Über die Verleugnung der Endlichkeit

Irgendwann Ende der 1990-er Jahre sprach ich mit dem Dichter Robert Gernhardt über seinen Freund und Kollegen aus Titanic-Gründertagen, den begnadeten Cartoonisten Friedrich Karl Waechter. Auf meine Frage, warum Waechter keine Cartoons mehr für Titanic zeichne, sagte Gernhardt, Waechter hege die Vorstellung, ein Mensch habe nur 2000 Witze. Ob es die genaue Zahl war, weiß ich nicht mehr. Ich wunderte mich über die Vorstellung. Bis dato kannte ich das nur in sexueller Hinsicht, auf die Potenz des Mannes bezogen („Zehntausend Schuss und dann ist Schluss.“)

Ob hier eine Analogie besteht, werde ich nicht behaupten, aber auch nicht bestreiten. Jedenfalls hatte Waechter die Endlichkeit seines künstlerischen Schaffens akzeptiert. Am 16. September 2005 ist er verstorben.

Anfang der 1990-er Jahre wollte der Aktionskünstler Achim Schollenberger herausfinden, wie viele Wörter in einem handelsüblichen Tintenfass stecken. Wie die FAZ damals berichtete, hat er bis zu neun Stunden täglich in der Würzburger Stadtbibliothek gesessen und immerzu die vier Buchstaben „Wort“ geschrieben.
Nach 20 Tagen hatte er genau 856 Bögen DIN-A4 voll- und das Tintenfass leer geschrieben. Im Tintenfass steckten 171.073 Wörter.

Die Aktion gewinnt ihren Reiz aus der Endlichkeit. Indem sich heutige Schreiber vom Material losgesagt haben, können sie im Digitalen nichts Vergleichbares tun. Das digitale Tintenfass ist schier unendlich groß. Wir müssen nicht befürchten, dass irgendwann ein serviles Männlein auf dem Bildschirm erscheint und verlegen herumdruckst: „Tut mir Leid, aber die Buchstaben sind alle.

Schon zuvor durch Film- und Tonträger hatte der postmoderne Mensch aufgehört, Endlichkeit zu akzeptieren. Im Jahr 2010 hörte ich in den Nachrichten des flämischen Radiosenders Studio Brussel, der amerikanische Soulsänger Solomon Burke sei in einem Flugzeug kurz nach der Ankunft auf dem Flughafen Amsterdam verstorben. Gleich danach spielte man ein Platte von Solomon Burke, und ich dachte: „Der arme Mann ist grad gestorben und muss trotzdem singen.“

Transhumanisten im Silicon Valley arbeiten daran, den Inhalt des menschlichen Gehirns zu digitalisieren und auf externe Speicher auszulagern, mit dem Ziel, die menschliche Existenz ins Unendliche zu überführen. Es ist die logische Konsequenz der Idee vom Cyborg, also einem Mischwesen aus lebendigem Organismus und künstlichen Bauteilen und eben diesem digitalisierten Gehirn. Im Jahr 2012 wurde ich unerwünscht zum Cyborg, als mir nämlich ein Kardiologe über eine Sonde in der Blutbahn ein „Stent“ genanntes Röhrchen ins Herz schob, um den Verschluss eines Blutgefäßes zu verhindern. Ohne diesen Stent wäre ich längst tot. Mediziner haben meine Endlichkeit nicht zugelassen.

Der diese Zeilen schreibt, ist ein transhumaner Mensch. Meine Gedanken sind noch nicht digitalisiert, das versichere ich hoch und heilig. Man sieht mir nicht an, dass ich ein Cyborg bin, und ich hoffe sehr, dass ich bis zu meinem Ableben keine weiteren künstlichen Bauteile mehr benötige. Es gibt freilich bereits junge Menschen, die sich zur Erweiterung ihrer Sinne, Antennen oder Magnete in den Kopf einpflanzen lassen. Doch künstliche Bauteile sind ein Irrweg. Indem der Mensch eifrig an der Zerstörung dieses Planeten arbeitet, ist auch der transhumane Cyborg endlich.

Ziel wird sein, das digitalisierte Gehirn gänzlich von vergänglicher Biomasse zu trennen – wie in dieser Zukunftsvision des Instituts für Pataphysik. Die Idee der fünf schwarzen Kugeln, die über den emaillierten Erdball rollen und digitalisierte Bewusstseine enthalten, hatte ich für eine Lesenacht im Teppichhaus Trithemius im Jahr 2007 entwickelt. Das digitale Bewusstsein kann sich beliebige Welten simulieren, und ihren Reiz beziehen die Szenerien daraus, endlich zu sein.

