Eisenherz ist da – die elektrische Zahnbürste fehlt noch

Freitag Morgen lag auf meinen frisch abgezogenen Dielen ein Fetzen, den ich zunächst als Erscheinung im Holz angesehen habe. Doch aus der Nähe entpuppte sich der Fetzen als Rest des Umschlags eines Comicheftes. Obwohl nur das Fragment einer Hand zu sehen ist, erkannte ich an Farbgebung und Druck sofort, woher der Fetzen stammte, konnte mir jedoch nicht erklären, wie er den Weg auf den Dielenboden gefunden hatte. Zudem fiel mir ein, dass ich das dazugehörige Buch lange nicht gesehen hatte. Zumindest hätte ich es einmal in der Hand haben müssen, als ich mein Bücherregal einräumte. In der Bücherwand fand ich das Buch erwartungsgemäß nicht. Wo ist es hingekommen?

Versuch einer Rekonstruktion:
Ich muss etwa zehn Jahre gewesen sein, da schenkte der Freund meines älteren Bruders, es war vermutlich der dicke Kalckmann, uns fünf etwa DIN-A4 große Comichefte der Serie „Prinz Eisenherz“, die Bände eins bis sieben. Ich war begeistert von den präzis gezeichneten, historisch genauen Panels. Der Zeichner war der US/kanadische Comicautor Hal Foster (1892 – 1982). Ursprünglich als ganzseitige Zeitungs-Sonntagsbeilage konzipiert, erschien ab 1937 wöchentlich nur eine Folge. Als Foster im Alter von 78 Jahren mit der Arbeit aufhörte, hatte er 1.788 Seiten Prinz Eisenherz gezeichnet und getextet. Prinz Eisenherz ist nach klassischer Definition kein Comic, weil die Texte nicht in Sprechblasen stehen. Die Geschichte wird unter den Bildern erzählt.

Prinz Eisenherz (im englischen Original „Prince Valiant“) ist demnach eine Bildgeschichte. Als deren Vorform gilt der Teppich von Bayeux aus dem frühen Mittelalter. Auf 68 Metern wird in 58 Bildfolgen und beigefügten Spruchbändern die Eroberung Englands durch den Normannenherzog Wilhelm der Eroberer dargestellt. Ursprünglich muss der gestickte Tuchstreifen noch länger gewesen sein, denn wichtige Schlussszenen fehlen. Bei Wikipedia ist das eindrucksvolle Kulturgut in der erhaltenen Länge zu sehen.

Zurück zu meinen Prinz-Eisenherz-Heften. Vor längerer Zeit waren die kartonierten Umschläge schon ziemlich unansehnlich. Im „Wahn“ habe ich Hefte herausgelöst und recht unschön zu einem Buch gebunden. Ich habe die wohl in den 1950-er Jahren im Badischen Verlag erschienen Hefte immer sorgfältig verwahrt, kann mir ihr Verschwinden also nicht erklären. Nach meinem Umzug suche ich manche Dinge immer noch, muss herausfinden, wo einer der vielen Helferinnen und Helfern sie hingepackt hat. Heute suchte ich meine elektrische Zahnbürste und fand in einer Schublade – Prinz Eisenherz. Welche Freude. Ich werde die Hefte von der Nachbarin meiner Freundin schön binden lassen.

Statt Marke – eifrige Cheerleaderin – Adenauer hilft

Mobile Briefmarke
Kürzlich bekam ich einen Brief, frankiert mit einer mobilen Briefmarke, und musste mich erst einmal kundig machen, was das ist. Die Zahlung funktioniert mit einer App auf dem Smartphone über PayPal oder Kreditkarte. Man erhält einen Code, den man anstelle der Briefmarke handschriftlich mit Kugelschreiber oder schwarzem Stift rechts oben auf den Umschlag schreibt, und zwar in die erste Zeile # Porto und darunter eine achtstellige Zeichenfolge. Die Zeichenfolge ist 14 Tage gültig. Diese Möglichkeit der Frankierung bietet die Deutsche Post für den innerdeutschen Briefverkehr seit Dezember 2020 an. „Guten Morgen, Herr Trithemius!“

Traumsequenz
Der Kahn, in dem ich saß, glitt gemächlich einen Kanal entlang, dessen flache Uferbefestigung etwa auf meiner Augenhöhe war. Dort standen meine Schuhe mit den Spitzen zu mir sauber nebeneinander abgestellt. Eine hübsche Cheerleaderin, mit ziemlich dicken Oberschenkeln, hielt mit dem Kahn Schritt, nahm die Schuhe auf und stellte sie immer wieder erneut auf meiner Höhe ab.

