Hannes war gerade in der Metteursgasse angekommen, da betrat ein Mann im rostroten Overall die Setzerei und rief mit erhobener Stimme: „Ich suche Herrn Siegfried Hof!“
„Wilhelm, ich bin hier!“, rief Hof, reckte den Arm und wedelte mit der Hand.
Der Mann rief: „Ah!“, zeigte auf Hof, eilte mit ausgestreckter Hand durch die Mittelgasse, vorbei an den staunenden Setzern in Hofs Gasse und schüttelte ihm überschwänglich die Hand. „Hier wirkst du also, alter Knabe! Gut, dass ich dich antreffe.“
Er zog mit großer Geste ein flaches Päckchen aus seinem Overall und verkündete: „Hier ist das Faksimile meiner Unterschrift, frisch aus der Klischeeanstalt! Hat mich ein Schweinegeld gekostet. Das Klischee druckt ihr in Tintenblau unter den Serienbrief. Tintenblau, hörst du?“
„Schon klar, besprich die Farbe am besten nochmal mit den Druckern“, sagte Hof.
„Bist du mein Gewährsmann oder bist du mein Gewährsmann, Siegfried?“
„Aber ich bin Setzer, kein Drucker, Wilhelm.“
„Ist für mich eins. Für deine Provision kann ich doch eine ordentliche Drucküberwachung erwarten?“
„Natürlich.“
„Dann sind wir uns einig. Ich muss los. Im Atelier warten wunderschöne Mädels auf mich.“
„Ich bringe dich noch zu Tür“, sagte Hof. Weiterlesen
Monat: Dezember 2020
Jüngling der Schwarzen Kunst – der Neandertaler
„Hat dich der Neandertaler mal wieder runtergeputzt?“, fragte Ewald.
„Sie meinen Herrn Hof?“, fragte Hannes erstaunt.“ Er hätte nicht gedacht, dass Ewald dessen Spitznamen kannte. „Ja, wenn er mich zum Imbiss schickt, kann ich meine Pause vergessen. Der Laden ist um die Mittagszeit gerammelt voll. Ich stehe mir für ihn die Beine in den Bauch, und zum Dank nennt er mich Lahmarsch“, sagte Hannes verletzt. „Der soll mal selber hingehen und gucken, ob er eher bedient wird. Aber wie ich ihn einschätze, drängt er sich einfach vor.“
„Manche wissen sich überall einen Vorteil zu verschaffen. Nimm dir daran bloß kein Beispiel, Hannes!“
„Der hält sich für was Besseres. Ist Ihnen aufgefallen, dass er vom Junior oder vom Alten nie als ‚mein Chef‘ spricht? Er sagt immer nur ‚dein Chef‘.“
„Wie das?“
„Er sagt beispielsweise zu mir: ‚Du da, dein Chef sucht dich!‘ Dabei ist doch hier jeder mein Chef.“
„Seltsam. Aber warum nennen ihn alle hinter seinem Rücken ‚Neandertaler‘?“
„Das hat Ihr Vorgänger Dyckers aufgebracht. Die beiden konnten sich nicht riechen. Herr Hof kommt aus dem Städtchen Erkrath. Das liegt angeblich in der Nähe des Neandertals.“
„Ich hatte mich schon gewundert, weil er nicht im geringsten dem Klischee eines Neandertalers entspricht.“
„Nein, dazu ist er zu groß und schlank.“
Hannes beneidete Hof um seine Selbstsicherheit. Vor allem verstand er es den Eindruck zu erwecken, nicht arbeiten zu müssen, sondern sich nur aus einer Laune heraus herabzulassen in die Niederungen der Arbeitswelt. Als Metteur hatte er eine herausragende Stellung unter den Setzern und wurde besser bezahlt als die anderen. Hof kam mit einem cremefarbenen 190-er Mercedes SL Cabrio zur Arbeit, ein Auto, dass er sich auch als Metteur nicht hätte leisten können.
„Haben Sie schon mal gesehen, mit welchem Auto er zur Arbeit kommt?“
Ewald machte eine beschwichtigende Bewegung mit der nach unten gedrehten Handfläche.
„Wenn man vom Teufel spricht …“, sagte er leise. Sigfried Hof näherte sich dem Glashaus und kam heischend in die Gasse: „Ich brauche mal den Stift!“
Ewald sah ihn fragend an.
„Na, den Lehrling eben!“
An Hannes gewandt, sagte Hof von oben herab: „Dein Chef hat gesagt, dass du mir die ganze Woche bei einem wichtigen Auftrag helfen sollst. Also pack deinen Kram und komm mit!“
Hannes war überrascht. In der Metteursgasse zu arbeiten, kam ihm wie eine Beförderung vor. Er war gespannt, was es da für ihn zu tun gab.
