Liebe Teestübchenbesucherinnen und -besucher, anders als gestern angekündigt, kann die Fortsetzung der Gruselgeschichte „Drei Tage kommt es“ heute nicht erscheinen. Ich bin leider zu krank und anders als mein Protagonist Ich-Erzähler noch nicht wiedererstarkt. Wie das zuging, siehe meinen Strip „Saturday Night Fever“, nur dass ich mir die Erkältung morgens zuzog.
Monat: November 2019
Drei Tage kommt es – eine Gruselgeschichte in Folgen
eun Tage war ich krank und elend gewesen, hatte die meiste Zeit im Bett verbracht. Die Stube in meiner Hütte war nicht warm zu kriegen, auch wenn ich es schaffte, den gusseisernen Kanonenofen zu füttern und die Scheite in ihm lustig aufflackerten. Aus dem Novembernebel kroch unentwegt die nasse Kälte herein. Das Schlimmste war das nächtliche Fieberdelirium gewesen, dieser Traum, der nicht vorankam, sondern mich immer und immer das Gleiche erleben ließ. Auch hatte ich bei all dem Traumgeschehen das beständige Unbehagen, dass mir jemand über die Schulter schaute. Ein Ding der Unmöglichkeit, sagte ich mir in halbwachen Phasen, denn hinter und unter mir war mein Kopfkissen auf der Matratze. Einmal schaute ich sogar unter mein Bett, weil mein nächtlicher Hintermann derart präsent gewesen war. Glücklicherweise wich der Traum, und am zehnten Tag erwachte ich erstarkt und guten Mutes. Schon kämpfte sich auch die Sonne durch den Nebel und weckte meinen Tatendrang. Ich packte meine Sachen ein und radelte los, um endlich den jüngst freigelegten gallo-romanischen Tempel zu besuchen, zu vermessen und zu zeichnen. Dass der Tempel so spät erst entdeckt worden war, lag an der menschenleeren Gegend, in der man ihn gefunden hatte. Als hätten nachfolgende Generationen den Ort gemieden, war weit und breit keine menschliche Siedlung. Auch die Landwirtschaft war wenig ergiebig. Auf meinem Weg hinauf auf den kahlen Höhenrücken sah ich Brachen und Ödland, und wo doch eine Pflugschar den Boden für Saatgut bereitet hatte, wucherte mehr Unkraut als Feldfrucht. Je näher ich dem Tempel kam, desto mehr Brennnesseln, Brombeergestrüpp und Disteln sah ich.
Die Straße war von der auf der Talsohle fast im rechten Winkel abgezweigt und führte steil hinan, so dass ich gezwungen war, aus dem Sattel zu gehen und im Wiegetritt hochzustampfen. Erst weiter oben hatten ihre Erbauer ein Einsehen gehabt und ließen die Straße in großen Bögen mäandern. Aber längst hatte ich zuviel Kraft gelassen und kam kaum voran. Trotz der Kälte schwitzte ich mein Unterhemd klatschnass. Als säße überdies ein fauler Fettwanst mir im Nacken, flüsterte es: „Gib auf! Zu schwer! Wozu sich quälen?“ Sogar komplizierte Fremdwörter kramte der faule Hund hervor und raunte: „Du bist noch Rekonvaleszent.“ Namentlich die Haarnadelkurven waren so steil, dass ich fürchtete, die Kette zu zerreißen, so sehr ächzte sie über die Ritzel des größten Zahnkranzes. Den hatte ich mir für den Notfall aufsparen wollen, doch dieser Notfall war längst eingetreten. Von oben sauste mir ein Radfahrer entgegen. Als er mich sah, riss er den Arm hoch und rief irgendwas, wovon nur das letzte Wort an mein Ohr wehte: „…,Monsieur!“ Oder hatte er „ … Mon Dieu!“ gerufen?
Endlich wuchtete ich mich hinter der letzten Serpentine auf den Höhenrücken, ließ mich erleichtert auspustend in den Sattel sinken, kam zu Atem und radelte entspannt vorwärts. Vor mir erstreckte sich die Straße schnurgerade aus und verlor sich in der Ferne. Ich konnte das leere Tal überschauen, aus dem ich hoch gekommen war. Meine Stimmung hob sich. Wie ich auf der Karte in den Mitteilungen der archäologischen Gesellschaft gesehen hatte, musste irgendwo vor mir nach links ein Feldweg abzweigen, und der würde mich geradewegs zum höchsten Punkt der Gegend führen, wo Archäologen den Tempel ausgegraben hatten, nachdem er per Luftbildanalyse entdeckt worden war.