Hilfe für den armer Mann – Ein Witz aus der Adenauer-Ära
Einst kam zu Kanzler Adenauer
ein bitterarmer Eifelbauer.
Sank auf den Rasen, fraß das Gras.
Der Kanzler staunend fraget: „Was?
Sag‘ an, was hat das zu bedeuten?
Er war stets freundlich zu den Leuten.
Da sprach der Mann: „So arm, ich bin,
da reicht mein wenig Geld nicht hin.
Drum muss ich essen hier das Gras.“
Der Kanzler sprach, „da weiß ich was:
Komm einmal mit zur Kanzlerwiese!
Die ist viel saftiger als diese.“
[gereimt von mir]

Abenteuer zu Hause – Ich rahmte ein Bild

Vor einer ganzen Weile hat meine Tochter Manja im Leistungskurs Kunst der 13 eine Szene aus dem Comic Tim & Struppi gemalt. Die Keilrahmen hatten die Kursteilnehmenden wohl selbst gebaut. Das Bild lehnte eine Weile unbeachtet in ihrem Zimmer, denn eine Rahmenleiste war gebrochen. Ich war in frühen Jahren ein begeisterter Leser von Tim und Struppi, im französischen Original Les aventures de Tintin), gezeichnet vom belgischen Comiczeichner Georges Prosper Remi alias Hergé. Als Manja eine eigene Wohnung bezog, schenkte sie mir das Bild. Ich flickte die gebrochene Leiste und nahm das Bild bei den folgenden vier Umzügen getreulich mit, auch mit nach Hannover.

In meiner alten hannnoveraner Wohnung hing es verdeckt hinter einer Tür und war nur bei geschlossener Tür zu sehen. Im neuen Schlafzimmer sollte es überm Bett hängen. Diesen Platz hatte zuvor eine Bild mit Möwen von Anatol Herzfeld, einem Schüler von Joseph Beuys innegehabt. Anatol hatte es mir bei einem Besuch seines Ateliers auf der Museumsinsel Hombroich geschenkt.

Am prominenten Platz verlangte das Bild nach einem Rahmen. Der Baumarkt in meiner Nachbarschaft bietet auch Rahmungen an. Dort stellte man beim Messen fest, dass der Keilrahmen nicht gerade war und fand, das Bild müsse ein professioneller Rahmenbauer rahmen. Die sitzen in Hannover in der Südstadt. Da ich das unhandliche Bild nicht quer durch die Stadt transportieren wollte, dachte ich, na gut, dann baue ich den Rahmen halt selbst. Kann ja keine große Sache sein. Ich bin schließlich gelernter Handwerker. Leider vergaß ich, dass im Druckgewerbe andere Qualifikationen gefordert sind. Auch das Werkzeug ist anders. Obwohl mir also Werkzeug und Qualifikation fehlten, wagte ich mich an den Rahmenbau. Ich besorgte Leisten. Im Baumarkt sägte man nur Bretter zu. Ich musste die Leisten also selbst auf Gehrung sägen. Bedauerlicherweise neige ich zu spontanen Fehlentscheidungen. Ich kaufte fälschlich Winkelleisten. Die auf Gehrung zu schneiden, misslang mir gründlich.

Das Schwierige sind immer die Entscheidungen, einzusehen, dass man einen falschen Weg eingeschlagen hat, und die unabdingbare Konsequenz aus dieser Einsicht zu ziehen. Also erneut zum Baumarkt, jetzt zu einem anderen, der auch Leisten zusägte. Ich ließ mir Leisten zusägen, zimmerte den Rahmen, bekam ihn sogar winklig hin, doch an einer Seite passte das Bild nicht. Der einstmals selbstgebaute Keilrahmen hatte zwei ungleich lange Leisten. Ich fummelte eine Weile herum, bis ich mich durchrang, die Leinwand ganz abzunehmen und zuerst einen neuen Keilrahmen zu bauen. Also fuhr ich erneut zum Baumarkt und kaufte Leisten. Leider war dort die Säge defekt, so dass ich die Leisten zu Hause mit der Hand zusägen musste. Der Keilrahmen gelang mir passabel.