Die Bloggerin Mikage, eine Berliner Jurastudentin, hat damals einen Text für mich eingesprochen. Ab 1:30 hören wir sie aus dem Inneren einer schwarzen Kugel, im Hintergrund schwach das Geräusch einer Tastatur.

Das Buch Christine Hansen

An diesem stürmischen Abend, mein Kabelanbieter meldete eine Störung von TV, Telefon und Internet, fand ich mich ganz auf mich zurückgeworfen. Eine Weile las ich in J.J. Voskuils „Büro“, war aber bald genervt von zu wenig Licht und legte den Wälzer weg. Wie den Abend verbringen? Sollte ich einen Abendbummel machen? Ein Blick aus dem Fenster ließ mich zurückschrecken. Es regnete offenbar. Also nicht bummeln, nicht lesen, einfach nur dasitzen? Warum nicht? Doch indem ich ganz tatenlos blieb, klebte die Zeit in der Uhr fest. Nach einer Weile Stillsitzen begann es zu denken. Ein Aufmerksamkeitsfunke unternahm einen Bummel, scheinbar ziellos, und trat hie und da Erinnerungsfragmente los.

Um ihrer habhaft zu werden, stellte ich mir die Bibliothek meines Lebens vor. Sie hat rechter Hand einen Gang entlang einer Fensterfront, von dem man nach links Regalreihen betreten kann, die im rechten Winkel vom Gang abgehen. Im Gang stehen einige Lesepulte, worauf Bücher abgelegt, aufgeschlagen und gelesen werden können. Habe ich genug gelesen, bin ich gehalten, das Buch aufgeschlagen liegen zu lassen. Ein kundiger Bibliothekar wird es an den richtigen Regalort zurückstellen. Er trägt weiße Handschuh, um jede Beschädigung zu vermeiden, nicht weil die Bücher so kostbar wären. Er weiß es nicht, denn er schaut niemals hinein. Weil er nicht weiß, welche Bücher bedeutsam sind und welche nicht, wundere ich mich, dass er ganze Regalreihen vernachlässigt hat. Dort stehen Bücher, deren Schrift nur noch vage zu erkennen ist. Sie müssten dringend abgeschrieben werden, bevor ihr Inhalt gänzlich verblasst. Ein Gang zu Regalen dieser Bücher ist tatsächlich von Spinnweben versperrt, und es müsste Staub gewischt werden. Gerade wegen der Spinnweben betrete ich just diese Regalreihe.

Die Titel auf den Buchrücken in diesem Regal sind unlesbar. Bei einem ahne ich, was dort steht. Es ist wie bei einem schwach erinnerten Traumfragment. Gerade will mans erhaschen, rennt es zur nächsten Mauerecke und steht feixend da. Ich konzentriere mich, und plötzlich ist der Aufdruck wie von Zauberhand erneut geschwärzt und mit Blattgoldpuder eingestäubt: „Christine Hansen.“ Ich ziehe das Buch aus dem Regal, trage es hinüber in den Gang, lege es auf ein Stehpult und schlage es auf.

Wenn Teebeutel philosophieren

Aus Gründen beginne ich den Morgen mit einer Kanne Tee. Eine der Sorten, die ich in letzter Zeit ausprobiert habe, erfreut den Konsumenten mit kleinen philosophischen Weisheiten, so mausklein, dass sie auf den Anhänger eines Teebeutels passen. Da steht beispielsweise; „Wir brauchen keine Liebe, wir sind die Liebe selbst.“ Hm? Das lässt mich grübeln. Mal die Ersatzprobe machen, um hinter den Sinn zu steigen. „Wir brauchen keine Phrase, wir sind die Phrase selbst.“ Besser noch: „Wir brauchen keine Geschwätz, wir sind das Geschwätz selbst.“

Natürlich, wir werden auf uns selbst verwiesen, müssen uns besinnen auf uns selbst. Ein wichtiger, geldwerter Denkanstoß. Wem wir diesen Denkanstoß verdanken, verrät die Packung: Yogi Bhajan, Meister des Kundalini Yoga.

