Amanda Hobbes und Jakobus Heinzmann

Entwurf für ein Zwei-Personen-Stück
Cheerleaderin Amanda Hobbes
Physikprofessor Jakob Heinzmann

Zentral auf der Bühne stünde ein Kahn in Seitenansicht, wie man ihn von Kahnweihern kennt, allerdings ohne Ruder. Die Kulisse wäre eine Leinwand, auf der eine von rechts nach links vorbeiziehende Landschaft zu sehen ist, so dass die Illusion entstünde, der Kahn wäre in Vorwärtsbewegung. Im Kahn säße steif ein Mann, weshalb der Kahn etwas im Bühnenboden versenkt ist. Der Mann müsste nichts für die Fortbewegung tun, denn der Kahn würde von einer geheimen Strömung fortbewegt. Demgemäß säße der Mann in Fließrichtung, sähe also, wohin die Kahnfahrt ginge. Am Ufer hinter dem Mann wäre die Cheerleaderin zu sehen. Sie würde von einem als Uferbestigung getarnten Laufband immer wieder zur linken Seite abgetrieben, so dass sie versuchen müsste, mit dem Kahn gleichauf zu bleiben. Manchmal würde ein Schritt genügen, manchmal, wenn sie abgelenkt wäre, müsste sie dem Kahn hinterher eilen. Sie hätte spitze Herrenschuh aus Leder in der Hand und würde versuchen, sie immer wieder auf Höhe des Mannes abzustellen. So weit das Bühnenbild. Und jetzt nehmen Sie Platz in Ihrem Theatersessel und genießen Sie die Vorstellung! (KLICK)

Den Fehler in der vorletzten Zeile „Strönung“ statt „Strömung“ kann ich leider nicht korrigieren, da der Theatertext ein Bild ist.

Tiefenbachs Pfirsische

Wir haben alles geklaut, nur keine Pfirsiche. Beim Bauern Alwiss saßen wir im Kirschbaum und habe uns an der Überfülle der prallen Kirschen berauscht, bis wir den Bauch voll hatten und die Kirschen nur noch zu Ohrgehängen taugten. Zwetschgen und Äpfel beim Bauern Bolzer waren uns kaum der Rede wert. Wir klauten, was wir erreichen konnten. Im Herbst warfen wir Knüppelholz in Alwissens großen Nussbaum, weil wir nicht nur die Nüsse vom Boden, sondern auch die wollten, die noch grün ummantelt im Baum hingen. Nur an die dicken saftigen Pfirsische der Gärtnerei Tiefenbach trauten wir uns kaum heran. Da ich weiß, wie köstlich sie schmeckten, müssen wir es einmal gewagt haben.

Die Gärtnerei Tiefenbach lag vereinzelt am Dorfrand. Das hoch aufragende Haupthaus der Gärtnerei war zwar von Kastanien umstanden und schien nie in der Sonne zu liegen, doch wenn der Wind in den Kastanien rauschte und das Laub zur Seite wischte, waren da hohe Fenster. Um die Gärtnerei zu erreichen, mussten wir eine offene Wiese überqueren, so dass man uns jederzeit aus dem Wohnhaus würde sehen können. Dann musste ein hoher Zaun überklettert werden, der das Gelände ringsum abschloss. Zudem war uns Gärtner Tiefenbach nicht vertraut. Wir waren schon oft vor dem Bauern Alwiss davongelaufen. Lachten über die stoische Weise, in der er uns verjagte. Duckten uns unter den finsteren Blicken des Bauern Bolzer. Aber den alten Tiefenbach hatte keiner von uns je gesehen. Er war nur eine gestaltlose Bedrohung. Seinen Sohn, stark wie ein Esel, den kannten und mieden wir. Aber der für uns unsichtbare alte Tiefenbach verbreitete nur namenlose Furcht.