Beim Einpassen stellte ich fest, dass ich zu knapp gesägt hatte. Die Rahmen passten perfekt ineinander, doch zwischen ihnen war nicht genug Platz für die Leinwand. Da half nicht alles Hadern, ich musste den Keilrahmen wieder zerlegen und alle Leisten um einen Millimeter kürzen. Versuche das mal mit der Handsäge. Ich sah bei YouTube Leute, die sowas perfekt können. Die Leisten wurden bei meiner Sägung etwa zwei Millimeter kürzer. Der Keilrahmen geriet demgemäß zu klein. Am Abend entschloss ich mich, ihn rundum mit zugeschnittenen Kartonstreifen zu beleimen. Dann spannte ich die Leinwand neu auf und probierte die Passung. Spätestens jetzt hätten sich vor dem Haus Passanten versammeln müssen, um meine Hartnäckigkeit zu bejubeln. Inzwischen war’s nämlich eine persönliche Sache zwischen Bild, Rahmen und mir.

Natürlich musste ich jetzt wieder alles zerlegen, denn den äußeren Rahmen wollte ich anstreichen. Ich wählte Grau, die im Bild vorherrschende Farbe, und gab dem Rahmen zwei Anstriche. Nach der Trocknung passte ich das Bild wieder ein und hängte es übers Bett. Das Rahmengrau sah nicht halb so gut aus wie erhofft. Also noch mal abgehängt und den Rahmen separiert. Ich strich ihn zweimal weiß, passte das Bild wieder ein, hängte es auf und bin nun endlich zufrieden.

Gereimte Schöpfungsgeschichten

Bin am Sonntagmorgen aufgewacht nach einem geselligen Spieleabend mit etwas Wein oder mehr und erinnerte ich mich geträumt zu haben, ich hätte in der Runde gesagt: „Ich habe ein Spiel erfunden, nämlich reimen.“ Und ich träumte einige Beispielverse, die es leider nur als vages Vorbild ins Erwachen geschafft haben. Sie waren ziemlich einfach gebaut, nämlich zwei Endreim-Verse mit vierhebigen Jamben, also unbetont, betont. Um das Versmaß zu veranschaulichen, sind die betonten Silben fett gesetzt:
.
Der HErr erschuf sein Ebenbild:
Den Schotten mit kariertem Kilt.

Im Erwachen musst‘ ich lachen, postalkoholische Albernheit quasi, und ersann noch weitere Beispiele, hier eins mit unreinem Reim:

Es schuf der HErr sich auch noch Eva,
und fand: sie ist ein flotter Käfer!

Der HErr erschuf dann rasch noch Dorte,
zu backen eine HErrentorte.

Es schuf der HErr sich beide Ohren,
die sind ihm leider bald erfroren.

Weil es um den Schöpfergott geht, sind nach mittelalterlicher Tradition bei HErr immer die ersten beiden Buchstaben groß geschrieben. Wie das geträumte Spiel ablaufen sollte, weiß ich leider nicht mehr. Vielleicht erfindet jemand Regeln. Einstweilen bitte ich um Erfindung weiterer Beispiele nach obigem Muster und wünsche: viel Vergnügen beim Reimen!
– …

Die Besucherin – Kapitel V und Schluss

Kapitel IKapitel IIKapitel IIIKapitel IV
»Wie ich nach Hause gefunden habe, weiß ich nicht mehr. Die Begegnung mit Silene war erhebend und niederschmetternd gewesen. Diese Achterbahnfahrt war in jedem Fall zu heftig für einen wie mich. Ich war nicht ganz bei mir, torkelte verwirrrt durch den Wald, wähnte bei jedem Geräusch, der irrsinnige Bengt wäre hinter mir her. Irgendwann gelangte ich wieder in bewohnte Gegenden und bestieg einen Bus. Mir war übel. Nachdem der Bus durch ein paar Kurven geschlingert war, kotzte ich zwischen die Sitze. Ich blieb sitzen bis zur Endhaltestelle. Der dicke Busfahrer kam nach hinten, um mich aufzuscheuchen, sah die Kotze am Boden und rief:

›Um Himmels Willen, da ist ja Blut drin! Lassen Sie nur, ich mache es selber weg.‹ Es war aber nur ein Stück von der Paprika, die ich zum Frühstück verzehrt hatte. Ich habe mich gehütet, ihm seinen Irrtum aufzuklären, genoss vielmehr seine schlichte menschliche Anteilnahme. Welch ein Kontrast zur Kälte ringsum Silene und Bengt.

