramladengeschichten

Die Biographie der DingeDeä janze Krämpel es nüüß weät.
Ich will met deä Krämpel nüüß ze
duue han. (Will Hermanns)

Krempel – Kram, Plunder, wertloses Zeug, was bei Hempels unterm Sofa liegt – lohnt es sich, ein Wort darüber zu verlieren? Der russische Schriftsteller Sergej Tretjakov (1892-1939) veröffentlichte im Jahr 1926 einen wundersamen Aufruf: „Kinder, Leser der Pionerskaja Pravda! Wollen wir zusammen ein Buch schreiben. In diesem Buch wird erzählt werden, was sich in euren Taschen befindet. Das ist nichts zum Lachen.“ Kinder von „Metallarbeitern, Kolchosearbeitern, Zimmerleuten, Hirten, Nomaden, Jägern usw. usw.“ sollten ihre Hosentaschen umstülpen und den Inhalt ohne Scham beschreiben. Die Geschichten, die auf diese Weise erzählt wurden, handelten nur scheinbar von den Dingen aus den Hosentaschen. In Wahrheit gaben sie Auskunft über die Eigentümer, und so wurden aus den Biographien der Dinge unmerklich autobiographische Notizen.

Tretjakovs geniales Projekt lädt noch heute zur Nachahmung ein. Kein Krümchen, kein Papierfetzen ist dabei zu unscheinbar, selbst das winzigste Fädchen kann eine Erinnerung wachrufen und somit zum Erzählanlass werden.

Einige Jahre sammelte ich im Deutschunterricht der 5. Klassen des Gymnasiums Schülertexte in Anlehnung an Tretjakovs Hosentaschenprojekt und gestaltete ein Buch daraus. Das Projekt gab den Kindern einer neu zusammengestellten Klassengemeinschaft die Gelegenheit, etwas über sich zu erzählen und etwas von den anderen zu erfahren.

Tasche01Tasche02(Zum Vergrößern bitte klicken!) Vergleicht man das Material mit den Beispielen Tretjakovs, fällt auf, dass es sich hinsichtlich Menge und Art sehr unterscheidet. Tretjakov selbst erinnert an den Tascheninhalt Tom Sawyers („Nagel, Zwirn, Zettelchen und sogar eine krepierte Ratte“). Solch absonderliche und skurrile Gegenstande, wie sie Tom Sawyer und Huck Finn mit sich tragen, darf man in den stets frischgewaschenen Hosen heutiger Kinder nicht erwarten. Doch der findige Kopf wusste auch über die leere Hosentasche etwas zu erzählen. Franz schrieb: “Meine linke Tasche ist leer. Nur ein braunroter Fleck ist noch zu sehen. Er stammt von einer Schraube, die ich einmal gefunden, in die Tasche gesteckt habe und vergessen habe. Erst wieder meine Mutter hat sie vor dem Waschen gefunden.”

Tasche04Was wurde wohl aus der Schraube? In jedem Haushalt gibt es irgendwo eine Kramlade, worin sich all die seltsamen und nutzlosen Dinge ansammeln. Die meisten haben den Weg dorthin über die Zwischenstation Hosentasche gefunden.

Bei einem Beutezug durch solche Kramladen lassen sich interessante Stücklein bergen. Und siehe da: “Dea janze Krämpel” ist doch etwas wert. Vermutlich birgt jede einzelne Kramlade so etwas wie eine Familiengeschichte. Kramladenhistoriker an die Arbeit!

Aufruf zum Mitmachprojekt: #Kramladengeschichten
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Krampf bleibt Krampf – Böhmermanns Schmähkritik und Kanzlerin Merkels schmähliches Einknicken

„Es ist schon alles gesagt,
nur noch nicht von allen.“

Karl Valentin

Meistens bin ich bei Jan Böhmermanns „Neo Magazin Royale“ eingeschlafen. Das ganze Setting dieser Late Night Show fand ich langweilig. Ich mochte den eitlen Dickwanst und Pulloverträger William Cohn nicht gerne sehen, mochte die Reibeisenstimme des Rappers Dendemann nicht, der mit seiner Band „Die Freie Radikale“ ewig dazwischen sang, obwohl seine Texte ganz humorig waren. Aber man hätte ihn untertiteln sollen. Es war mir einfach zu anstrengend zuzuhören. Ich war gerade noch wach, als Böhmermann, assistiert von seinem Sidekick Ralf Kabelka, seine Erdogan-Schmähkritik vortrug. Spontan dachte ich, dass Böhmermann die Extra3-Satire mit aller Gewalt übertreffen wollte. Übertreffen ist natürlich irreführend, denn sprachlich ging alles unter die Gürtellinie, voll in die Hose. Die Behauptung Böhmermanns, man wolle zeigen, was man in Deutschland nicht darf, schien mir arg konstruiert. Kurz darauf bin ich eingeschlafen. Verständlich, denn was gehen mich Böhmermanns Geltungsbedürfnis und dieser Erdogan an. Ich bin dankbar und froh, nicht unter seiner Fuchtel leben zu müssen.