Man wird mir mit Recht vorwerfen, dass ich die Teebeutel-Philosophie nicht zu würdigen weiß, weil mir die positive Grundhaltung fehlt, wie sie etwa die Komikerin Martina Hill mit Sketchpartnerin in einem TV-Sketch demonstriert. Die Sketchpartnerin liest Teebeutelphilosphisches, schaut beseelt und sagt verzückt: „Schön!“ Hill liest: „5 Minuten ziehen lassen“ und sagt ebenso verzückt: „Auch schön!“

Der Witz entsteht aus dem semantischen Gefälle zwischen der Teebeutelphilosophie und der Handlungsanweisung zur Teebereitung. Aber ist der Verweis auf notwendige Selbstbesinnung keine Handlungsanweisung? Doch. Darum:
„Werde eins mit dir und sei ein Teebeutel!“, sagt Yogi Teestübchen Trithamias. „LOVE!“

Ein wenig Blog-Historie und Medientheorie

Das Internet vergesse nichts, wird gelegentlich behauptet. Das stimmt nur bedingt. Verschwundene Blogs, die auf einer versunkenen Plattform angesiedelt waren, sind höchstens über das Internet-Archiv „waybackmachine“ noch aufzuspüren, leider oft nur rudimentär – mit zerschossenem Layout und ohne Tondateien und Flash-Animationen. Ein Kommentar von Blog-Freundin Socopuk ließ mich nach einem Zweitblog stöbern, den ich neben dem Teppichhaus Trithemius bei Blog.de betrieben habe. Das Teppichhaus trug den Untertitel „Offene Bloguniversität, Cafeteria“, das Zweitblog war die Bibliothek, wo ich Faksimile von Tagebuchseiten, das von mir gezeichnete Kinderbuch und dergleichen veröffentlicht habe. Das Motto der Bibliothek, das mehrdeutige Wortspiel: „Nimm dir ein bisschen Zeit und gib sie dir“ gefällt mir noch heute.

In den Anfängen meines Bloggens im Jahr 2005 war ich noch enthusiastisch und glaubte, dass mit der Demokratisierung der Publikation eine neue Zeit angebrochen war – die Befreiung des Denkens von der Fremdherrschung durch die klassischen Medien. Im Internet sah ich die Chance für einen öffentlichen Diskurs in einer basisdemokratischen Universität, die keiner Zensur unterliegt und jedermann offen steht. Freilich hatte ich übersehen, dass die Menschen nicht darauf vorbereitet waren. Die klassischen Medien hatten Selbstdenken und Mitdenken nicht gefördert und stets nur eine geringe Teilhabe am Diskurs zugelassen – mit streng redigierten Leserbriefseiten. Unliebsame Meinungen landeten in Ablage P (Papierkorb). Die Zeitschrift Titanic dreht das Prinzip sogar um, indem das Magazin die Rubrik „Briefe an die Leser“ einrichtete, später schlecht kopiert von „Gossen-Goethe“ Franz Josef Wagner in der BILD mit „Post von Wagner.“

In diese geistige Landschaft der Einkanalmedien, hier Sender, dort stummer Empfänger platzten Facebook und Twitter, wo Leute das in die Welt setzen konnten, was zuvor nur mündlich an Stammtischen geäußert worden war. So haben denn Äußerungen im Mikroblogging eher den Charakter des unausgegorenen Mündlichen, rasch und unbedacht herausgehauen, ohne dass die natürlichen Filtermechanismen des Schriftlichen greifen: Gedanken zu Ende denken, Folgerichtigkeit beachten, Konsequenzen, mögliche Gegenpositionen erwägen und sich selbstkritisch zu befragen.

Was die neue Teilhabe am öffentlichen Diskurs betrifft, habe ich unterschätzt, dass viele Menschen der Anonymität des Internets emotional nicht gewachsen sind. Ich habe nicht vorausgesehen, dass eine Heckenschützenmentalität sich bahnbrechen würde, aus der heraus Hass und Morddrohungen verbreitet werden. Kurz: Ich habe mal wieder auf das Gute im Menschen vertraut und gedacht, dieses wunderbare Instrument Internet werde sich zum Nutzen der Menschheit entwickeln. Es würde eine Form der sozialen Energie sich breitmachen, die alle erfasst und sie zu verantwortlichen selbst denkenden Individuen macht.

Heute, 15 Jahre später, lässt sich das Gegenteil beobachten. Die oft gelesenen Nachdenkseiten untertiteln sich resignativ mit „Für alle, die sich noch eigene Gedanken machen.“ Dieses „noch“ erregt meinen Unwillen, als wäre es schon ausgemacht, dass die eigenen Gedanken eine vom Aussterben bedrohte Art sind. Wenn das so ist, dann bieten die gepflegten Netze der Blogcommunity eine Nische. Hier werden Gedanken zu Ende gedacht, hier findet eine freundliche Interaktion statt, ein Geben und Nehmen von Ideen. Hier fließt soziale Energie.