Gekritzelt – Meisterhaft tot sein
Geladen
Allmorgendlich, wenn ich Google.News aufrufe, um zu sehen, ob die Welt noch steht oder ob nicht ein durchgeknallter Egomane den Planeten gesprengt hat, erschrecke ich vor der rechts oben aufblitzenden Nachricht: „Dein Wetter wird geladen.“ Wie geladen? Ich bin Kriegsdienstverweigerer. Oder ist etwa meine Laune gemeint und Google befindet „Geladen.“ Da erwarte ich über mir eine finstere Wolke, aus der Blitze herabzucken, und bodenlosen Grimm. Muss aber nicht jeden Morgen sein, hehe.
Sitt sein
Zehnmal, verteilt über zweieinhalb Monate, bin ich nach Badenstedt zu meiner famosen Logopädin geradelt. Jedesmal bei meiner Rückfahrt kam ich am Getränkemarkt Sitt vorbei und nahm mir vor, das Fimenschild zu fotografieren. Da ich fast nie das Smartphone bei mir habe und die Kamera auch vergaß einzustecken, kann ich leider kein Foto bieten. Worum geht’s ?
Im Sommer 1999 wandte sich die Dudenredaktion zusammen mit Lipton Ice Tea mit einer Marketing-Aktion an die Schulen: „Uns allen fehlt ein Wort“, nämlich eines für den Zustand, wenn man genug getrunken hat. Die vermeintliche Lemmalücke sollte mit Lehrerschweiß, Schülergehirnschmalz und Ice-Tea geschlossen werden. Meine Schulleiterin kam damit zu mir und fragte: „Möchtest du dich mit deinen Schülern am Wettbewerb beteiligen?“ Ich sagte: „Um Himmels Willen, nein!“
Aber es müssen sich genug Deppen gefunden haben. Am Ende fand die Jury das Wort sitt preiswürdig. „Möchtest du noch einen Ice Tea?“ „Nein, danke, ich bin sitt.“ So muss man sich den Gebrauch des fehlenden Wortes vorstellen. Was in Wahrheit fehlte, war Verstand, denn Wortbildung per Preisausschreiben funktioniert einfach nicht, was zumindest die Dudenredaktion hätte wissen müssen. Aber es ging wohl gar nicht darum, den deutschen Wortschatz zu bereichern, sondern der Wettbewerb war der armselige Versuch, das Werbeverbot an Schulen zu unterlaufen. Die Frage nach einem Gegenwort zu durstig ist nichts als ein Marketingjux. Wir vermissen kein Antonym zu durstig, weil das Trinken kein echtes Sättigungsgefühl vermittelt. Anderenfalls käme man mit flüssiger Nahrung aus, nach dem Motto: Das bisschen, was ich esse, kann ich auch trinken. Der weltkluge Egon Erwin Kisch hatte es lange zuvor schon auf den Punkt gebracht:
- Die Liebe gleicht dem Trinken
Man wird davon nicht satt,
Wenn man auch viel geliebet
Und viel getrunken hat.
Nie kriegt man vom Trinken richtig satt, drum ist es möglich, einen Getränkemarkt „Sitt“ zu nennen, ohne sich das Geschäft zu verderben.
Sarglegung zur Probe
In einer Talkshow waren einmal zu Gast der Berliner Schauspieler Curt Bois und der kongeniale Zeichner Tomi Ungerer. Curt Bois erzählte, er habe schon seinen Sarg und sich mehrfach zur Probe hineingelegt. Darauf sagte Tomi Ungerer: „Übung macht den Meister.“
[übermittelt durch Uwe Saenger]
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Ungeschicktes Fleisch
In meiner Küche ist es neuerdings gefährlich. Ich habe mir ein scharfes Küchenmesser angeschafft. So scharf es ist, habe ich mir schon heftig damit in den Daumen geschnitten. Genau an diesem Daumen habe ich seitlich des Nagels eine tiefe Narbe, weil ich als Kind mit einem Schnitzmesser hineinratschte. In meiner rheinischen Heimat, wo man kindliches Leid nicht ganz ernst nahm, hieß es: „Das ist ungeschicktes Fleisch. Das muss weg!“ Glücklicher Weise ist das „ungeschickte Fleisch“ wieder angewachsen. Mir lag einfach an der Vollständigkeit meines Daumens.