»Mein Gott, die ganze Geschichte kam nur von dem einen Schwitters-Plakat«, seufzte Marion von Erlenberg. »Hoffentlich ist jetzt Pause.«

»Pause! Pause! Ich höre immer Pause. Wovon denn, Frau von Erlenberg? Vom bisschen Bleistiftstemmen? Sind wir etwa fertig? Es fehlt doch das Erstaunliche, von dem ich berichten wollte, dem Effekt der Fernsehenentgiftung:

Wie ich nämlich so vor meiner Bücherwand saß, da wehte mich der Geist aus den Büchern an. Lauter Gedanken bauschten sich vor gleich zarten Gardinen, als hätte sich von der Wand ein Windhauch erhoben. Ich saß staunend da und freute mich: wie herrlich zurückhaltend! Die meisten der Autoren sind doch tot. Und trotzdem steckte zwischen den Buchdeckeln noch ihr Geist, ein stiller Geist, der abwartet, bis er gerufen wird. Ist es nicht ein wohltuender Kontrast zum Getöse aus Fernsehen und Internet? Ich vermisse nicht dieses unsägliche Geschwätz. Dieses kakophone Tuten und Blasen! Die Informationsüberflutung ist das Gegenstück zum Klimawandel. Die Welt erhitzt sich, schwappt über und droht in ihrem eigenen Gequassel zu ersaufen. Wo soviel los ist, als wäre die ganze Welt ein allzeit überfüllter Markt, kann man sich nur noch schwer konzentrieren. Im Digitalen geht’s noch irrwitziger zu. Ich habe einen Gedanken im Kopf …«

»Nur einen?«, fragte die von Erlenberg keck.

»Ja, glauben Sie denn, zum Schreiben bräuchte man mehr als eingangs einen eigenen Gedanken, Sie Pinselhörnchen?!«, wehrte sich der Trittenheim, besann sich und fuhr fort: »Letztens hatte ich also einen Gedanken im Kopf, schaltete den Rechner ein, um ihn aufzuschreiben. Was geschah? Das komplettblöde Windows wollte mich in meine Papageienexistenz zurückrammen, fragte mich:
und lud ein zum Quiz. Auf diese Weise wird auch der Rechner zur Verblödungsmaschine. Also zurück zu Papier und Notizbuch.
.
In der medialen Stille offenbarte sich mir die Welt auf neue Weise. Warum sind die Dinge wie sie sind? Warum ist mein Denken so beschränkt? Weil das Fernsehen mir ständig bestätigt: Die Dinge des Lebens sind so und so, man denkt darüber das und das, zieh dir das rein, dann weißt du Bescheid! Doch indem ich mich dem Einfluss der Maschine entzogen hatte, wunderte ich mich wieder über alles. Nichts war noch selbstverständlich, alles konnte neu angeschaut und befragt werden.

Ich las übrigens wie neu Herbert Rosendorfers Roman „Der Ruinenbaumeister“, der das Prinzip Geschichte in der Geschichte aufweist, Geschichten, die miteinander verschränkt sind. Und tatsächlich ist mir gelungen, euch auch eine verschränkte Geschichte zu erzählen, die die Geschehnisse einer früheren Geschichte sozusagen erklärt. Sie ist hier im Blog im Oktober 2016 veröffentlicht, steht auch in der Textsammlung „Goethes bunter Elefant.“