Von ihm ging die Rede, dass die Amerikaner, als sie das Dorf eingenommen hatten, ihn ergriffen und ins Feld schleppten, wo sie ihn sein Grab schaufeln ließen. Dann sollte er sich ans Ende der Grube stellen, und ein Offizier hielt ihm eine Pistole an den Kopf. „Scheinhinrichtung“ hieß das. Ja, die Amerikaner hatten den Tiefenbach mit einer Scheinhinrichtung bestraft, wurde im Dorf erzählt. Er hatte wohl seine polnischen Zwangsarbeiterinnen bis aufs Blut gequält. Was genau er getan hatte, war nichts für Kinderohren. Die Erwachsenen hielten dicht. Nur war zu spüren, dass man mit Genugtuung von der Scheinhinrichtung berichtete. Es hatte wohl keinen Unschuldigen getroffen. Auch schien man nicht zu bedauern, dass Tiefenbach sich nach dem Geschehen nicht mehr zeigte. Ob er bei seiner Scheinhinrichtung übergeschnappt war oder ob er sich seiner Untaten schämte, er nahm jedenfalls nicht am Dorfleben teil.

Man muss wohl besonders dreist sein, um so einem die Pfirsische zu klauen. Aber irgendwann müssen wir das getan haben. Irgendwann, ich erinnere mich kaum, sind wir über den Zaun geklettert und haben Pfirsische von einem Baum gepflückt. Tiefenbach hatte sie reichlich. Unverständlich, dass der Herrgott solch herrliche Früchte im Garten eines Verderbten wachsen lässt. Das verstieß gegen mein Empfinden für Gerechtigkeit.

Simonskall – ein Fahrtbericht

Simonskall lag wie im Mittagsschlaf. Wir hielten und setzten uns vor ein Café auf die Sonnenterrasse unter einen der Sonnenschirme. Ein einsamer Kellner, Inder oder Pakistani, knibbelte versonnen an seiner Nase, dann nahm er unsere Bestellung entgegen. Simonskall hat Liebreiz. Ich hätte dort, den steil aufragenden Südhang des Kalltals vor Augen, noch lange sitzen mögen. Einige Meter seitwärts war ein Springbrunnen. Große Brocken Naturstein, wie absichtslos aufgetürmt, lagen inmitten eines Beckens und wurden von oben begossen, so dass das Wasser an allen Seiten herablief. Es kam aus dem Maul einer stilisierten Schlange, die sich über die Steinbrocken hinaus erhob.

Während wir still dort saßen und unsere Cola süffelten, wurde es plötzlich laut am Becken. Ein junges Paar kühlte sich darin ab. Sie waren mit Mountain-Bikes gekommen und trugen beide nur Badesachen, sie eine dralle rothaarige Belgierin, er ein Draht. Sie lärmten ziemlich, und er spritzte sie reichlich nass. Da wurde der Kellner unruhig und bewegte sich auf den Springbrunnen zu. Jetzt hatten die zwei genug, sprangen auf ihre Räder und fuhren weg. Ich sah noch die Spannung in ihrem schönen kräftigen Rücken, wie sie sich in die Pedale stemmte. Warum der Kellner nervös geworden war, verstand ich, als ich meine Arme ins Becken tauchte, bevor wir weiterfuhren. Es waren Fische im Becken, Goldfische und Forellen, große schwarze Viecher und wenige Schritte weiter war noch ein langes, rechteckiges Bassin, darin ein großer Forellenschwarm, offenbar für eine Spezialität des Restaurants.