Jetzt also musste mein linker Daumen erneut dran glauben, und geblutet habe ich wie ein Schwein auf der Schlachtbank. Es hat gut vier Wochen gedauert, bis die tiefe Wunde völlig verheilt war. Demgemäß keimt in meiner Küche die Angst auf, wenn ich das Messer aus der mitgelieferten Schutzscheide gezogen habe. Als wäre es ein Samureischwert, das einmal aus der Scheide gezogen, in Blut getaucht werden muss, fühle ich mich und meine Finger bedroht. Dabei will ich nur Gemüse schneiden.
Wo ich Schriftsetzer lernte, war im Hof unten die Wurstküche der Metzgerei Dreckkötter. Allmorgendlich kreischte dort die Knochensäge, als hätte sie das Leid von Millionen Schlachttieren in ihrem Sägeblatt gespeichert. Der infernalische Lärm einer Kreissäge hatte mir schon in Kindertagen Gänsehaut eingejagt, und da hatte der Bauer in der Nachbarschaft nichts als Holz gesägt. Das hier aber war eindeutig schlimmer, denn es ging ja in zweifacher Hinsicht durch Mark und Bein. Zudem war der Metzgermeister ein Sangesbruder, der sich vom Hall seiner gekachelten Wurstküche immer wieder herausfordern ließ. Was aber kann schlimmer sein als die Vorstellung von einem, der, mit den Armen bis zu den Ellenbogen im Blut, gemütlich Arien trällert? Oft lief auch böse brummend ein Separator, und während mit diesem Gerät die unsäglichsten Kadaverteile für die Wurstpaste zermahlen wurden, erschallten wie diabolische Kommentare die selbstzufriedenen Gesänge des Metzgermeisters. Manchmal ließen sich auch die Gesellen verleiten und stimmten mit ein, bis der Meister sie wütend anschrie, mal solle ihm gefälligst nicht sein Liedchen klauen, also „Aufhören!“ und „Schnauze halten!“ Sogleich war es aus mit dem Singen, wüste Worte flogen hin und her, aus den vormaligen Sängerkehlen rauh hervorgestoßen, und man bewarf sich mit diversen Gerätschaften und Knochen. Das waren die Ausrufezeichen. Was nicht traf, landete krachend in den Ecken, ging es ins Ziel, lamentierte der Getroffene, und der Werfer frohlockte.
Der Schriftsetzergeselle Michael Dykers erzählte mir folgendes: „Einmal stand der Geselle an der Knochensäge, da hat der Dreckkötter ihm voll in den Arsch getreten, dass der Geselle nach vorne gefallen ist und sich zwei Finger abgesägt hat. Zack, zack! Und dann konnten sie in der Knochenkiste zwischen all den Knochen die abgetrennten Finger nicht finden. Als der Geselle schon mit dem Krankenwagen abtransportiert war, hat Dreckkötter sie endlich aus der Knochenkiste aussortiert und ist hinterhergefahren, damit sie ihm die Griffel wieder annähen konnten.“ Ob das stimmt, weiß ich nicht. Vielleicht sind die Metzgerfinger auch zermahlen worden und in die fette Knoblauchwurst geraten.
Ich bin ja Vegetarier.