So, Feierabend. Ich habe keine Lust mehr zu erzählen. Der Rest ist Schweigen.«

Die Besucherin – Kapitel IV

Kapitel IKapitel IIKapitel III

›Wo denken Sie hin, Julius?‹ Augenblicklich war sie zum Sie zurückgekehrt. Ich spürte, wie sich zwischen uns eine imaginäre Mauer schob und gen Himmel wuchs. Silene trat einen Schritt zurück: ›Nie, nie, nie, könnten wir ein Paar werden!‹, rief sie. ›Ich mag Sie wirklich, aber wir leben nicht in der gleichen Welt.‹ Ich zeigte irritiert auf den Fußboden, auf dem wir beide standen. Silene erläuterte: ›Wir sind uns im Museum nur begegnet, weil Tante Margret vor ihrer Abreise kontrollieren wollte, ob ihre Schenkung angemessen präsentiert ist. Morgen bin ich in Oslo, übermorgen nächtige ich in Dubai im Bur al Arab, dem teuersten Hotel der Welt. Wie du siehst, bin ich nur Besucherin in deiner Welt.

Unsere Familie ist nicht etwa reich. Wir sind unermesslich reich, geradezu obszön reich. Ich habe mal eine soziologische Modellgrafik unserer Welt gesehen. Aus einer Stadt auf einem flachen Hügel, in dem die normalen Menschen wie Sie leben, erhebt sich aus dem Zentrum eine Nadel, duchstößt die Wolken und ragt in die Stratosphäre hinaus.

Hoch oben auf der Nadelspitze, die in Wahrheit ein Plateau ist, lebt die Meute der Superreichen, leben Leute wie unsere Familie, Leute wie Tante Margret, Bengt und ich. Die ägyptischen Pharaonen sind unsere Vorfahren. Ihre Macht und ihren Reichtum habe sie von einem uralten Herrschergeschlecht, dessen Name im alten Mesopotanien nur geflüstert werden durfte. Die Ahnen dieser mesopotanischen Herrscher waren wiederum eine Kette von Herrschergeschlechtern vor dem Beginn aller Zeiten. Wir sind außerhalb von Zeit und Raum. Von hoch oben wird die Welt regiert. Wir zetteln Kriege an, inszenieren Hungersnöte und Pandemien. Wir gewähren Frieden und Wohlstand, wo es uns gefällt. Wir sagen euch, wie ihr über die Dinge zu denken habt, wir verfügen Denkverbote.

Wir brauchen euch aus dem einzigen Grund, uns die Hochleistungen in Medizin, Wissenschaft und Technik zu erbringen. Daneben sollt ihr uns die Genüsse dieser Welt erzeugen. Damit meine ich nicht nur die kulinarischen der Haute Cuisine, sondern vor allem den Kunstgenuss in Literatur, bildender Kunst, in der Musik, im Theater, im Sport undundund. Niemand von uns Superreichen wäre in der Lage, diese Hochleistungen menschlicher Fähigkeiten hervorzubringen. Sie entstehen nur unter den Bedingungen der Entbehrung und dem unbedingten Wunsch, hervorzutreten aus der Masse, aufzusteigen und gefeiert zu werden. Uns mit all dem zu dienen, uns also das Leben lebenswert zu machen, dazu seid ihr einfachen Menschen gut und dazu seid ihr da.

Wer jedoch so vermessen ist, unsere Macht zu gefährden, den vernichten wir nach uraltem Recht.‹ Ihre Stimme war immer tiefer geworden und tönte jetzt hohl aus ihrem Mund. Ein eingeübter Theatereffekt wie ihre Asynchronität? ›Ich sage dir alles nur, um dich zu warnen. Wer von unserem Tun Zeugnis ablegt, den töten wir zum Exempel. Und so werden wir auch mit dir verfahren, Julius. Wenn du berichtest, was ich dir gesagt habe, steht Bengt eines Nachts neben deinem Bett und schlachtet dich auf bestialische Weise ab.‹