Was war geschehen? Über Jahre und Monate wurde Böhmermann vom deutschen Feuilleton in den Himmel gehoben, wurde als Deutschlands genialster Fernsehsatiriker gepriesen. Es ist mir zu lästig, Zitate aufzusuchen. Man gebe nur bei Google die Suchphrase „Böhmermann + genial“ ein. Wenn Böhmermann einen fahren ließ, beschied man ihm, er habe jüngst die Satire neu erfunden. Dieser junge Mann ist kein Übermensch. Wer so überschwänglich gelobt und gepriesen wird, der glaubt alles machen zu können und den wurmt es natürlich, wenn andere Fernsehsatiriker einen Treffer landen wie Extra3 mit dem Liedchen über Erdogan. Dass Erdogan über das Stöckchen sprang, dass ihm Extra3 hingehalten hatte, indem er den deutschen Botschafter einbestellte und verlangte, das Extra3-Lied zu verbieten, also mit diesem Angriff auf die Pressefreiheit genau das tat, was ihm im Lied vorgeworfen wurde, davon kann ein Satiriker nur träumen.

merkel erdoganBöhmermann hätte es dabei belassen sollen. Um die Extra3-Satire noch zu übertreffen, brauchte es das schwere Geschütz der Schmähkritik. Böhmermann hat nicht ernsthaft erwarten können, dass dies folgenlos bleiben würde, aber er hatte genau darum gebettelt. Das ihn stets stützende Feuilleton verwies darauf, dass es Böhmermanns Verdienst gewesen ist, auf die Existenz des Paragrafen 103 StGB hingewiesen zu haben. Dieser noch aus der Kaiserzeit stammende Paragraph stellt die Beleidigung ausländischer Staatsoberhäupter unter Strafe. Er ist rechtsstaatlich fragwürdig, weil die Bundesregierung dem Strafverlangen eines ausländischen Staatsoberhaupts stattgeben muss. Er verletzt also den Grundsatz der Gewaltenteilung, nach dem Legislative und Judikative unabhängig voneinander wirken müssen. Die Bundesregierung hat bereits verlauten lassen, den Paragraphen im Jahr 2018 abschaffen zu wollen. Bundeskanzlerin Angela Merkel hätte den eleganten Weg wählen können, dem Strafverlangen Erdogans nicht stattzugeben, zumal Erdogan auch eine Zivilklage gegen Böhmermann wegen Beleidigung angestrengt hat. Es ist nun der kuriose Fall eingetreten, dass Merkel ein rechtsstaatlich dubioses Gesetz anwendet, um einem Erdogan zu gefallen, der sich in seinem Land einen Dreck um Rechtsstaatlichkeit kümmert. Gestern wurde dem ARD-Korrespondenten Volker Schwenck die Einreise in die Türkei verweigert. Man setzte ihn ohne Angabe von Gründen in einem Abschieberaum am Istanbuler Flughafen fest. Wenn Bundeskanzlerin Merkel glaubte, durch Willfährigkeit gegenüber einem Despoten sich dessen Wohlverhalten erschleichen zu können, hat sie sich offenbar verkalkuliert.

Fotomontage: Trithemius – größer klicken)

Teestübchen Humorkritik – Herr Sträter muss mal

Versehentlich sah ich am Sonntagabend den Auftritt des Komikers Torsten Sträter im sogenannten „Satiregipfel“ des ARD-Fernsehens, und zwar zappte ich mich hinzu, als Sträter eine Geschichte vorlas und mitteilte, dass er an einer Autobahnraststätte angehalten habe, denn: O-Ton Sträter: „Ich musste mal groß.“ Er habe das K-Wort nicht gesagt, tönt er vollmundig, weil die ARD-Oberen nicht gerne hätten, wenn es fallen würde. Ich hingegen wollte überhaupt nicht wissen, warum Sträter an der Raststätte angehalten hat. Wenn ich selbst auf den Parkplatz einer Raststätte gefahren bin, habe ich mich beim Anblick der anderen Fahrzeuge nie gefragt: Warum sind die alle hier? Müssen die mal, eventuell sogar groß?

Ich mochte mir auch keine Gedanken darüber machen, was Sträter betrifft, dachte mir hingegen, dass der Mann in die putzigen Fußstapfen von Ingo Appelt treten wollte, der seine peinlichen Texte stets mit der Großtat gewürzt hat, im Fernsehen „ficken“ zu sagen. Zur Strafe hat der Weltgeist dafür gesorgt, dass er immer mehr dem Schwein ähnelt, das er sprachlich schon lange verkörpert.