Fernsehen tut manchmal sehr sehr weh
Zufällig im Vorbeizappen bei „3nach9“ den Juso-Vorsitzenden Kevin Künert gesehen. Er schwärmte von den kulinarischen Genüssen im Hauptbahnhof von Hannover. In einem Laden im Untergeschoss gebe es „sehr sehr gute Brötchen mit Wurst drauf“. Und es sei bei ihm und seinem Freundeskreis „ein running gag, wir schicken uns immer Fotos, wenn wir bei diesem Laden sind und eh, es ist sehr lecker.“
Der Journalist Giovanni di Lorenzo fragte investigativ nach:
„Und ist das Mett oder Tartar?“
„Ich bin eher die Fraktion Mett (…).“
„Ist das der Realo- oder der Fundiflügel?“
„Das ist der Fundi-Flügel“ (…)
„Und mit Zwiebel oder ohne?“
„Selbstverständlich ohne Zwiebeln (…)“
Der Tagesschau-Nickautomat Judith Rakers grätschte dazwischen: „Stimmt das, Giovanni?“
Ich dachte, ihr seid ja noch viel größere Deppen als ich geglaubt hätte. Und was soll ich sagen, diesen Wortwechsel aus dem Untergeschoss der öffentlich-rechtlichen Fernsehunterhaltung musste ich mir heute mehrmals in der Mediathek anschauen, um ihn korrekt wiedergeben zu können. Wegen solcher Qualen habe ich im Jahr 2006 aufgehört, für die Titanic „Briefe an die Leser“ zu schreiben. Wir lernen: der Fundiflügel, den es eigentlich nur bei den Grünen gibt, aber das kann man als ZEIT-Herausgeber schon mal verwechseln, also der Kreis um den Jusovorsitzenden Kevin Künert mampft im hannoverschen Hauptbahnhof Mettwurstbrötchen und schickt sich von diesem weltbewegenden Ereignis gegenseitig Fotos aufs Smartphone.
Liegt das an schwammartiger Rückbildung von Gehirnsubstanz durch BSE?
Kinder in Afrika buddeln in 50 Meter tiefen Minen mit bloßen Händen nach Kobalt und anderen seltenen Erden für die Smartphone-Herstellung, damit Kevin Künert Bilder von seinem Wurstbrot in die Welt schicken kann. Die desgleichen barbarischen Bedingungen der tierquälerischen Billigfleischerzeugung für Wurstbuden in Bahnhofs-Untergeschossen wecken im ZEIT-Herausgeber di Lorenzo die brennende Neugier, ob Zwiebeln drauf kommen.
- „Sollen wir Ihnen den Weltekel einpacken oder geht der so mit?“
„Haben Sie Geschenkpapier?“
„Welches hätten Sie denn gern, das Schwarze oder das Rote mit Herzchen?“
„Keine Ahnung. Ach, lassen Sie nur, ich nehm‘ ihn für unterwegs.“
Ausgeschwemmt aus der Besenkammer des Geistes
Schlafforscher haben Testpersonen ins MRT gelegt, um zu erhellen, was im Gehirn eines Schläfers geschieht, und fanden, dass im Schlaf Gehirnflüssigkeit, auch Liquor genannt, in pulsierenden Wellen durch Teile des Gehirns schwemmt und dem Gehirn eine Wäsche verpasst. Daran sind drei Sachverhalte erstaunlich, dass erstens die armen Probanden überhaupt einschlafen konnten, bei dem enormen Lärm der kreisenden Magnete im MRT, zweitens die Schlafforscher nicht auf die Idee kamen, die Liquorwäsche wäre genau durch den widernatürlichen Schlaf im MRT erst hervorgerufen worden.
Beim dritten Aspekt wollen wir einfach gutwillig annehmen, dass die nächtliche Hirnwäsche mit Liquor eine systeminhärente Funktion ist, die allnächtlich auftritt, wenn man ganz normal im gemütlichen Bett liegt und nicht in der beängstigenden MRT-Röhre. Da diese Liquorwellen dem Vernehmen nach nur innerhalb weniger Sekunden durchs Gehirn fluten, könnte durchaus geschehen, dass unzugängliche Ecken nicht gesäubert werden, gleich den finsteren Besenkammern, die zwar Reinigungsutensilien aufbewahren, aber selber höchst selten gereinigt werden. Was dort lagert, kann sich Jahrzehnte ablagern, bis mal ein guter Geist einen Eimer Wasser hineingießt und gründlich den Boden schrubbt.
Aus einer solchen Ecke hat meine nächtliche Gehirnwäsche heute morgen den Liedvers herausgeschwemmt: „Oder darf ich es wagen, zu Ihnen Schwiegervater sagen.“ Ich ahnte noch die Melodie, sang es sogar in der Küche und auf dem Weg zum Bäcker, aber kam nicht auf den Zusammenhang. Woher auch? Der war ja längst weggeputzt – mit bestem Liquor. Vor dem Internet wäre ich darüber schier verzweifelt, hätte vielleicht jemanden fragen können, hätte Passanten auf der Straße laut angesungen: „Darf ich es wagen, zu Ihnen Schwiegervater sagen?“, bis mich einer erlöst hätte und gesagt: „Salvatore Adamo 1964; Gestatten Sie Monsieur?“, also wenn man nicht auf der Stelle zwangsverheirat oder vorher in die Geschlossene abtransportiert hätte.