›Liebes Fräulein‹, sagte ich erschrocken, ›wenn Ihr Bruder einen Vorwand braucht, seinen abseitigen Neigungen nachzugehen, das ist keiner. Man kann längst wissen, dass die Kaste der Superreichen völlig abgehoben lebt vom gemeinen Volk, dass die Vermögensunterschiede derart extrem sind, wie sie nur im Stadt-Nadel-Modell anschaulich gemacht werden können. Wer kein bedauernswerter Tagesschau-Heute-Journal-Papagei ist, weiß längst, dass ihr Superreichen wie Götter das Weltgeschehen kontrolliert und unsere Politker, gleich welcher Coleur, euch wie gutdressierte Dackel gehorchen. Was auch in der Welt geschieht, das habt ihr veranlasst. Ihr kontrolliert die Medien, um das wahre Machtgefüge zu kaschieren. Und die legen uns falsche Zusammenhänge dar. Sie wissen es freilich kaum besser, denn eure Kniffe und Winkelzüge, eure Raffinesse, euer ganzes Wirken können sie nur ahnen. So beschäftigen sie sich und uns mit Kindereien und halten die besten von uns mit Geplänkel bei Laune.‹

Es polterte. Volontär Hanno P. Schmock war eingeschlafen und im Schlaf vom Stuhl gekippt.

»Der gehört schon mal nicht zu den besten von uns«, sagte Redakteurin Andrea Kirchheim-Unterstadt trocken.

Kapitel V

Die Besucherin – Kapitel III

Kapitel IKapitel II

Pünktlich um zehn Uhr klingelte es an meiner Haustür. Ein livrierter Chauffeur half mir mit höflichen Gesten in eine schwarze Limousine. Den Wagen hatte ich schon einmal gesehen. Er parkte am Vortag vor dem Museum und hatte ein Diplomatenkennzeichen. Der Chauffeur hatte wartend darin gesessen. Wir fuhren nach Norden aus der Stadt hinaus und dann längere Zeit durch einen ausgedehnten Wald. Mit einem Mal bremste der Wagen herunter und bog in einen schmalen Fahrweg ein, der steil nach oben führte. Zwischen den Bäumen blitzte ein rotes Ziegeldach. Der Wagen bog um die Ecke, und vor uns tat sich eine kurze ebene Straße auf, an deren Ende sich eine stattliche Jugendstilvilla erhob.

Wir passierten ein Tor, fuhren eine gewundene Auffahrt hinauf und hielten auf einem mit Kies bedeckten Vorplatz. Der Chauffeur öffnete mir die Wagentür, und bevor ich noch aussteigen konnte, sprang über die Eingangstreppe eine aufgeregte Silene herab und rief: ›Kommen Sie, kommen Sie! Wir renovieren im Wintergarten unserer Großtante.‹

Silene trug eine farbbeschmierte Latzhose, aber ihr stünde auch ein Kartoffelsack. Sie hakte sich bei mir unter und schwatzte drauflos: ›Tante Margret ist nämlich in ihre Sommerresidenz in der Toscana gefahren. Wir wollen sie mit der Renovierung überraschen. Und außerdem ist das Werkeln gut gegen die depressive Verstimmung meines Bruders. Bengt geht es gar nicht gut. Seitdem wir ihn vor zwei Jahren aus Otto Mühls Sekte freigekauft haben, erlebt er immer wieder depressive Schübe. Bengts Therapeut führt das auf Brainwashing in Mühls Sekte zurück. Naja, der Mühl nennt es Kommune. Aber haben Sie die Leute schon mal gesehen? Laufen alle in den gleichen Latzhosen herum, Männlein wie Weiblein mit kurzgeschorenen Haaren, dass man sie gar nicht unterscheiden kann, und dann die Horde ungewaschener Kinder! Die meisten soll der Mühl ja selber gezeugt haben. Er schläft so ziemlich mit jeder Frau der Kommune, macht auch vor jungen Mädchen nicht halt, nicht mal vor denen er annehmen könnte, dass sie seine Töchter sind. Puh!‹

Ich fragte: ›Der Wiener Aktionskünstler Otto Mühl? Der auf der Bühne Schweine schlachtet, ausweidet und ihr Blut und die Gedärme über nackt darliegende Frauen ausgießt?‹
›Genau der‹, nickte Silene.
›Wie ist denn Ihr Bruder da hineingeraten?‹
›Ach, er hat so gewisse Neigungen. Seit seiner Pubertät dreht er Splatterfilme‹
›Splatterfilme? Sind’s nicht die, in denen ein Mensch real vor laufender Kamera getötet wird?‹
Silene lachte: ›Das sind Snuff-Videos, Dummer!‹

»Mir wurde mulmig, wie ihr euch denken könnt. Ich hatte nicht die geringste Lust, Hauptdarsteller in einem Splattermovie zu sein, noch weniger von einem manisch Depressiven namens Bengt in einem Snuff-Video hingeschlachtet zu werden. Aber Silene hatte mich in ihren Bann geschlagen.