Sträter musste also „groß“, las eine Schlagzeile am Zeitungsstand, entwickelte eine mäßig intelligente, noch mäßiger witzige Gedankenfolge zum Thema „starke Frauen“, die er sich gewiss in der Hocke ausgedacht hatte, und schoss dann folgende Pointe ab: das alles habe er sich am Zeitungsstand stehend gedacht, obwohl er ganz dringend „mal k…. musste.“

Man möge die Aussparung entschuldigen, aber wenn ich das ganze Wort hier veröffentliche, wer macht das wieder sauber? Sträter mit seiner Zahnbürste? Gewiss nicht. Was soll das für eine Botschaft sein? Soll der Zuschauer dankbar sein dafür, dass Herr Sträter mannhaft seinen Drang unterdrückt hat, um über die Formulierung „starke Frauen“ nachzudenken? Oder soll der eingangs angekündigte Tabubruch sein Bukett über das ganze Werk legen, um gnädig zu verhüllen, dass es ganz und gar nicht geeignet war für eine Sendung, die sich „Satiregipfel“ nennt. Trotzdem bin ich Sträter dankbar. Mir war nämlich lange keine treffende Metapher für diesen flachen Gipfel eingefallen. Es ist mehr ein großer Haufen.

Leseempfehlung: Ex-Titanic-Kollege Gehard Henschel in der FAZ, Das Unflätige breitet sich aus

ZWEI BOXKÄMPFER JAGEN EVA QUER DURCH SYLT – Alphabet und Alphabetmystik

Wido fragte: „Hat Gott kein Mitleid mit den Toma? Andere Völker kennen die Schrift. Nur die Toma bleiben unwissend.“
Gott sprach: „Ich fürchte, dass ihr keine Achtung mehr vor dem Glauben und den Überlieferungen haben werdet, wenn ihr fähig seid, euch schriftlich auszudrücken.“
„Gar nicht“, erwiderte Wido, „wir werden weiterleben wie vorher. Ich verspreche es.“
„Wenn es so ist“, sagte Gott, „will ich euch die Kenntnis der Schrift gewähren, aber nehmt euch in Acht, dass ihr sie nicht einer Frau verratet.“ (zitiert nach Ignace Gelb)

So wie bei dem afrikanischen Stamm der Toma geht es zu, wenn ein Volk sich von einer rein mündlichen Kultur zur schriftlichen Kultur wandelt. Verbreitet ist der Glaube an den göttlichen Ursprung der Schrift. Sie ist zunächst nur einer elitären Kaste zugänglich. Oft sind es Priester, die sich mit Hilfe der Schrift ihre Macht sichern. In vielen Kulturen lernen die Frauen als letzte die Schrift. Weiterlesen

Ein Frühlingsbote – die Universalie Hüpfekästchen

Straßenspiele sind mündlich weitergegebene Botschaften aus der Vergangenheit. Im Kinderspiel werden diese Botschaften bewahrt, über die Jahrtausende transportiert und überregional verbreitet. Dabei erfahren sie in der Regel eine Bedeutungsverflachung, werden an neue Denkweisen angepasst, weil der alte Zusammenhang vergessen wurde. Das beste Beispiel ist das mindestens 2000 Jahre alte Hüpfekästchenspiel, bei dem vermutet wird, dass es aus dem Mithraskult stammt, einem religiösen Kult aus Kleinasien, auf den bereits der griechische Geschichtsschreiber Plutarch (45-125) aufmerksam gemacht hat. Vermutlich ist der Kult jedoch wesentlich älter. Der besonders unter römischen Soldaten verbreitete Mithraskult hat sieben Weihestufen oder Initiationsebenen, die der Gläubige bei seinem Aufstieg durchlief. Eines der ältesten erhaltenen Hickel-Diagramme fanden Archäologen eingeritzt auf dem Boden des antiken Forums in Rom.

Typisch für mündlich verbreitete Information ist die Fülle der Varianten, so auch bei den Diagrammen, Namen und Regeln von Hüpfekästchen, regional bekannt als Hickelkasten, Paradiesspiel, Himmel und Hölle, Tempelhüpfen, Reise zum Mond, Hinkekasten. Weiterlesen

Wortmischers Textduell! Mitzi versus Trithemius

Der kreative Kollege Wortmischer hat die geschätzte Mitzi Irsaj und mich zum Textduell aufgerufen. Dazu hat er ein Szenario vorgegeben und Regeln bedacht, wie hier nachzulesen.

2016-textduell-250Das Szenario (O-Ton Wortmischer):
Chemnitz, April 2016, früher Samstagabend, kurz vor sieben. Pascal (ca. 35, 172cm) betritt die Galerie Zirngiebel, nachdem er an der Tür seine persönliche Einladung zur Vernissage der ihm unbekannten, aber in der Presse als großes Talent angekündigten Künstlerin Moina Hillimer vorgezeigt hat. Im Eingangsbereich der großzügig angelegten Galerieräume stehen Tische mit reichlich Schnittchen und Sekt, im hinteren Bereich hängen großformatige Bilder. Es sind mehrere Personen anwesend, eine von ihnen ist mit Sicherheit Moina Hillimer. Die Galerie ist jedoch alles andere als überfüllt. Vor einem der Werke steht betrachtend Elli (ca. 40, 188cm). Hier mein Text, viel Vergnügen:
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