Nebenher: Wozu Forscher ihre Mitmenschen ins MRT packen müssen, das ahnt der Dichter einfach so: Alphabetmärchen.
Urahn erwacht
In jener Nacht, der volle Mond stand hell am Himmel, erhob sich in mir der Urahn. Er hatte sich zuvor eine Weile unruhig auf seiner Bettstatt hin und hergewälzt, bevor er sich eingestand, dass der Schlaf geflohen war. Zuletzt hatte er auf der Seite gelegen, die Arme angewinkelt wie zum Gebet erhoben, hatte die Finger beider Hände neben seinem Kopf gespreizt, die Fingerspitzen aneinander gelegt und sie rhythmisch gegeneinander gepresst. Er kannte das Gefühl von früher her als würden seine Fingerkuppen gegen eine geschlossene Fläche drücken.
Eine Weile hatte er das getan und in sich hineingehorcht, welche Botschaft aus grauer Vorzeit in ihm aufgestiegen war. Doch da war nur der unruhige Impuls aufzustehen. Dann hockte er da im hellen Licht mit den Ellenbogen auf den Knien und starrte ratlos vor sich hin.
Wenn in Vollmondnächten der Urahn seines Urahns sich erhob, hatte er noch weniger gewusst, warum sein Vorfahr unruhig in ihm erwacht war und ihn drängte, in die taghelle Nacht hinein zu horchen. Nicht einmal dessen uralter Vorfahr wusste etwas von einem tierischen Urahn, der in Vollmondnächten von seiner Natur gedrängt wurde aufzustehen. Eine lange Kette von Urahnen bis in dunkelste Zeit hinab hat nicht geahnt, was der heutige Urururenkel dort auf der Bettkante aus den Befunden der Biologie herleiten konnte. Vielleicht hatte wenigstens ein Urahn des Urahns des Urahns das Tier in sich noch gekannt. Wenn er unter dem vollen Mond unruhig erwachte und seine Hände wie zum Gebet erhoben hatte, die Finger beider Hände neben seinem Kopf gespreizt, die Fingerspitzen aneinander gelegt und sie rhythmisch gegeneinander gepresst hatte, dann hatte er die Flossen seines Urahns gespürt. Es war nicht der Ahn, der in Vollmondnächten auf die Jagd ging, nicht der Ahn, der unter dem vollen Mond fürchten musste, selbst Beute zu werden. Es war der Fisch in mir, dem der Vollmond den Landgang ankündigte.
Ich bin ein Orientierungsklaus
Der Vorname Klaus, Kurzform zu Nikolaus (noch 1960 Platz 4 der beliebtesten Vornamen), gehört nach meiner Wahrnehmung zu den versinkenden Vornamen. Oder kennt jemand ein Kind, das kürzlich Klaus getauft wurde? Von einer jungen Frau hörte ich letztens die Selbsteinschätzung: „Ich bin ja ein Orientierungsklaus.“ Sie nutzte damit einen Neologismus, den nicht einmal Google kennt.
Immerhin findet Google eine Belegstelle, ein YouTube-Video einer Suche im Spiel Minecraft: Orientierungsklaus „Haha, ich finde schon die einfachsten Dinge nicht mehr wieder.“ „Ich bin ja ein Orientierungsklaus“ hatte ich zuvor nie gehört. Es war mir aber auf der Stelle eingängig, zumal die junge Frau das sagte, als wir unter ihrer Führung beim Spaziergang im Hamburger Stadtteil Rothenbaum einen Umweg gelaufen waren.
Oberflächlich betrachtet, ist der Name Klaus hier Teil eines Kompositums. Wenn jedoch in Zusammensetzungen die angehängten Wörter ihre eigentliche Bedeutung verlieren oder zu verblassen drohen wie bei Stilpapst oder jetzt Orientierungsklaus, bekommen sie den Charakter eines Halbsuffixes. Tut mir Leid für alle Träger des Vornamens Klaus, dass sie zu Halbsuffixen verkommen sind, in der Bedeutung von kopf- oder orientierungslos. Dass dieser Prozess der Bedeutungsverschiebung und -absenkung gerade bei Vornamen vorkommt, wie es auch Fritz, Hans, Peter und Liese schon getroffen hat – Meckerfritze, Prahlhans, Nörgelpeter, Strickliese – ist ein interessantes Phänomen der Sprachentwicklung. Wer kennt weitere Beispiele?