Der gepflegte Park, die prächtige Jugenstil-Villa, die Inneneinrichtung, alles kündete von großem Reichtum, nicht protzig, sondern gediegen. Altes Geld, wie man so sagt. Im Wintergarten hatte Silene, oder war es Bengt gewesen? ein wenig hellblaue Farbe an eine Wand geschmiert und ziemlich nachlässig über Lichtschalter und Steckdosen gestrichen.«

›Das geht aber so nicht‹, sagte ich. ›Man muss Lichtschalter und Steckdosen vor dem Streichen abschrauben oder wenigstens mit Klebeband abkleben.‹
›Ach, nicht schlimm‹, sagte sie leichthin, ›Wir lassen sowieso nachher die Maler kommen. Die können das richten. Es ging nur darum, Bengt ein bisschen von seinem Trübsinn abzulenken. Wenn die Seele krank ist, muss man nutzen, was gesund ist, also was mit den Händen machen. Hier, zieh du auch einen Overall an!‹

Als ich in dem Teil vor ihr stand, sagte sie: ›Jetzt gehörst du uns‹, reckte sie sich vor und gab mir einen trockenen Kuss auf den Mund. Ihre Lippen waren kühl. Dann besann sie sich und küsste mich nochmals, diesmal mit mehr Gefühl.

›Wir streichen jetzt das Tischlein dort. Es hat im Keller gestanden, aber weiß gestrichen ist es sicher ein Schmuckstück. Fangen wir an! Ich habe Farbe und Pinsel schon bereit gelegt.‹

Ich hätte ja das Tischlein zuerst ein wenig angeschliffen, wenigstens mal abgewischt, aber Silene hielt sich nicht mit Vorarbeiten auf und machte sich mit Eifer ans Streichen. Bengt tauchte auf und näherte sich vorsichtig. Er trug den gleichen Overall wie wir. Ab und zu machte er ein Foto von mir, tat aber sonst nichts. Ich war froh drum, denn so hatte ich Silene ganz für mich. Gelegentlich kamen wir uns beim Streichen so nah, dass ich ihren Atemhauch spürte. Ich sog ihn auf, ja, ich besoff mich daran.

Urplötzlich verlor Silene die Lust, warf den farbgetränkten Pinsel achtlos zu Boden, und rief:
›Ach, lassen wir das. Wir hören auf. Tante Margrets Majordomus soll die Maler herbefehlen, dass sie alles in Ordnung bringen!‹

›Was wird mit mir?‹, fragte ich. ›Bengt scheint nicht sonderlich interessiert zu sein. Ich könnte also gehen, aber habe mich, das muss ich gestehen, bereits unsäglich in dich verliebt, Silene.‹

(Kapitel IV)

Die Besucherin – Kapitel II

Kapitel I
»Ich muss etwa 22 Jahre alt gewesen sein, als ich die im Plakat angekündigte Schwitters-Ausstellung besucht habe, stand versonnen vor einer Assemblage, als drei Besucher den Raum querten, ohne von den Arbeiten Notiz zu nehmen, eine grauhaarige Dame, eine junge Frau, gefolgt von einem jungen Mann mit üppigem Bart, sorgfältig in Form gebracht, wie auf den Darstellungen assyrischer Herrscher zu sehen. Beide hatten flammendrote Haare, waren offenbar Geschwister. Der Mann trug eine sündteure Kamera mit Objektiv vorm Bauch. Seine Schwester war von einer überirdischen Schönheit. Sie schien von einer hell scheinenden Aura umgeben zu sein, die alles ringsum überstrahlte.