Der Weg aus dem tief eingeschnittenen Kalltal wurde bald schlechter. Hinter der Mestrenger Mühle bogen wir falsch ab und gerieten in ein südöstlich verlaufendes Seitental, worin der Weg so steil bergan führte, dass wir vom Rad absteigen und schieben mussten. So steil war der Anstieg, dass wir mit unseren glatten Radsportschuhen kaum Halt fanden. Wolf, mein Begleiter flippte bald aus, vielleicht auch wegen der Hitze, denn es gab keinen Schatten, und die Sonne knallte ungehemmt ins Tal. Er war etwas zurückgeblieben und rief mir von unterhalb zu: „Ich kann hier nicht gehen!“
„Wieso denn nicht?“
„Meine Sohlen rutschen!“
Das rief er in diesem ungnädigen, vorwurfsvollen Ton, als hätte ich persönlich seine Sohlen mit rutschenden Sohlen beschlagen oder das Tal aus purer Gemeinheit gewählt.
„Meine Sohlen rutschen auch!“, rief ich zurück und stapfte weiter.
„Nein, du hast Gummisohlen“, quengelte er.
„Ich habe Plastiksohlen wie du“, sagte ich und hob einen Fuß, damit er drunter sehen konnte. Mir ist peinlich, wenn sich mein Freund und Trainingspartner so mimosenhaft anstellt und tut, als hätte er allein unerträgliche Bedingungen und Schwierigkeiten zu bewältigen, die andere durch die Gnade der Geburt nie ankommen. Dann rutschte ich aus, kam fast zu Fall, und er rief: „Also gut, ich glaube, dass deine Sohlen auch rutschen!“, als hätte ich mich absichtlich beinah hingelegt, nur um ihm die Glätte meiner Sohlen zu demonstrieren. Zweimal versuchte ich aufs Rad zu kommen, fuhr ein Stück bergab, um auf den 21-er zu schalten, aber sobald ich bergan lenkte, krachte die Kette, dass ich Angst hatte, sie könnte reißen.

Oben sah ich Wolf noch gar nicht kommen. Der Weg kam zwischen Getreidefeldern aus, und etwa 100 Meter weiter begann ein Dorf. Ich rollte hin und las das Ortsschild „Bergstein.“ Als Wolf kam, fuhren wir in den Ort, der zunächst menschenleer schien. Dann aber trat eine Frau aus einem Haus an den haltenden Lieferwagen eines Bäckers. Ich fragte: „Wo geht’s nach Hürtgenwald?“, und sie sagte: „Die Hauptstraße lang, dann rechts. Aber hier ist auch Hürtgenwald!“ Dann fanden wir uns in welligem Gelände, die Nideggener Straße entlang. Sie führte uns endlich nach Kleinhau/Großhau. Ab Birger mussten wir gegen den Wind fahren, und das zehrte ziemlich an meinen Kräften. Zwar kaufte ich in Langerwehe an einer schmuddeligen Imbissbude noch eine Cola, aber die hielt nicht lange vor. Hunger und Durst, Durst, Durst. Zu Hause hatte ich auf den 114 Kilometern unserer Ausfahrt dreieinhalb Kilo Gewicht verloren.

Maries Spiegel

Mit 14 Jahren hatte Marie in ihr Tagebuch geschrieben:

    „Meine Hobbys, Lesen, Mode und Schminken.“

Das galt noch, als Marie nach dem Abitur ihr Heimatdorf im Westerwald verließ, um in Aachen Maschinenbau zu studieren. Diese Fachrichtung stand in so krassem Gegensatz zu ihrer feingliedrigen Gestalt, dass alle, die davon hörten, ungläubig nachfragten: „Wieso denn Maschinenbau?“ Wenn überhaupt eine Frau sich in dieses Fach verirrte, hätte man eine stämmige Bauerntochter erwartet, die zu Hause die schweren Landmaschinen in Ordnung hielt, keine wie Marie, die dem nächstbesten Modemagazin entsprungen schien. Doch die zielbewusste junge Frau wollte in das mittelständische Unternehmen ihrer Eltern eintreten, das sich auf Präzisionsmaschinen spezialisiert hatte. Die Sache war dringend. Ihr Vater, dem der sehnlichst gewünschte Sohn versagt geblieben war, hatte kürzlich einen Herzinfarkt erlitten und brauchte Unterstützung.

Marie hatte eine bezahlbare Ein-Zimmer-Wohnung in einer alten Stadtvilla nahe der Universität gefunden, deren größter Nachteil war, dass eine Güterbahnlinie vorbeiführte. Aus ihrem Erkerfenster schaute sie auf einen aus groben Bruchsteinen gemauerten Bahndamm und hatte die Güterzüge, gezogen von schweren belgischen Dieselloks, unmittelbar vor Augen. Doch Marie gewöhnte sich bald an den sporadischen Lärm und die Erschütterungen des Hauses, wäre da nicht ein zweiter Nachteil gewesen, ihr Türnachbar, ein finsterer aufgedunsener Säufer. Marie gruselte sich vor ihm, weil er ihren Gruß bei zufälligen Begegnungen im Treppenhaus nicht erwiderte, sondern sie stumm anstarrte, als würde er sie mit seinen Blicken ausziehen.

Doch die Vorteile der Wohnung überwogen. Sie war lichtdurchflutet, hatte hohe Decken mit prächtigem Putz und als Schmuckstück einen großen gerahmten Kristallspiegel an der Wand. Marie hatte ihren Schminktisch vor ihm aufgestellt, und wenn sie weiter zurücktrat, konnte sie sich in ganzer Schönheit im Spiegel bewundern. Oft posierte sie in wechselnder Garderobe vor ihm, und kam sie aus der Dusche, ließ sie ihren Bademantel zu Boden sinken, drehte, reckte und streckte sich und fand sich schön genug für eine Karriere als Topmodell. Dann wieder schalt sie sich eine narzisstische Träumerin, mahnte sich zur Ernsthaftigkeit, die sie ihren Eltern schuldete, und widmete sich den Fachbüchern, den Mitschriften aus Vorlesungen und den Klausurvorbereitungen. Leider nahmen die Klausuren im Multiple-Choice-Verfahren zu.
„Man kann überhaupt keine eigenen Gedanken formulieren“, klagte sie einmal vor Kommilitonen. Das war schlimm für eine Frau mit eigenem Kopf.

Auf diesem Kopf hatte sie sich einen nachlässigen Bloggerdutt gedreht, nachdem sie aus der Dusche gekommen war, saß halbnackt vor ihrem geliebten Spiegel, als im Treppenhaus Stimmengewirr ertönte. Sie zog den Bademantel über und schlich zur Wohnungstür, um durch den Türspion zu sehen, was los war. Ihr Türnachbar stritt mit jemandem. Marie erkannte den Schornsteinfeger, der kürzlich bei ihr gewesen war, die Gastherme überprüft und in der Decke die alten Gasleitungen für die einstigen Gaslampen höchst bedenklich gefunden hatte.
„Die sind ein Sicherheitsrisiko, aber niemand wagt sich daran, sie zu entfernen“, hatte er gesagt. Ihr Nachbar, fett und abstoßend im Unterhemd und am frühen Morgen schon betrunken, weigerte sich offenbar, den Schornsteinfeger in die Wohnung zu lassen. Der hatte zwei Polizisten dazugeholt. Der Nachbar wurde handgreiflich. Marie erschrak vor dem Tumult und war froh, als die Polizisten den Mann endlich gebändigt hatten und abführten. Sie hörte noch das Poltern der Schritte auf der Treppe, die Proteste des Säufers, und plötzlich war es ruhig. Marie hatte nicht sehen können, wo der Schornsteinfeger abgeblieben war. Sie öffnete die Wohnungstür und schaute hinaus. Die Tür zur Nachbarwohnung stand offen. Neugierig trat Marie vor, lugte hinein und zuckte zusammen. Im Zimmer des Säufers stand der Schornsteinfeger und starrte fassungslos auf ein Fenster in der Wand, die an ihre Wohnung grenzte. Marie durchfuhr es siedend heiß. In der plötzlichen Erkenntnis stieß sie einen Laut des Schreckens aus. Von Grauen gepackt sah sie durch das falsche Fenster – in ihr eigenes Zimmer.

Flauscher II

Ich führte sein Aufblühen zunächst auf die regelmäßigen Mahlzeiten zurück, wobei ich noch nie gehört hatte, dass unser Mensaessen etwa besonders gehaltvoll wäre. Aber vielleicht hatte Flauscher sich zuvor nur ungesund von Fastfood ernährt, hatte sich, über seine Studien gebeugt, nur eilig einen Hamburger oder Döner hineingedrückt. Was weiß ich. Über meine Lebensumstände wusste er bald alles, von seinen wusste ich so gut wie nichts. Nach dem überraschenden Bekenntnis seiner bevorstehenden Sterilisation, sprach er niemals mehr von sich, berichtete auch nicht, ob er sich dieser Maßnahme unterzogen habe. Mir war, dass er ein leeres Leben führte, also auch nichts zu erzählen hätte.“

„Aber Coster! Als Institutsleiter müssen Sie doch wenigstens wissen, welche Aufgaben er am Institut hatte“, warf ich ein.

„Eben nicht! Die Planstelle war eigens für ihn geschaffen worden, und niemand wusste genau, womit er sich beschäftigen sollte. Flauscher suchte die Nähe zu Studierenden und schien eine Art Lebensberatung anzubieten. Aber nichts war offiziell. Sein Angebot erreichte die Studierenden per Mundpropaganda. Allerdings schilderte mir meine vertraute Adeptin Susanna, dass bald vor Flauscher gewarnt wurde. Bei den Studierenden hieß er nur noch Dr. Lauscher. Aber konkrete Vorwürfe konnte auch Susanna mir nicht berichten. Sie selbst war einmal bei ihm gewesen und hatte sich – o Wunder – ausgehorcht gefühlt. Die kluge Susanna erst brachte mich auf die Idee, dass Flauscher sich offenbar von fremden Leben ernährte, dass er die Hirne seiner Mitmenschen anstach und gleich einem Vampir aussaugte.

Zu jener Zeit war ich unglücklich, nicht nur in der Beziehung mit der viel zu jungen Frau aus Mainz, die ich leichtsinniger Weise geehelicht hatte, sondern und vor allem darüber, dass meine Ideenwelt einschrumpelte. Die Assoziationsketten meines Denkens wurden kurz und kürzer, und ich dachte nur noch banale Dinge, die sich um Konkretes in meinem Alltag rankten. Ich führte das zunächst auf die Gewöhnung an Cannabis zurück, wechselte die Sorten – von Santa Maria zu Northern Light, steigerte die Dosis, nichts half. Auch meine handverlesenen Studenten zeigten eine mir neue geistige Trägheit, selbst Susanna war wie ausgewechselt. Als ich sie zur Rede stellte, gestand sie, heimlich weiter zu Flauscher gegangen zu sein. Eine unerklärliche Macht ziehe sie zu ihm in die Lebensberatung. Ich schimpfte mit ihr, konnte aber nachvollziehen, was der klugen Frau geschah. Auch ich brannte darauf, mich Flauscher zu offenbaren.

Du erinnerst dich, Trithemius, dass ich dich um ein Treffen im Café Mohren bat, als wir uns kaum kannten?“

„Ja, ich erinnere mich gut. Sie erwarteten mich auf der ersten Etage, hatten vor sich einen Printenlikör und haben mir ein Eheproblem geschildert. Sie wollten meine unbefangene Expertise, eben weil wir uns nur flüchtig kannten. Sie waren mit Ihrer jungen Frau auf einer Feier im Ruhrgebiet gewesen und hatten dort, wie es Ihre Gewohnheit ist, mit der hübschen Kellnerin geflirtet. Ihre erboste Frau hatte Ihnen ein Glas an den Kopf geworfen und war dann mit Ihrem Auto nach Mainz abgerauscht, so dass Sie sich ein Taxi nehmen mussten.“

„Genauso. Ich war aufgewühlt, trug mich mit dem Gedanken an Scheidung, fürchtete aber, ich würde am Montag alles dem Flauscher erzählen und danach leer und handlungsunfähig sein. Von dir dachte ich, dass du ein eher schlechter Zuhörer bist, somit eine Sorte Gegengift zu Flauscher. Hätte ich die Sache dir erzählt, brauchte ich sie Flauscher nicht mehr zu erzählen.“

„Dieser eigennützige Gedanke stand also am Anfang unserer Freundschaft, Coster? Enttäuschend! Und ich dachte ganz naiv, es wäre Sympathie.“

„War’s ja auch, eben nicht nur. Jedenfalls war ich froh, mich Flauscher entzogen zu haben. Montagmittag ging ich nicht zur Mensa, verbot auch meinen Studierenden, weiterhin zu Flauscher zu gehen, und wir konnten beobachten, wie Flauscher unter diesem Entzug mehr und mehr verfiel. Irgendwann war er ganz weg. Inzwischen habe ich meinen Gedankenreichtum zurück.“

Ich nahm einen Schuh vom Fuß, schüttelte ihn aus und sagte: „Gedankenreichtum? Ich habe Sand in den Schuhen. Hier streut einer mal wieder. Was wurde aus Flauscher?“

„Wie ich hörte, ist er unter Kohl Regierungsberater geworden und derzeit Staatssekretär im Innenministerium.“

Flauscher

„Es gibt ja verschiedene Formen, einem Mitmenschen zuzuhören“, sagte Jeremias Coster, der dubiose Professor für Pataphysik an der RWTH Aachen.

„Mehr noch des Hörens“, wandte ich ein, „denn Zuhören enthält ja schon den Hinweis auf Zuwendung, also auf konzentriertes Hören, wobei in Hören ohne Präfix noch Nebenbedeutungen mitschwingen. Auf jemanden hören, im Sinne von gehorchen und in der abseitigen Steigerung im Sinne von jemandem hörig sein.“

„Interessante Überlegung, aber ich wollte auf etwas anderes hinaus, nämlich auf die Grade des Zuhörens. Da gibt es das angebliche Zuhören, eigentlich ein Weghören, wenn jemand von Äußerungen genervt ist; das gleichgültige Zuhören der geteilten Aufmerksamkeit, wenn etwa die Frau ihrem Mann etwas erzählt, während er Zeitung liest; das aufmerksame Zuhören und das teilnehmende Zuhören.“

„Was soll das sein, teilnehmendes Zuhören?“

„Wenn nachgefragt wird.“

„Das ist dann aber kein reines Zuhören, sondern ein Interagieren.“

„In deinem Fall ein störendes dazwischen Quatschen. Wenn hingegen jemand die Gabe besitzt, aufmerksam zuzuhören, sagt man landläufig, er sei ein guter Zuhörer. Er ist ganz Ohr. Nun, ich kannte einen Mann, der stets „ganz Ohr“ war, aber auf eine schädliche, aggressive Weise. Dieser Mann hieß Hartmut Flauscher und kam irgendwann als wissenschaftlicher Mitarbeiter an unser Institut. Ich hatte ihn nicht eingestellt, sondern er wurde vom Rektor der RWTH protegiert. Folglich begegnete ich ihm erstmals informell, nämlich auf dem Weg zur Mensa. Als ich an seiner Bürotür vorbei ging, kam er auf den Flur, als ob er mich abgepasst hätte, grüßte, nahm wie selbstverständlich meinen Schritt auf und stellte sich vor. Er war ein hagerer Mann von jener ungesunden Hautfarbe, die an den nahenden Tod denken lässt. Wie wir gemeinsam den langen Gang übers quietschende Balatum schritten, zeigte er sich interessiert am Gerede, das landläufig Flurfunk genannt wird.
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Beinah ohne Hose – aus einem Büroalltag

Frau Walden rief zu ungünstiger Stunde bei Erlenberg an und sagte: „Wir haben einen neuen Mitarbeiter, den Doktor Mobenbach. Der soll ein Buch machen, weiß aber nicht, wie das geht. Sie müssen ihm helfen!“
Erlenberg sagte, er habe noch einen Termin und verabredete, um 15 Uhr ins Institut zu kommen. Sein Termin war, mit Helen in ein Wäldchen südlich der Stadt zu fahren, wo sie an einem Teich in der schon wärmenden Frühlingssonne sitzen wollten. Helen freute sich wie ein Kind auf die Kaulquappen, die sie im letzten Jahr dort gesehen hatten. Aber wie das immer ist, auch kleine Sensationen lassen sich nicht beliebig wiederholen. Rasch verlor sie das Interesse, wollte unbedingt kiffen, und was sie danach taten, führte dazu, dass sie mit seiner Hose weglaufen konnte. Es dauerte eine Weile, bis er sie überredet hatte, die Hose nicht hoch in einen Baum zu werfen, sondern rauszurücken, so dass er ziemlich abgehetzt und derangiert im Institut eintraf. Frau Walden und Dr. Mobenbach erwarteten ihn im kleinen Konferenzraum. Weiterlesen

Die Weihnachtskarte – Aus einem Büroalltag

Das Telefon klingelte und Frau Walden bat ihn zu sich. Erlenberg schloss die Datei, an der er gerade arbeitete, stieg die Wendeltreppe hinauf und hoffte, ungesehen durch die zweite Etage zu kommen, denn er hatte keine Lust auf ein Gespräch mit Herrn Walden, der dort sein Büro hatte. Zu oft hatte sich Walden als distanzlos erwiesen. Helen, Erlenbergs Freundin, arbeitete als Kamerafrau beim WDR. Ein einziges Mal hatte sie als Komparsin in einer Soap mitgespielt. Nachdem Erlenberg das arglos erzählt hatte, fragte Walden bei jeder Gelegenheit: „Sind Sie noch mit der Schauspielerin zusammen?“, wobei er verstand dem Wort „Schauspielerin“ den Beiklang von „Hure“ zu geben. Erlenbergs Einwand, sie sei nur Komparsin gewesen und im seriösen Beruf Kamerafrau beim WDR, ignorierte er einfach. Leider war Erlenberg Beziehung eine Achterbahnfahrt und kostete ihn viel Kraft, was bei Walden den Eindruck verstärkt, dass Erlenberg einer losen Person, einer „Schauspielerin“ eben, in die Hände gefallen war, die nichts anderes im Sinn hatte, als ihn zu verderben. Weiterlesen

Kaspar Hausers Traum

„Wie Kaspar Hauser ich war“, sagte der Mann, den seine Eltern gezwungen hatten, ins Maler- und Tapezierer-Geschäft einzutreten. Kaum konnte er laufen, hatte er besonders kleine Dachgauben tapezieren müssen, in die weder sein Vater noch die Gesellen hatten kriechen können, und statt Lesen und Schreiben brachte man ihm bei, wieviel Teile Tapetenkleister auf einen Liter Wasser kommen. Weil er immer in die kleinen Dachgauben habe kriechen müssen, sei er kaum gewachsen. Dieser Mann erzählte mir einen Traum:

„Ich hatte eine Frau aus Köln kennen- und lieben gelernt. Sie lud mich zu sich nach Hause ein, wo ich ihre Eltern und kleinen Geschwister traf. Ihre Familie hatte mich sogleich ins Herz geschlossen. Ich spielte mit den Kinder, war quasi mit ihnen auf Augenhöhe, was mir aufgrund meiner geringen Körpergröße gut gelang. Plötzlich erfuhr ich, es wurde gesagt, dass meine Liebste bereits einen Freund in Köln habe, und er warte vor der Tür. Ich sagte ihr: „Beende das! Sofort!“ Doch sie wand sich. Wir traten vor die Haustür und sahen den Freund traurig an der Straßenecke stehen. Er trug so einen albernen Sombrero, völlig unpassend für die Jahreszeit. Meine Freundin begann ihm zu winken, mit so einer seltsamen kreisförmigen Armbewegung, die sowohl Komm! und Geh! bedeuten konnte. Weiterlesen

Das Geheimnis der Wyckgasse

Parallel zur südlichen Grenze unseres Dorfes verläuft die abschüssige Wyckgasse. Ich bin sie sicher tausendmal gegangen, auf dem Weg von oder zu meiner Stammkneipe oben an der Chaussee. Trotzdem blieb sie mir fremd. Wenn wir in Kindertagen in der Dunkelheit der Novemberabende im Dorf Klingelmännchen spielten, war die Wyckgasse besonders aufregend, denn sie bot nur geringen Schutz. Zu eng lehnten sich die alten Häuser der Wyckgasse aneinander. Sie waren wie das Dicht-an-dicht einer Stadtmauer. Obwohl unser Dorf nicht groß war und sich im Lauf der Generationen ein Netz von Verwandtschaftsbeziehungen darüber gelegt hatte, von denen ich schon als Kind wusste, war die Wyckgasse wie ausgespart. Ich kannte nur eine Person aus der Wyckgasse, meinen Mitschüler Volker Harms. „Kennen“ ist hier ein zu großes Wort, denn Volker Harms hielt auf Abstand, war mit niemandem befreundet, und nie ist jemand von uns auf die Idee gekommen, ihn in ein Spiel einzubeziehen. Er war die Fleisch gewordene Unauffälligkeit und Zurückhaltung. Weiterlesen