EDIT – Beispiele aus den Kommentaren von unterschiedlichem Bekanntheitsgrad:
Bewegungsklaus (Nachweis Jan)
Butterhanne,
Krähhanne,
Kaffee-(Fernseh-/Mode-/Zeitschriften-/Tennis-/Schmuck)louie,
Vollhorst, (Nachweis amanita)
Körperklaus, (Nachweis spraakvansmaak)
Zimperliese,
(Nachweis frauhemingistunterwegs)
Grüßaugust,
Heulsuse,
Prozesshansel,
Hillbilly,
Lumberjack,
Plauderwastl (Wastl = Kurzform von Sebastian),
Hilfsschani (Schani = Diminutiv von Jean),
Hilfsschackl (von Jacques),
Streithansl,
(Nachweis nömix)
Autofritze,
Bummelliese,
Fernsehfritze,
Grinsepeter,
Kleckerliese,
Meckerfritze,
Meckerliese,
Miesepeter,
Schnatterliese,
Transuse,
Trödelliese,
Zappelphilipp,
(Nachweis feldlilie)
Kleckerhannes (Nachweis Videbitis)
Laberhannes (Nachweis Willi)
„Wir können uns ein Wetter so nicht leisten“
In der Bäckerei fiel gestern mein Blick auf die Titelseite der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung (HAZ) mit der Schlagzeile:
„Wir können uns ein Wetter so nicht leisten“
und dabei ein Bild von Wolfgang Schäuble. Nanu? Wolfgang Schäuble ist neuerdings Klimaaktivist? Auf dem Heimweg von der Bäckerei dauerte es nur fünf Minuten, bis ich merkte, dass ich mich verlesen hatte. Auf der Titelseite der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung hatte wohl gestanden:
„Wir können uns ein Weiter so nicht leisten“
Leider kann ich im Internet nicht erfahren, was „wir“ uns nicht leisten können, weil das Qualitätsmedium HAZ die Bezahlschranke davorgesetzt hat, und ein Abo dieser sehr guten Zeitung kann oder besser will ich mir nicht leisten. Also sind wir auf Spekulationen angewiesen. Welches Weiter so können „wir“ uns nicht leisten? Dürfen wir denn keine Schmiergelder von dubiosen Waffenhändlern mehr annehmen?
Na gut, ich mache das nicht mehr. Darauf gebe ich Ihnen mein Ehrenwort. Der nächste windige Ganove, der bei mir anklopft und mir 100.000 Ocken Bestechungsgeld unterjubeln will, den werde ich so energisch vor den Kopf stoßen, dass der die Engelchen flöten hört. Und ich rufe ihm hinterher, derweil er die Treppe hinunter rabottert: „Wir können uns ein Weiter so nicht leisten, hat Wolfgang Schäuble gesagt!“
Sonst noch was? Ja, wie auch im Internet zu lesen, war Schäuble einer der Redner auf dem Herrenhäuser Wirtschaftsforum. Verstehe. Herrenhausen ist ein Stadtteil Hannovers. Dort gibt es die Herrenhäuser Brauerei. Hat man sich vermutlich in der Wirtschaft getroffen, um ein paar Bier zu stemmen und Stammtischparolen unter die Säufer zu bringen. Nein? Das Herrenhäuser Wirtschaftsforum ist ein Unternehmerverein, und man lädt nicht in die Kneipe, sondern ins noble Herrenhäuser Schloss. Wozu? Aha.
Dieses vereinnahmende Wir ist ja herzallerliebst. Wir waren doch gar nicht geladen ins Herrenhäuser Schloss. Wie zu gut es mir geht, erfuhr Herr Schäuble gar nicht. Er weiß vermutlich auch nicht, wie es den Flaschensammlern geht, die ich am frühen Morgen schon an den Mülleimern des Spielplatzes sehe, wo die Ausbeute derzeit mau ist, denn auf dem Spielplatz saufende Jugendliche sieht man bei dem Wetter nur selten. Schäuble kennt auch nicht den tapferen Billiglöhner von der blauen Post, den ich wieder sehe, wie er in der Kälte auf dem Spielplatz pausiert und Kaffee aus der Thermoskanne trinkt. Jammern hört man den nicht. Also wer ist gemeint? Wem geht es so gut, dass er jammern muss?