Da war es aus mit meiner Versenkung. Die drei schienen mich nicht beachtet zu haben, doch als sie den Raum schon verlassen hatten und ich bedauernd hinterher sah, kehrten die Geschwister zurück und standen leise beratend in der Türöffnung. Plötzlich wandte sich die Schönheit um und kam auf mich zu. Weiterlesen

Die Besucherin – eine Erzählung in fünf Kapiteln

»Ich habe euch«, eröffnete Chefredakteur Julius Trittenheim die Redaktionskonferenz, »etwas Erstaunliches zu berichten.« Der Vollständigkeit halber:
Es waren anwesend der ewige Volontär Hanno P. Schmock, Redaktionsassistentin Marion von Erlenberg, Redakteurin Andrea Kirchheim-Unterstadt und die drei chronisch arbeitsscheuen Teppichhaus-Humorexperten, deren Namen besser nicht genannt werden.
»Meinen Bericht bitte ich Sie, Frau von Erlenberg, getreulich mitzustenografieren, ab jetzt:
Wie allseits bekannt, habe ich kürzlich eine neue Wohnung bezogen. Das erste, was am angemessenen Platz errichtet wurde, und bald, sicher in der Wand verankert, stand, war meine Bücherwand.

(Ach, lassen Sie das mit den vielen Kommata, Frau von Erlenberg. Das sieht ja aus, als hätten Sie die mit dem Pfefferstreuer verteilt.)«
»Es ist alles grammatisch korrekt«, wehrte sich Marion von Erlenberg. »Aber Ihr Satzbau – naja.« Weiterlesen

Prima auf’s Pult gehüpft

Ich bin nicht nur umgezogen, ich habe auch meinen Keller entrümpelt, habe nur einige vor 14 Jahren in Aachen sorgsam zugeklebte Kartons zurückbehalten. Einen der Kartons habe ich gestern aus dem Keller in die Wohnung getragen, geöffnet und fand Dokumente und Fotos, die ich verloren glaubte. Sie betreffen Erinnerungen, die mir schon lange nebulös geworden waren, weil die Beweise fehlten. Jetzt liegt alles vor, und ich schätze mich glücklich, wieder Dokumente aus meiner Vergangenheit zu besitzen. Zu einem Vorfall aus der Zeit als Lehrer fand ich ein Fotodokument und den hübschen Begleitbrief einer Schülerin. Doch zuerst die Vorgeschichte:

Das Dorf, auf dem ich aufgewachsen bin, bot uns Jugendlichen wenig. So verbrachten wir einen Großteil unserer Zeit bei Karl, einer Kneipe, deren wahren Namen ich gar nicht kenne. Das Akronym „BKS“ (eigentlich Sicherheitsschließanlagen) bedeutete im Dorf: „Bei Karl Saufen.“ Zu vorgerückter Stunde waren allerhand akrobatische Übungen beliebt; unter anderem krochen wir von der Tischplatte aus unter einem schweren Eichentisch durch, ohne den Boden zu berühren. Auch sprangen wir aus dem Stand auf die Theke. Wer nicht so hoch kam, sprang wenigstens auf die Thekenstange. Hallo? Wir hatten nicht mal eine Turnhalle!

Als ich Jahre später junger Klassenlehrer an einem Aachener Gymnasium war, kündigte ich an, nach der Zeugnisausgabe vor den großen Ferien würde ich aus dem Stand auf’s Pult springen. Die Schülerinnen/Schüler reagierten ungläubig, doch ich war sicher, das zu können, schließlich war das Lehrerpult lange nicht so hoch wie Karls Theke. Und natürlich würde ich, anders als damals in Karls Kneipe, bei der Zeugnisausgabe nüchtern sein, was man von einer verantwortungsvollen Lehrkraft erwarten kann. Sorry, der Satz ist mir stilistisch verunglückt: Natürlich habe ich damals bei Karl keine Zeugnisse ausgegeben. Und an mein Lehrerdasein war noch kein Denken. Ich war Schriftsetzer.

Aber jetzt: Der von allen langersehnte letzte Schultag kam, ich hatte zur Feier des Tages eine Krawatte umgebunden und teilte die Zeugnisse aus. Hernach kündigte ich meinen Hüpfer aufs Lehrerpult an, holte Schwung, und indem ich sprang, gingen in der Klasse einige Fotoapparate hoch und hielten’s im Bild fest. Die Schülerin Mira, an die ich mich leider nur vage erinnern kann, schrieb mir einen Brief, in den sie den Bildbeweis eingelegt hatte: