Vom Verschwinden der Knöpfe

Es war Nacht, und mein Sessel knarzte.
„Ich bin nicht einverstanden damit, Coster, dass Sie meinen Schreibtischsessel wieder zum Knarzen gebracht haben.“
„Zounds! Begrüßt man einen Freund mit derlei albernen Vorwürfen?“
„Einer meiner Söhne war unlängst eigens aus dem fernen Hamburg angereist, um den Sessel zum Schweigen zu bringen. Und jetzt haben Sie sich darin materialisiert und bringen den Sessel erneut zum Ächzen.“
„Was jammerst du? Schließlich ist aus dem Ächzen ein Buchtitel entstanden.“ Coster wies auf die kleine Sammlung meiner Werke in der Bücherwand.

„Aus der Not geboren. Wer weiß, zu welchen literarischen Höchstleistungen ich mich hätte aufschwingen können, wenn mir das Ächzen erspart geblieben wäre.“

„Träume weiter, Trithemius!“

„Wenn mir einer sagt, ich solle weiter träumen, erwache ich, aus purem Widerspruch. Und wenn ich erwache, sind Sie weg, Coster.“

„Das wäre schön blöd, denn ich wollte nicht so bald verschwinden, sondern mit dir über das Verschwinden der Knöpfe reden.“

„Das Verschwinden der Köpfe? Am Hemd?“

„Quatsch, Bedienknöpfe! Wir beide kennen noch Röhrenempfänger, die Radiogeräte mit den großen Knöpfen links und rechts, links für die Lautstärke und rechts für die Senderwahl. Namentlich den zu drehen, war eine wahre Lust, weil er so weich rollte, derweil der Zeiger über die erleuchtete Skala glitt, worauf die Namen ferner Städte wie Paris, Prag, Warschau standen.“

„Nur besagten sie gar nichts, denn deren Sender bekam man nicht rein. Da nutzt der schönste Knopf nichts.“

„Trotzdem bot die Bedienung das wahre Knopferlebnis.“

„Wenn man eine gewisse Sinnlosigkeit ignoriert.“

„Dein Defätismus nervt, Trithemius.“

„Weil mein Interesse an Knöpfen gering ist, um nicht zu sagen, sie sind mir gerade schnurz. Aus gutem Grund, wenn ich mich hier umsehe.“

„Du hast in deiner Wohnung keine Bedienköpfe mehr“, stellte Coster fest, „nicht am Fernsehgerät, nicht an Computer und Drucker, nicht an deinem neuen Induktionsherd, überall Touchscreens.“

„Manche Geräte haben noch Tasten, quasi die Vorläufer.“

„In den 1970-er Jahren gab es für Kinder solche Activity-Center, Plastikpaneelen, auf denen verschiedene Bedienelemente angebracht waren, damit Kinder der westlichen Welt sich in die Betätigung diverser Gerätschaften einüben könnten. Es schulte zudem ihre Feinmotorik, forderte beispielsweise das geschickte Drehen von Knöpfen mit Daumen und Zeigefinger. Diese Fähigkeit wird nicht mehr benötigt, weil nur das infantile Betatschen reicht.“

„Sie meinen, es gibt eine Infantilisierung der Gerätebedienung?“

„Und eine daraus folgende Infantilisierung des Menschen. Denk mal darüber nach“, befahl er, quietschte ausgiebig mit meinem Schreibtischstuhl und verschwand.

Warnung vor grünen Zudecken

Mich plagten Rückenschmerzen. Aus Gründen schlief ich auf der Couch. Ich träumt, nacheinander drei verschiedenfarbige Zudecken zu haben, zuerst eine blau, dann eine rote. Bei den beiden war ich so gut wie schmerzfrei und schlief fast die ganze Nacht durch. Gegen Morgen wechselte ich zur dritten Zudecke. Sie war grün. Es wurde allgemein angezweifelt, dass ich auch unter der grünen Zudecke schmerzfrei würde schlafen können. Die Experten wiegten ihre Häupter. Und siehe da, so war es auch. Die Zweifler sollten Recht behalten. Unter der grünen schlief ich schlecht und kam am frühen Morgen nur unter Schmerzen hoch. Vor grünen Zudecken kann ich nur warnen.