Experiment gescheitert (U) – Acht Omas uzen einen Igel

Folge AFolge EFolge IFolge O – Folge U

Der Schwabe stieg ab und nahm seine Station ein. Bald entschwand er unseren Blicken. Wir fuhren weiter zur nächsten Station I.
„Bevor Sie gleich absteigen, verraten Sie mir bitte Ihren Namen, Herr I!“, sagte Madame Dobbelstein. „Ich möchte ich Sie ungern als I in Erinnerung behalten, denn I kennt man allgemein als Interjektion des Ekels. “

„Ich heiße Karl-Hermann Hutschkottenreuther-Dillbohner.“

„Himmel! Das habe ich nicht ahnen können. Mir Ihren Namen zu merken, wäre eine unverzeihliche Verschwendung geistiger Ressourcen, ihn auszusprechen verschlechtert unserer CO2-Bilanz. Da bleibe ich doch lieber bei I.“

„Zumal I als der mittlere Buchstabe der Vokalreihe etwas Besonderes ist“, sagte ich. „Das ist übrigens bei den Ogham-Runen anders. Da steht I am Schluss. Die Reihe geht so: A – O – U – E – I.“ Weil es konkurriert mit dem vertrauten A – E – I – O – U, habe ich mir einen Merksatz für die Vokalreihe der Ogham-Runen ausgedacht: ‚Acht Omas uzen einen Igel.‘ A – O – U – E – I.“

Madame Dobbelstein schnaubte: „Muss das jetzt sein, Herr Ley? Sie bringen Herrn I ganz durcheinander!“ Sie stoppte die Draisine, damit I absteigen konnte. Nun waren wir nur noch zu Dritt.

„Sie sind ja ein echter Volkalreihentheoretiker“, sagte Herr O hämisch, derweil die Draisine wieder anrollte. Eine gewisse Abneigung zwischen uns war nicht zu leugnen.

„Ein Grund, warum ich am Experiment teilnehmen will. Welchen Grund haben Sie, Herr O?“, fragte ich arglos.

„Ich überwache das Experiment im Auftrag der katholischen Glaubenskongregation.“

Du lieber Herr Gesangsverein, das ist doch der euphemistische Name der Inquisition. Plötzlich verstand ich, warum O und ich uns von Beginn an so herzlich unsympathisch waren. Ich sagte: „Herr Inquisitor! Ich bin Atheist und verachte alles, was Sie und ihresgleichen vertreten. Sie haben genug Leid über die Menschheit gebracht. ‚Überwachen‘ Sie nur in Ihrem Wahn, aber wagen Sie nicht, das Experiment zu sabotieren. Sie haben an Station A mein Megaphon zu Boden gestoßen. Glücklicherweise funktioniert es noch. Einen weiteren Übergriff werde ich zu verhindern wissen.“

Der Inquisitor war von der Heftigkeit meiner Worte überrascht und setzte zu seiner Verteidigung an: „Der heiligen katholischen Kirche missfällt die zunehmende Anrufung des Satans, also wenn aus Leichtfertigkeit, Übermut oder Bosheit allerorten rückwärts geredet wird.“

„Wir reden überhaupt nicht rückwärts. Jeder Einzelne von uns sagt nur einen Vokal auf.“

„Auf der Metaebene rufen Sie den Satan an.“

„Verstehe ich Sie richtig, Herr O, dass Sie etwas gegen das Experiment einzuwenden haben und es erst jetzt sagen?“, fragte Madame Dobbelstein wie leichthin. Der Hund ahnte wohl einen gefährlichen Unterton, fletschte die Zähne und begann zu knurren.

„Ach, seien Sie ganz still, Sie mit Ihrer Hexenkraft!“, sagte O heftig. „Sie wissen sicher, was die heilige Inquisition mit Ihresgleichen gemacht hat.

„Jetzt mäßigen Sie sich aber, Herr Inquisitor!“, sagte ich.

„Ich gehe davon aus, dass Sie Ihre Aufgabe in der Postenkette nicht korrekt ausführen wollen“, sagte Madame Dobbelstein. „Also muss ich Sie bitten, die Draisine unverzüglich zu verlassen.“

Wir hielten. Über die Ebene fegte ein unangenehmer Wind heran, der mich frösteln ließ. Der Hund hatte sich aufgerichtet und verfolgte aufmerksam, wie der dickliche O unbeholfen von der Plattform stieg. Ich widerstand der Versuchung, die Sache mit einem Tritt zu beschleunigen. Mit Genugtuung sah ich, wie O den Gleiskörper verließ und die Festigkeit der Ebene überschätzte. Seine Schuhe versanken in einer schlammigen Stelle und er warf einen verzweifelten Blick zum Himmel.

„Es bleibt uns keine Wahl, Herr Ley“, sagte Madame Dobbelstein. „Wir müssen tauschen. Sie übernehmen Station O und ich werde weiterfahren zu Ihrer Station U.“

Das war mir nun gar nicht recht, denn ich hatte mich innerlich die ganze Zeit schon mit U beschäftigt, hatte memoriert: ‚Dunkles, gruftdunkles U, samten wie Juninacht‘ und jetzt sollte ich mich auf O umstellen? Hoffentlich würde ich nichts falsch machen. Mein Einsatz ging schief, wie man weiß. Ich hörte noch das U von Madame Dobbelstein heranfliegen, dachte in der Aufregung, wieso U? Das ist doch mein Vokal, und rief so laut ich konnte „E“ ins Megaphon. Auf U folgt E oder nicht? „Acht Omas uzen einen Igel.“

Epilog: Die Handlung und die handelnden Personen sind erfunden, aber alles zur Alphabetmystik und zu den Vokalen ist wissenschaftlich belegt. LeserInnen aus Österreich wissen, dass die Vokalreihe AEIOU auch ein Motto ihres Landes ist. Interessierte können alles nachlesen in: Buchkultur im Abendrot.

Noch etwas: Da ich kein Schwäbisch kann, habe ich ein Online-Übersetzungs-Tool Deutsch-Schwäbisch genutzt. Inzwischen wurde mir von einer kundigen Mundartsprecherin mitgeteilt, dass die schwäbischen Passagen „unverständliches pseudoschwäbisches Zeug“ seien, und sie war so freundlich, alles zu korrigieren. Ich habe die Korrekturen eingearbeitet.

Experiment gescheitert (O) – Das Geheimnis der Vokale

Vorbemerkung des Autors: In meiner Jugend habe ich eine hektografierte Zeitung herausgebracht, die „Dampfdruck“ hieß. Ursprünglich sollte sie den skurrilen Namen „Männer aus Indien“ tragen. Für das erste Titelblatt stellte ich mir den Mergelkeller meiner Großmutter vor, in dessen Mitte ein Bollerwagen mit hochgeklappter Deichsel stand, worin dichtgedrängt fünf Männer saßen und irritiert aus der Wäsche schauten. Technische Defizite der späten 1960-er Jahre verhinderten die fotografische Darstellung.

Aber in diesen Keller meiner Großmutter, dessen Boden aus gestampfter Erde bestand und in dem nie Licht genug gewesen ist, um alle Ecken auszuleuchten, zu den Regalen mit den vor Jahrhunderten eingemachten Pfirsichen musste man sich vortasten, in diesen Keller habe ich mein schönes Teestübchen-Blog mit den drei Folgen meiner Erzählung hineingeschrieben. Doch ich bin wohlauf und will die Geschichte weiter erzählen, schon allein, um meine selige Mutter zu widerlegen, die behauptet hat, ich würde nie etwas fertig machen.

Ich habe den Bollerwagen mit den fünf Indern zur Seite geschoben und mir Platz zum Schreiben verschafft.

Mal rekapitulieren, es geht um Lichtenbergs alphabetmystisches Vokalenexperiment. .,jhtre321 – Huch, da rannte eine Maus über meine Tastatur! Kam von rechts unten und lief nach links oben. Also, wenn sie hier mitschreiben wollte, müsste sie sich schon an unsere rechtsläufige Schreibrichtung halten und in der Zeile bleiben …

Wieso Alphabetmystik? Unsere Vokale umgibt ein Geheimnis. Verschiedene Kulturen schreiben den Vokalen eine Nähe zum Göttlichen zu. Bereits im alten Ägypten priesen die Priester die Götter durch die sieben Vokale, die sie der Reihe nach ertönen ließen. A E I O U ist der Name Jehovas bei den Juden. Er kann nicht ausgesprochen werden, weil der wahre Klang der Vokale den Menschen bis zum Jüngsten Tag verborgen bleibt. Rückwärts gesprochen ist die Vokalreihe eine Anrufung des Satans. Es geht also nicht einfach um ein physikalisches Experiment mit der Schallgeschwindigkeit, sondern das Experiment hat eine sprachmagische Dimension. Zurück in die Erzählung:
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creepy

Wieder mal habe ich mein Blog mit einer längeren Erzählung in den Keller geschrieben, heute auch keine Zeit gehabt, sie weiter zu führen, bin aber auch traurig deswegen. Im Keller ist nicht gut schreiben, und sich aus dem Keller herauszuschreiben, große Kunst, die ich nicht beherrsche. Mein vertrauter Lektor schlug vor, ich sollte über Missgeschicke schreiben, wenn ich mein Blog wiederbeleben wollte. Das kann ich mal rasch. Ich war beim Friseur. Früher, wenn ich meinem Freund Coster sagte, ich sei beim Friseur gewesen, sagte er zuverlässig: „Und warum bist du nicht drangekommen?“

Diesmal könnte er das nicht mehr sagen, denn der Friseur hat mir ein Plätzchen geschnitten, will sagen, ich weiß gar nicht, wie ich die Frisur mit Würde tragen soll. Also behielt ich heute fast überall die Mütze auf. Böse Zungen werden sagen, dass ein Friseur es auch schwer hätte mit meinen Haaren und meinem Kopf. Gegenfrage: Warum müssen die einen ihnen völlig unbekannten Friseur in Schutz nehmen? Solidarität geht anders. Ich erwarte ja nicht, dass er gleich geteert und gefedert wird. Obwohl … dieser hübsche Brauch gehört wiederbelebt, besonders bei Friseuren. Aber zumindest wäre es an der Zeit, mich zu bedauern.

Experiment gescheitert – Folge I

Die Draisine fuhr hinaus in die Ebene. Hinter uns verebbte der Applaus. Das Gleis führte jetzt über einen flachen Damm. Wir durchquerten ein Feuchtgebiet. Ab und zu sah man im kümmerlichen Gras große Lachen stehen. Eine Weile war nur das Rollgeräusch der Räder auf den Schienen zu hören. Plötzlich sang Madame Dobbelstein: „Eisen auf Eisen rollt sich ab, tock tock.“ Der Hund hob den Kopf und ich erschrak. Es war, als hätte die Blinde uns einen Moment in ihre Welt einbezogen, die ja mehr Ton war als Anblick.

Der Unteroffizier unterbrach diesen zauberischen Augenblick: „Ich versteh nicht, warum ich nicht direktemang vor die Leuten stehen bleiben kann.“

„Sie sprechen ja Deutsch!“, sagte ich erstaunt.

„Ich komme aus Eupen“, antwortete der Unteroffizier. „Da lernt man Deutsch auf die Straße. Meine Mutter hat immer gesagt: ‚Die Sprache muss du lernen, Deutsch lernst du sowieso.‘ Die Sprache, weiß jeder, das ist Französisch. Très bien. Also, warum muss ich mit Sie in diese trostlose Einöde rausfahren, Madame Dobbelstein?“

„Aus Gründen der Harmonie und des Wohlklangs. Wenn sie direkt vor dem Auditorium stünden, müssten sie ja nicht rufen. Die anderen Vokale werden aber gerufen. Darum.“

Der Schwabe, zuständig für das E, sagte: „I verschdehe des Exberimend sowieso ned. Mi inderessierd nur des Honorar. Mir Schwaba achda eba uf’s Geld – ond bringa’s deshalb zu ebbes.“

„Aber wird man Sie an den großen Opernhäusern Europas nicht schmerzlich vermissen, derweil Sie hier in der Einöde nur den Vokal e plärren?“, fragte ich.

Der Schwabe warf mir einen giftigen Blick zu und sagte: „Ganz dünnes Eis, der Herr.“

Kollege I bat: „Könnten Sie uns das Experiment noch einmal erklären, Madame Dobbelstein?“

Madame Dobbelstein legte den Kopf schief und lauschte. Kollege I hatte sich bislang gar nicht gemeldet, tauchte also neu in ihrem Universum auf. Sie sagte: „Sie müssen Herr I sein. Also: Lichtenberg schlägt vor, dass fünf Personen unsere Vokalreihe a-e-i-o-u aufsagen, und zwar von hinten, also u-o-i-e-a, will aber, dass eine weitere Person a-e-i-o-u zu hören bekommt. Wie soll das gehen? Es könnte gelingen, wenn die fünf Personen nicht nebeneinander stünden, sondern im Abstand von je 340 Metern. Der Schall legt diese Distanz in einer Sekunde zurück. Zuerst wird Herr Ley also den Vokal U rufen, aus einer Entfernung von 1700 Metern. Sein Ruf benötigt 5 Sekunden, um bei den Hörern einzutreffen, Das O, aus einer Entfernung von 1360 Metern trifft nach 4 Sekunden ein, Ihr Ruf „i“ nach drei Sekunden, des Schwaben „e“ nach zwei Sekunden, des Eupeners „a“ nach einer Sekunde. Somit käme jeder Vokal gleichzeitig bei den Hörern auf der Tribüne an. Darum werden Sie die Vokale um eine Sekunde zeitversetzt rufen. Achten Sie auf den Piepton! Das Auditorium hört dann die richtige Abfolge, also a-e-i-o-u , obwohl sie falsch herum aufgesagt wurde.“

„Verstehe ich, aber der Sinn erschließt sich mir nicht. All der Aufwand – für diese Spielerei?“

„In arte voluptas. – In der Kunst liegt das Vergnügen! Friedrich Schiller sagt:
Der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Wortes Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt.
Madame Dobbelstein unterschlug dabei, dass Fräulein Astrid durchaus eigennützige Interessen verfolgte, anders als Lichtenberg, der lediglich ein Gedankenexperiment umrissen hatte.

Vor uns, linker Hand tauchte die erste Station auf, erkennbar an einem Tisch, auf dem fünf Megaphone in Reihe auf ihre Trichter gestellt waren. Der Hund knurrte, Madame Dobbelstein brachte die Draisine zum Stehen und sagte: „Hopp, meine Herren, greifen Sie sich ein Megaphon und die Kopfhörer, und Sie, Herr Unteroffizier, nehmen Station A ein! Ich sende Ihnen ein Signal, sobald wir die ferne Station U erreicht haben und auch Herr Ley bereit zum Rufe ist.“

Hier entpuppte sich mein Kontrahent, Herr O, als Saboteur. Vielleicht war er auch nur ungeschickt. Jedenfalls stieß er mein Megaphon vom Tisch.

Fortsetzung folgt

Experiment gescheitert – Folge E

Unsere Draisine rollte aus dem Hohlweg und hielt. Links der Strecke war aus einem Aluminiumgestänge eine kleine Tribüne aufgebaut. Etwa 20 Leute zu je fünf nebeneinander saßen übereinandergestapelt in Fahrtrichtung, wo sich in der Ferne das Gleis hinter einer Biegung verlor. Jetzt wandten sich die Gesichter uns zu. Fräulein Astrid, schön anzusehen, so ätherisch, so berückend androgyn, festlich in ein graublaues Kostüm gekleidet, trat neben die Draisine und sprach in ein Haedsetmikrophon:

„Verehrte Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen vom Institut für Pataphysik an der RWTH Aachen. Gerade sind die Akteure meines akustischen Experimentes eingetroffen, vier ausgebildete Sänger und ein Unteroffizier, der seine Stimme auf dem Kasernenhof trainiert hat.“ Die blinde Loreley trat an die Tribüne und verteilte Fotokopien. Fräulein Astrid fuhr fort: „Gestatten Sie, dass ich etwas weiter aushole. Vor einigen Monaten wurde mir ein Blatt unbekannter Herkunft zum Kauf angeboten, dessen Fotokopie Sie gerade bekommen.“ Sie wartete einen Moment, bis alle Kopien weitergereicht waren. Dann fuhr sie fort:

„Über der idealtypischen Zeichnung lesen Sie eine Bemerkung Lichtenbergs:

‚Man könnte fünf Personen so stellen, dass der erste u, der zweite o und so weiter i, e, a aussprächen und danach ein sechster a, e, i, o, u sagen hörte‘,
also die klassische Vokalreihe unseres Alphabets. Der unbekannte Autor des Blattes hat sich offenbar mit der Frage beschäftigt, wie das in der Praxis zu bewerkstelligen wäre. Was Lichtenberg als Idee lieferte, ein Unbekannter zeichnete und als Konzept niederlegte, will ich heute in einem akustischen Experiment demonstrieren, dessen physikalische Grundlage die Geschwindigkeit ist, in der sich Schallwellen verbreiten.