Auch gesprochen auf dem Herrenhäuser Wirtschaftsforum hat Joschka Fischer, das gut geschmierte bezahlte Mietmaul der Autoindustrie und Energiewirtschaft. Ob der im Herrenhauser Schloss gejammert hat, weil er ein Fürzchen quer sitzen hatte, nachdem er zu kräftig beim natürlich kostenlosen Galadinner zugelangt hat? Wenn Schäuble die verwöhnte Bagage vom Herrenhäuser Wirtschaftsforum gemeint hat, könnten „wir“ ihm zustimmen. Denn zu jammern, weil man sich prominent an den Fleischtöpfen breit machen darf, ist ja wirklich peinlich.
Das letzte Streichholz und mein Stövchen
Ich habe mir ein Stövchen gekauft. Es ist hübsch mit gläsernem Korpus und hat im Metalldeckel sechs Blütenblätter mit einem Stern in der Mitte, ist aber eine Fehlkonstruktion. Wenn ich die Teekanne drauf stelle, geht die Flamme am Teelicht aus. Man stelle sich mein bedröppeltes Gesicht vor. Seit Wochen sagte ich mir, hinter jeder Ecke lauert die Novemberdepression. Dagegen hülfe ein hübsches Stövchen, auf dem die Teekanne artig zischt. Denn ich trinke viel Tee, und was gibt es Anheimelnderes an trüben Novembertagen als eine Teekanne auf einem Stövchen, in dem ein Teelicht züngelt.
Züngelt! Verflucht! Und nicht ausgeht, Himmelsakra! Ein Stövchen, bei dem die Teekanne die Kerzenflamme erstickt, die Sie mit ihrem allerletzten Streichholz entzündet haben – an einem grauen Novembernachmittag, wenn der Tag sich zum Sterben anschickt, ist doch gerade das Gegenteil des Anheimelnden, für das die Dänen das gemütliche Wort hyggelig haben.
Ja, die Dänen, die haben wieder die Gemütlichkeit gepachtet. Aber mir verkauft man ein disfunktionales Stövchen. Ich habs ja auch nicht mit einem Schein bezahlt, dessen Aufdruck verblasst, sobald er in der Kassa liegt, und am Abend fände der Händler nur einen feuchten Lappen, so dass er betrübt nach Hause ginge und Frau und Kinder erschösse, seine gesamte Familie auslöschen würde, weil ich ihm für sein teuer eingekauftes Stövchen einen falschen Fuffziger angedreht hätte.
Natürlich könnte ich in den Laden gehen und reklamieren. Doch ohne Teekanne funktioniert das Stövchen ja einwandfrei. Also müsste ich meine Teekanne mit in den Laden nehmen, um zu demonstrieren, was passiert. Man wird sagen: „Moment! Für diese Teekanne ist unser Stövchen nicht gemacht. Sie müssen eine passende Kanne vom gleichen Hersteller kaufen, dann klappts auch mit dem Teelicht.“
„Muss ich mir gleich einen neuen Hausstand anschaffen, nur weil ich ein Stövchen will, das tut, wozu man es braucht? Kaufen Sie sich etwa Schuhe und suchen sich dazu eine passende Wohnung, weil Sie mit den neuen Schuhen in der alten Wohnung nicht mehr durch die Tür kommen?“
„Das ist ja wohl weit hergeholt.“
„Aha! Weit hergeholt! Am Ende ist dieses Stövchen gar nicht von dieser Welt, sondern funktioniert nur auf Alpha Centauri.“
„Alpha Centauri ist ein Doppelsternsystem. Niemand lebt auf einem Stern und stellt ein Teelicht auf, erst recht nicht ins Stövchen.“
„Auch noch Klugscheißen. Werben Sie doch gleich mit dem Slogan: Unser patentes Stövchen erstickt ihr Teelicht von hier bis Alpha Centauri!“, Sie Brathahn.