Ein Traumgesicht

Seit kurzem gehörte ich einer Wohngemeinschaft an, die ein großes Haus aus Knüppelholz gebaut hatte. Aus der Ferne wirkte es wie ein chaotischer Verhau, gleich den Buchen, wie sie von den Eifelbauern zu irr verwachsenen Hecken verflochten werden. Als ich eintraf, war ich guten Willens, mich am weiteren Ausbau zu beteiligen, denn ich wollte mich als nützliches Mitglied der Gemeinschaft erweisen. Einer namens Micha nahm sich meiner an, aber auf meine Frage, was zu tun wäre, antwortete er so ausweichend, dass ich ihn mehrfach ermahnen musste. Leider rückte er nicht mit der Sprache heraus, sondern erging sich in weitschweifigem Geschwafel. Ich gab verzweifelt auf und wandte mich ab.

In einer Pfütze dümpelte ein Fisch, und als er mich sah, krümmte er sich mir entgegen. Ich hatte den Impuls, ihn zu streicheln, obwohl etwas in mir sagte, dass ein Fisch nach allem, was ich über Fische wusste, kaum Vergnügen daran finden könnte, gestreichelt zu werden. Aber da er sich mir mit erhobenem Kopf derart anbot, konnte ich nicht umhin, seine Kehle zu kraulen.

Ein gefeierter Filmstar traf ein und wurde sogleich von vielen umschwärmt. Obwohl er keine Starallüren zeigte, sich offenbar als ein ganz normaler Mann in die Gemeinschaft einbringen wollte, ließ man nicht von ihm ab. Eine junge Frau mit kurzen schwarzen Haaren fiel ihm sogar um den Hals und küsste ihn lang auf den Mund.

Ich hatte gehört, dass zwei gelernte Tischlerinnen eingetroffen waren und sich um die Reparatur der Leiter kümmern wollten, die außen am Turm befestigt war. Aus Gründen, die ich nicht mehr weiß, stieg ich die Leiter hinauf, fand aber, dass die Tischlerinnen beschädigte Sprossen durch dürre Zweige ersetzt hatten. Ich vermied, sie zu belasten, doch plötzlich neigte sich der Turm dem Hauptgebäude zu. Ganz langsam senkte er sich und fiel. Ich machte mich auf einen harten Aufschlag gefasst, doch der Knüppelverhau federte ihn ab, so dass ich unverletzt blieb.

Den Fisch sah ich später noch einmal. Jemand hatte ihn in ein rechteckiges Gefäß mit wenig Wasser gesetzt. Ich erwachte, bevor ich ihm mehr Wasser geben konnte.

Gegen Morgen

An einer Bahnlinie eine Böschung, von Buschwerk und Dornenranken überwuchert. Dazwischen ein steiler Pfad. Weiter unten ein wenig Müll. Ich sitze auf meinen Hacken und rutsche vorsichtig, zentimeterweise nach unten, suche mich an den Ranken festzuhalten. Unten ein roher Bau ohne Fenster und Türen. Ich bin froh, dass die Rutschpartie ein Ende hat, trete in dieses zugige Gelass und finde eine alte Frau. In einem großen Kochtopf wallt Suppe. Sie lebe hier schon zehn Jahre, sagt sie. Manchmal käme jemand vorbei, so wie ich, einmal ein Reporter mit Kameramann. Ich beäuge die Suppe, fürchte, sie wird mich irgendwann fragen, ob ich davon will und suche das Weite.

Es regnet auf schwarze Kohlenhalden. Eine junge Familie, Frau, Mann, zwei Kinder, hat offenbar einen Ausflug hergemacht. Sie folgen mir. In einer in sich zusammengefallenen Kohlenhalde treten Schienen zutage. Darauf verrottende Eisenbahnwaggons. Wir treten ein, ich voran, und bewegen uns durch den Verfall weiter vor. „Irgendwo vorne muss ein Bahnhof sein“, sage ich. Plötzlich ein Wartesaal, worin eine, meine Frau wartet. Ein Telefon klingelt. Meine Frau nimmt ab und reicht den Hörer an mich weiter. „Es ist Mimi.“
Ich sage: „Hallo Mimi!“
„Ich glaube, es hackt“, sagt sie im vorwurfsvollen Ton, so als hätte ich sie durch einen Anruf gestört. Ich lausche, aber sie sagt nichts mehr. Es drängt mich zu fragen: „Warum hast du angerufen, Mimi?“ Aber ich frage nicht, lausche einfach weiter, – bis ich erwache.