Die Versuchsanordnung ist wie folgt: Madame Dobbelstein, meine Assistentin, wird die Herren mit der Draisine zu vorher ausgemessenen Stationen am Gleis fahren. Monsieur Unteroffizier wird die 340 Meter entfernte Station a besetzen, die anderen Herren die weiteren Stationen, also in 680, 1020, 1360 und 1700 Metern Entfernung. Sie werden von dort den ihnen zugewiesenen Vokal rufen, und zwar auf ein um Sekunden gestaffeltes Funksignal hin. Damit die Lautstärke reicht, wird Madame Dobbelstein alle Rufer mit einem Megaphon ausstatten. Die von Lichtenberg genannte sechste Person sind Sie, meine Damen und Herren. Sie werden die Vokalreihe wohlgeordnet hören, obwohl sie verkehrt herum ertönt. Wir haben an diesem schönen Märztag genau 15 Grad Celsius. So herrschen optimale Bedingungen für die Schallausbreitung.“

Während dieses Vortrags spürte ich, wie große Nervosität in mir aufkeimte, eine Sorte Lampenfieber. Und ehrlich gesagt, hatte ich weder Lichtenbergs Idee noch die Versuchsanordnung richtig verstanden. Auch fiel mir wieder der bedeutende theoretische Physiker Wolfgang Pauli ein, in dessen Gegenwart erstaunlich viele Experimente scheiterten, ja, sogar technische Einrichtungen versagten und zerbrachen, weshalb derlei unerklärlichen Phänomene „Pauli-Effekt“ heißen. Demnach lautet das „zweite Paulische Ausschließungsprinzip“: „Es ist unmöglich, dass sich Wolfgang Pauli und ein funktionierendes Gerät im selben Raum befinden.“ Pauli verstarb 1958. Im gleichen Jahr war ich geboren. Was, wenn der Pauli-Dämon, durch Paulis Tod heimatlos geworden, just in meinen unschuldigen Säuglingsbalg gefahren wäre? Und ich hätte ihn all die Jahre arglos beherbergt, nicht wissend, welches Unheil in mir schlummerte. Ich hatte noch nie an einem physikalischen Experiment teilgenommen, weshalb ich nicht wusste, ob meine Teilnahme sich als Störfaktor erweisen würde.

Madame Dobbelstein und ihr Hund nahmen wieder bei uns auf der Draisine Platz. Als sie sich langsam in Bewegung setzte, rief Fräulein Astrid uns zu: „Machen Sie ihre Sache gut, meine Herren!“, und unter dem Beifall des Auditoriums rollten wir davon.

Fortsetzung folgt

Experiment gescheitert – Erzählung in Folgen (A)

Nun ist alles verloren. Ich kann mich eben so gut erschießen. Mein geliebtes, verehrtes Fräulein Astrid will mich nicht mehr sehen. Ich habe verschuldet, dass ihr physikalisches Experiment vor den Augen geladener Gäste gescheitert ist. Es hatte soviel davon abgehangen. Nicht nur Forschungsgelder in schwindelerregender Höhe wären ihr zugekommen, sondern auch und vor allem winkte ihre Aufnahme in die internationale Gesellschaft für Pataphysik. Das habe ich durch einen dummen Fehler vereitelt.

Aber muss Fräulein Astrid mich gleich verstoßen? Aus meiner Sicht bin ich beinah unschuldig am Scheitern des Experiments. Schon Tage zuvor stand mein Leben unter einem Unstern. Kleinigkeiten gingen schief oder wurden zu meinen Ungunsten geregelt. Hinzu kommt mindestens ein Versäumnis ihrerseits. Wieso waren die Teilnehmer des Experiments nicht überprüft worden? Stattdessen hing alles von der Geistesgegenwart und dem Improvisationstalent einer blinden Schönheit ab. Außerdem behandelten mich die anderen Teilnehmer des Experimentes herablassend, so dass eine alte, tief sitzende narzisstische Kränkung wieder aufbrach. So war ich im entscheidenden Augenblick zu verwirrt und unfähig zu tun, was erforderlich war. Jede, jeder von uns hat schon einmal vor einem Bankautomaten gestanden und wusste den PIN-Code nicht mehr. Das kann passieren, wir sind halt keine Automaten. So auch im Experiment. Ich hatte meinen Text vergessen und deshalb den richtigen Zeitpunkt verpasst. Nicht ich, sondern Fräulein Astrid wurde zum Gespött ihres Auditoriums, denn sie hatte mich ausgewählt.

Insgesamt waren wir vier Tenöre und ein Unteroffizier einer belgischen Fallschirmjägerbrigade. Die Fünf ist gemeinhin meine Glückszahl, aber ich stand wohl noch immer unter dem Unstern. Unter diesem negativen Einfluss will ich die ganze Geschichte vom Anfang an erzählen, ungeachtet der Gefahr, dass auch das mir misslingen könnte. Lies und entscheide selbst am bitteren Ende:
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