Vor der Irrenanstalt

Meine Freundin und ich waren in einer verwinkelten Stadt unterwegs, um für mich eine Irrenanstalt zu suchen. Meine Form des Irreseins war nicht offenbar, dann ich fühlte mich im Kopf noch klar, was sich rein zufällig reimt. Wir hatten schon in einige Irrenanstalten hinein gesehen, aber die waren wenig ansprechend. Vor meinem Erwachen befand ich mich am Fuß einer weiteren Anstalt. Sie lag an einem Kanal. Der Weg dorthin führte über ein verwirrendes System von Brücken und Schleusenübergängen. Meine Freundin war zurückgeblieben, als ich am Eingang anlangte. Ich wollte nicht warten. Das Portal war nur über eine Leiter zu erreichen, die oben an der Dachrinne angelehnt war.

Ich musste also etwa auf halber Leiterhöhe von der Leiter absteigen und den Schritt in die offene Tür wagen. Da stand ich in einem Flur mit dunkelgrünem Leimverputz. Von der Decke wucherte schwarz und unförmig der Schimmel herab. Nein, hier wollte ich mich keinesfalls weiter umsehen und wandte mich ab zum offenen Eingang. Doch wie konnte ich hinunterlangen? Als ich die Leiter erfasste, verrutschte sie, so dass ich beinah abgestürzt wäre. Ich konnte gerade noch mit dem rechten Arm einen Türpfosten umklammern. Weil sie nicht am Dach verankert war, fürchtete ich zu Recht, die Leiter würde wegrutschen, wenn ich versuchen würde, um sie herumzuklettern. Auf ihrer Innenseite abzusteigen, traute ich mir nicht zu.

Da kam ein junger Mann die Leiter hoch. Ich bat ihn, mir beim Abstieg zu helfen. Nur widerwillig stimmte er zu und reichte mir die Hand, als ich nach draußen trat. Die Anstalt stand auf einem Sockel, der fast senkrecht abfiel. Unten wartete ein weiterer junger Mann. Ich streckte ihm heischend die Rechte entgegen, und wagte mich vor. Er ergriff meine Hand. Ihre beiden Arme längten sich, und so schafften es die beiden Kerle, mich sanft am Fuß des Sockels abzustellen. Da kam auch meine Freundin heran und kroch wieder zu mir ins Bett.

Ein Traum

In einem Hochhaus bestieg ich einen Aufzug, ohne zu wissen, wohin ich musste, vermutlich auf die 4. Etage. Der Aufzug war groß wie ein Klassenzimmer und an drei Seiten verglast. Überall standen Leute in kleinen Gruppen herum und gaben sich gleichgültig. Einige wandten uns den Rücken zu, als wäre es ihnen egal, wann und wohin der Aufzug fahren würde. Vermutlich wollten sie sich nicht um die Bezahlung kümmern. Mir ging es ähnlich, denn ich hätte eigentlich die Treppe nehmen können. Da ich noch immer schwankte, war ich nicht gewillt, für die geringe Passage Geld zu opfern. Ein Student erbarmte sich, schob eine 50-Cent-Münze in einen Schlitz, zog einen Hebel hinab und presste den Knopf für die 10. Etage. Für mich viel zu hoch. Als der Aufzug sich in Bewegung setzte, überlegte ich, ob ich wohl unterwegs würde aussteigen können. Die übrigen Leute taten weiterhin gleichgültig. Die Gewissheit, dass es nicht zur Seite, sondern aufwärtsgehen würde, schien ihnen zu reichen.

Auf der 10. Etage verließ der Student den Aufzug. Einige folgten ihm, doch die meisten standen abwartend herum. Da ich beobachtet hatte, wie der Aufzug zu bedienen war, erbarmte ich mich, steckte 50 Cent in den Schlitz, zog den Hebel und presste den Knopf für die 4. Etage. Mir schien, als würde der Hebel nichts bewirken. Offenbar hatte ich es an Nachdruck fehlen lassen, denn der Aufzug bewegte sich nicht. Ein Blick nach draußen zeigte umliegende Gebäude im Licht der herauf dämmernden Sonne und eine sich fortwindende Straße. Unten tauchte ein Mann mit Krücken auf. Er hielt den bandagierten rechten Fuß in die Luft gestreckt und eilte trotz Krücken erstaunlich schnell von dannen.

Mir näherte sich ein anderer Student und sagte, der Aufzug habe mal wieder eine Macke, klappte geschickt ein Bedienungspaneel auf, legte eine gedruckte Schaltung frei und stocherte mit einem Schraubenzieher darin herum, bis Funken sprühten und der Aufzug sich rumpelnd in Bewegung setzte, diesmal abwärts. Auf der 4. Etage stieg ich aus und setzte mich in einen Wartebereich. Am anderen Ende des Gangs, noch mausklein, tauchte der Mann mit dem Gipsbein auf und eilte mit seinen Krücken auf mich zu. Obwohl er wie zuvor kraftvoll ausschritt, dauerte es eine Weile, bis er mich erreichte, grüßte und schnaufend neben mir Platz nahm. Ich sagte: „Auch guten Tag! Aber bitte, was haben Sie in meinem Traum verloren?“
„Ich hatte einen Sportunfall, denn wie Sie an meinem kraftvollen Ausschreiten ablesen können, bin ich ein Sportler.“
„Ja, gut. Aber warum sind Sie die Straße hinab so davongeeilt, schneller als ich ohne Krücken laufen könnte?“
„Ich musste Geld in die Parkuhr werfen. Obwohl ich schon vor Stunden einen Termin hatte, verzögert sich mein Aufrufen, so dass ich fürchtete, einen Strafzettel zu bekommen.“
„In meinem Traum sollte kein Sportler, der an Krücken geht und obendrein ein Gipsbein hat, in meinem Traum sollte so einer keinen Strafzettel fürchten.“
„Die Politessen sind da gnadenlos.“
„Ich beschäftige im Traum keine Politessen.“

Da wurde ich aufgerufen und ging hinein. Ich sollte nur still da sitzen und einer Dame bei der Arbeit zuzusehen. Sie verschwand fast hinter einem Stapel Formulare und beeilte sich, Aufkleber mit meinen Daten von einem Bogen abzuziehen und jeweils rechts oben auf ein Formular zu pappen, den beklebten Bogen umzuwenden und neben den Formularpacken zu stapeln. Sie arbeitete wortlos und zügig. Der eine Packen wuchs, der andere schrumpfte, nur dass der wachsende Packen ein bisschen unordentlich war, so dass ich mich sorgte, er könnte irgendwann umkippen. Plötzlich lag Schnee. Ich zog zwei Mützen übereinander.

Ein Traum wird wahr

Einmal in meinem ganzen Leben habe ich einen Wahrtraum geträumt, also träumerisch vorweggenommen, was noch gar nicht geschehen war. Wie so etwas möglich ist, weiß ich nicht. Denn gemeinhin folgen Ereignisse chronologisch aufeinander und es tritt nicht eines vom Kopf der Reihe ab und mogelt sich irgendwo nach hinten. Aber die Erinnerung ist über die Jahre frisch geblieben, denn ein Wahrtraum ist eine derart erstaunliche Erfahrung, dass man sie nicht mehr vergisst. Ich war noch ein kleines Kind. Damals lebten wir zur Miete auf einem alten Gehöft, das der ältlichen Jungfrau Cäcilia Küttelwäsch gehörte. Wir hatten dort nur zweieinhalb Zimmer.

Das halbe Zimmer war ein kleines Gelass unter der Dachschräge, in dem gerade Platz für ein Bett und eine Kommode war. An der rückwärtigen Seite hatte es eine verschlossene Türluke, durch die man in den Raum über der Toreinfahrt gelangen konnte. Die Tür war wie der Rest des Zimmers tapeziert und hatte ein Schlüsselloch, in dem ein Schlüssel stak. Ich habe die Luke aber nie offen gesehen. Trotzdem gab sie dem Zimmerchen die Aura eines Durchgangs. Man konnte sich darin nicht wirklich wohlfühlen.

Mein fünf Jahre älterer Bruder war einst der alleinige Bewohner gewesen. Nachdem ich aus dem Kinderbettchen im Elternschlafzimmer verbannt worden war, musste mein Bruder Bett und Gelass mit mir teilen. Er wird nicht ganz traurig über seinen neuen Mitbewohner gewesen sein, denn rückblickend glaube ich, dass er dort Angst hatte. Das Zimmer bot nur einen tröstlichen Luxus, einen Lichtschalter direkt an der Wand neben dem Bett. Mein Vater hatte ihn dorthin verlegt, damit mein Bruder jederzeit Licht machen konnte, wenn ein nächtliches Knistern, Knacken und Huschen ihn geweckt und erschreckt hatte. Daher vertrugen wir uns gut im gemeinsamen Bett, obwohl er mir sonst keinen weiteren Platz im Zimmer zugestand.

Im wesentlich größeren Dachzimmer nebenan wohnte das Ehepaar Köhn, er ein sehniger, schweigsamer Mann, auf dessen rechten Unterarm ein Indianer mit prächtigem Kopfschmuck tätowiert war. Von Beruf war er Eisenbieger. Wenn Herr Köhn seine Unterarmmuskeln spielen ließ, zog der Indianer Grimassen. Frau Köhn war eine lebensfrohe, attraktive, mollige Dresdnerin und arbeitete als Sekretärin bei der Genossenschaft. Beide waren sogenannte Flüchtlinge.

Eines Abends schenkte mir Frau Köhn eine Aprikose. Ich hatte noch nie eine Aprikose gesehen und hielt sie für eine unbekannte Sorte Pfirsich. Meine Mutter schlug vor, die Aprikose für den nächsten Morgen zu verwahren. Sie legte sie auf die Kommode, wo ich sie ansah, bis es dunkel geworden war. In der Nacht räumte ich von der Aprikose, biss hinein und war enttäuscht, dass sie nicht die erwartete Süße eines Pfirsichs hatte, sondern säuerlich schmeckte, mit einem bitteren Unterton. Diese Geschmackserfahrung im Traum war ziemlich deutlich. Als ich am Morgen in die Aprikose biss, schmeckte sie genau wie erträumt.

Es muss ein Wahrtraum gewesen sein. Wie konnte ich den Geschmack träumen, obwohl ich zuvor noch nie eine Aprikose gegessen hatte? War in der Nacht das Raum-Zeit-Kontinuum durcheinander geraten? Eine Störung der Kausalität? Oder hatte ich im Traum Anteil am kollektiven Weltwissen der Menschheit? In jedem Fall glaube ich, dass man derlei Erfahrungen nur in Dachstuben machen kann. Weiterlesen

Bügelfrei

Okay, dachte ich, jetzt werde ich also ein Hemd bügeln, obwohl Hemden bügeln ja längst verboten ist. Überhaupt sollten Bügeleisen längst bei den Sammelstellen abgegeben sein. Ich hatte aber noch eines im Schrank versteckt, der in einem ungenutzten Zimmer mit dem Gesicht zur Wand steht und nicht so leicht mehr geöffnet werden kann. Niemals hätte ich gedacht, dass Hemden bügeln einmal zur subversiven Tätigkeit werden könnte, aber nachdem ein Talkshowmoderator zusammen mit fünf Gästen eine gewerbsmäßige Büglerin in Grund und Boden geredet hat, traut sich keiner mehr, sich zum Bügeln zu bekennen. Bügeln gilt jetzt als moralisch verderbt.

Ich werde so tun müssen, als hätte ich das Hemd am eigenen Körper gebügelt, indem ich es unter den Augen anderer stramm ziehe und mich dabei aufblähe. Sich aufblähen statt zu bügeln? Es ist unbedingt nötig, um Energie zu sparen. Vorbei die Zeiten, als man im Winter die Außenfensterbänke mit dem Föhn vom Schnee frei gepustet hat. Derlei Verschwendung war gestern. Heute geht es den Energievertilgern an den Kragen, auch wenn sie gar keinen Kragen haben. Den haben freilich die Nutzer von Bügeleisen. Es ist gut, solche Leute als abschreckendes Beispiel vorzuführen.

Zuerst mal den Schrank so weit drehen, dass sich die Schranktür spaltbreit öffnen lässt. Mutig hineinlangen in die Finsternis. Hm? Wo ist’s denn? Ich hoffe, es wird mich nicht beißen. In der jüngeren Vergangenheit habe ich einen Freund angestiftet, mir ein Hemd zu bügeln und ihn dabei gefilmt. Ich habe sozusagen aus heutiger Sicht einen Hemdenbügel-Porno gemacht. Der Freund war ahnungslos. Jetzt ist er tot. Jedenfalls kann ich seine Anleitung jetzt noch memorieren und werde mein Hemd genauso bügeln. Ich muss mich vorsehen, keine Falte ins Hemd zu bügeln. Sie würde mich verraten, denn durch Aufblähen können keine Bügelfalten entstehen, vor allem die versehentlichen nicht. Das richtige Aufblähen muss ich noch üben, sonst glaubt mir keiner, dass ich mein Hemd bügelfrei geglättet hätte.

Was falsch machen

Es galt bislang für mich ausgemacht, dass magische Erscheinungen und Fügungen nicht wirklich übersinnlichen Ursprungs sind, weil genau dieser Ursprung eine verborgene Welt zu unseren Köpfen voraussetzt – wie etwa in den Mythologien der verschiedenen Völker ein Ort der Götter angenommen wird, wo das irdische Geschehen quasi verhandelt wird. Die Annahme eines Olymps, Wahalls oder Himmels, in dem die Götter durchaus menschlichen Geschäften nachgehen, wirft ja die Frage auf, warum da Schluss sein sollte, warum nicht über dieser Welt der Götter eine weitere Welt existieren sollte, quasi ein Metahimmel mit Metagöttern und so weiter – immer höher hinauf, Götterwelten gestapelt wie Teetassen, wobei jede Teetasse im Stapel besser und schöner ist als die jeweils untere. Eine Welt der Magie ohne Götter, etwa in der Vorstellung von Atheisten, würfe die gleiche Frage auf. Deshalb glaubte ich bislang nicht an magische Phänomene.

Seit vorgestern nun, das muss hier gestanden werden, mache ich einiges falsch. Beispielsweise drängte es mich, mal wieder bei Lidl einzukaufen, was höheren Orts vielleicht schon als Fehler gilt. An der einzig offenen Kasse saß der vierschrötige Mann, seiner Rede nach aus Osteuropa, mit dem mich eine stille Abneigung verbindet. Sie äußerte sich vor Jahren schon, als er meinen Gruß nicht oder nur maulfaul erwiderte. Man kennt solche oberflächlich unbegründete Abneigung, wie es ja auch das Gegenteil gibt, nämlich anlasslose Zuneigung.

Mit gewissem Widerwillen stellte ich mich an der Kasse an, lud meinen Einkauf aufs Band, auch ein Glas Arrabbiata-Tomatensoße. Da die Frau vor mir nur zögerlich vortrat, konnte ich das Kassenband nur mit gerecktem Arm beladen, legte das Glas Tomatensoße an den Rand, von wo es mit Vorrücken des Förderbands zur Seite rollte und hinunterfiel. Es stürzte zu Boden, zerbarst, und die Tomatensoße spritzte sogar an die Wand des angrenzenden Regals, verschonte aber meinen Schuh.

Mein insgeheimer Feind sah das Unglück und rief nach einer Kollegin, weil er die Kasse schließen und sauber machen müsse. Nun frage ich mich, ob es in mir eine geheime übergeordnete Instanz gibt, in der entschieden wurde, dem Mann an der Kasse durch ungeschicktes Verhalten zu schaden und ihn somit abzustrafen. Es bedarf sicher keiner weiteren Beispiele, um die Frage nach einer solchen Instanz zu illustrieren. Wenn es also Magie gäbe, wäre sie im Menschen selbst zu suchen, nämlich in dem, das landläufig das Unbewusste heißt.

Derzeit bin ich sehr beschäftigt, Fehler und Unfälle zu vermeiden, weil das Magische in mir derlei herbeizuführen trachtet. Ich werfe am Frühstückstisch volle Kaffeetassen um, kippe mein Abendessen auf die offene Klappe des Backofens und dergleichen. Abends falle ich erschöpft ins Bett und schlafe ungewöhnlich lang. Im Sinne des Spruchs: „Benannt, gebannt“ hoffe ich, mein Unbewusstes mit diesem Text zur Räson gebracht zu haben. Man möge mir die Daumen drücken.

Trommeln

Die Frau an meiner Seite sieht zu mir herüber und nimmt schmunzelnd meine Hand. Ich hatte gehofft, im dunklen Kino könnte ich ungesehen den Tränen freien Lauf lassen. Als ich ihr auf dem Nachhauseweg von meiner fast nicht zu kontrollierenden Rührseligkeit klage, meint sie: „Das ist doch unschädlich.“
Ist es das? Es belastet mich, vor allem, weil ich vermute, dass es schlimmer wird, genauer, dass die Schwelle der auslösenden Reize sinkt. Seit meinem Schlaganfall vor gut neun Jahren sinkt meine Impulskontrolle. Alles Unwillkürliche scheint zu erstarken und will sich ungefiltert Bahn brechen. Meine Tränen der Rührung sind dabei das Harmloseste.

Ich erinnere mich, wann mich zum ersten Mal die Rührung übermannte. Nach Jahrzehnten der Abwesenheit hatte ich zum Schützenfest mein Heimatdorf besucht. Ich stand mit vielen Dorfbewohnern am Straßenrand und wollte die Schützenparade sehen. Unter all den fremden Gesichtern hatte ich ein vertrautes entdeckt. Es gehörte Hilgers Juppi, dem Dachdecker des Dorfes. Wir waren in einem Schuljahr gewesen. Juppi war der Tradition gemäß ins Dachdeckergeschäft seines Vaters eingetreten. Schon sein Großvater war Dachdecker gewesen. Folglich hatte Juppi das Dorf nie verlassen.

Da zum Sprengel unserer Dorfkirche drei Dörfer gehören, ist der sonntägliche Schützenzug ziemlich lang. Drei Tambourcorps, gefolgt von je einer Musikkapelle stellten sich auf, um sich bei der Parade abzulösen. Sie marschieren mit klingendem Spiel heran, schwenken zum Signal des Tambourmajors auf Höhe der Tribüne zur Seite und bilden gegenüber den drei Schützenkönigspaaren ein Spalier. Die Musik mündet in den Parademarsch, den Tambourcorps und Musikkapelle gemeinsam spielen. Dazu marschieren die Schützenzüge ihres Dorfes im Stechschritt vorbei. Dieses anachronistische Schauspiel hatte Hilgers Juppi vermutlich schon zigmal gesehen und kommentierte demgemäß fachkundig. „Die Ansteler sind zu früh eingeschwenkt“ und „die Frixheimer haben es richtig gemacht.“ Kein Wunder, dachte ich, das Frixheimer Tambourcorps ist schon zu meiner Jugendzeit besonders zackig gewesen. Beim Einklang von Musik, Rhythmus und Gleichschritt überkam mich ein Weinkrampf. Ihn konnte ich gerade so unterdrücken. Aber die Tränen nicht. Sie flossen unkontrolliert über meine Wangen. Was war das nur?

Warum war ich so gerührt? In meiner frühen Jugend habe ich eine Weile im Tambourcorps getrommelt. Es war meine erste Erfahrung mitzuwirken, wo das Gesamte größer ist als die Summe seiner Teile. Obwohl die älteren Mitglieder uns junges Volk kaum beachteten, so lange wir richtig spielten, zumindest nicht störend herauszuhören waren, hatte ich das erhebende Gefühl, Teil dieses Ganzen zu sein. Wir taten etwas zusammen, ergänzten uns in der Musik, trommelten im selben Rhythmuns, trugen die gleiche Uniform und gingen im Gleichschritt. Später bei der Bundeswehr habe ich Uniform und Gleichschritt gehasst, denn ich erkannte darin das Missbräuchliche, aber zwischen Kindheit und Jugend war ich empfänglich für dieses Gefühl von totalem Einklang.

In unserer Zeit, die den Individualismus verehrt und zur Religion erhoben hat, will man allenfalls im Einklang mit der Natur leben. Nie hörte ich wen sagen, er wolle im Einklang mit den Menschen leben. Aber mir scheint da in mir, in uns allen etwas Atavistisches zu sein, das sich unter bestimmten Bedingungen Bahn bricht, der Wunsch sich zu vereinen in der uralten Echolalie. Sich im Einklang zu verlieren, heißt die Einsamkeit des eigenen Universums zu verlassen und auf einer höheren Ebene eins zu werden mit anderen. Wenn derlei nur angedeutet ist, in Zweierbeziehungen oder in Gruppen, packt mich die Rührseligkeit. Es rührt an meine Seele, und ich muss weinen.