Das Geheimnis der Wyckgasse
Parallel zur südlichen Grenze unseres Dorfes verläuft die abschüssige Wyckgasse. Ich bin sie sicher tausendmal gegangen, auf dem Weg von oder zu meiner Stammkneipe oben an der Chaussee. Trotzdem blieb sie mir fremd. Wenn wir in Kindertagen in der Dunkelheit der Novemberabende im Dorf Klingelmännchen spielten, war die Wyckgasse besonders aufregend, denn sie bot nur geringen Schutz. Zu eng lehnten sich die alten Häuser der Wyckgasse aneinander. Sie waren wie das Dicht-an-dicht einer Stadtmauer. Obwohl unser Dorf nicht groß war und sich im Lauf der Generationen ein Netz von Verwandtschaftsbeziehungen darüber gelegt hatte, von denen ich schon als Kind wusste, war die Wyckgasse wie ausgespart. Ich kannte nur eine Person aus der Wyckgasse, meinen Mitschüler Volker Harms. „Kennen“ ist hier ein zu großes Wort, denn Volker Harms hielt auf Abstand, war mit niemandem befreundet, und nie ist jemand von uns auf die Idee gekommen, ihn in ein Spiel einzubeziehen. Er war die Fleisch gewordene Unauffälligkeit und Zurückhaltung. Weiterlesen
Jüngling der Schwarzen Kunst – Etikettenschwindel
„Wann soll ich das noch esssen?“, maulte Sigfried Hof, als Hannes ihm das Paket aus der Imbissbude mit Currywurst und Pommes auf den Tisch stellte, „die Pause ist gleich vorbei! Hast mal wieder überall herumgetrödelt. Beeil dich nächstens, du Lahmarsch!“ Hannes schluckte. Seine Pause war auch gleich vorbei. In der war er nur herumgelaufen und hatte überall warten müssen, Ewald hatte aus der Metzgerei Knoblauchwurst geordert, Winges hatte Zigaretten, Cola und den Mittag aus dem Kiosk gewollt, und für Hof hatte er 15 Minuten in der Imbissbude angestanden. Hannes setzte sich zu den anderen in den Pausenraum. Hastig löffelte er seinen Henkelmann leer. Er freute sich auf den neuen Lehrling, der für April angekündigt war. Der könnte dann den Laufjungen spielen. Selbst wenn Hannes ihm half, würden sich die Bestellungen der Gesellen auf zwei Lehrlinge verteilen. Auch wären sie mit dem täglichen Kehren des Setzereisaals rascher fertig, und das samstägliche Maschinenputzen könnte der Neue ganz übernehmen. Schöne Aussichten. Weiterlesen
Heiligabend im Teestübchen – eine Zeitreise
Was wäre eigentlich, ich stelle es mir vor… was wäre, du würdest einmal vom Blitz getroffen? Du stündest allein im weiten Feld, kein Haus in der Nähe, kein Baum. Eigentlich ist es ein Hügel. Ziemlich flach, doch dafür weit. Sanft wölbt er sich aus der Landschaft empor. Auf der Kuppe stündest du. Es schneit schon eine Weile. Du hast die Orientierung verloren. Die Richtung ist weg und dir ist kalt. Plötzlich ein Grollen und dann folgt ein Licht. Ein Gewitter, auch das noch, doch du willst es nicht wahrhaben. Es könnte auch etwas anderes gewesen sein. Weißt du, was irgendwo in der Nähe ist, das vielleicht ein wenig gegrollt hat? Auch das Licht ist eigentlich erfreulich, dann bist du in die richtige Richtung gegangen. Gerade hast du dich mit Licht und Grollen versöhnt, bist weiter getappt, hast gerade einmal fünf Gramm Mut, da donnert es, dass dein Herz ins Poltern kommt, Schnee wird zu Eis, und der Wind treibt dir Graupelkörner ins Gesicht. Du kannst dich nicht schützen, du musst ja vorwärts, du weißt, wenn ich stehen bleibe, bin ich verloren.
Ich will dich erlösen aus dieser Not, und lasse jetzt einfach einen Blitz auf dich zucken.
Er jagt durch dich hindurch, du spürst ihn kaum, doch irgendetwas ist mit dir geschehen. Du siehst noch auf den Augenwinkeln, wie der Boden sich hebt. Die hart gefroren Muttererde klappt hoch und klatscht dir ins Gesicht. Du bist in Wahrheit zu Boden gestürzt, es war einfach der Sinn des Sehens, der zuletzt in Ohnmacht fiel.
Du wirst wach. Was ist das? Du schaust an dir hinab und trägst die Uniform eines königlich preußischen Unter-Telegraphisten. Sie ist blau und hat silberne Litzen, denn du bist nur der Untertelegraphist. Der mit den goldenen Litzen steht neben dir. Er neigt sich zur Wand und schaut durch ein Fernglas. Du siehst auf seinen gebeugten Rücken.
Das Fernglas ist in die Außenwand eingelassen. Ihr beide steht in einem Turmzimmer. An der Wand hängt eine Schwarzwälder Kuckucksuhr. Wo bin ich hier, denkst du erschrocken. Doch im gleichen Augenblick weißt du es. In der Mitte des Raumes ist ein enges Gestänge. Es hat Hebel und ragt durch die Decke des Turmzimmers und darüber hinaus in den Himmel. Das jedoch siehst du nur, wenn du ein Haus am Fuße des Turms verlässt und zum Dienst gehst. Zum Haus gehört ein Garten mit Stall und Kleinvieh. Weit und breit steht kein anderes Haus. Aus diesem Bestand müsst ihr euch selbst verpflegen. Ihr beide habt Frauen, die mit euch dort leben.
Neben der Schwarzwälder Kuckucksuhr mit Schlagwerk hängt an der Wand ein Kalender. Heute ist der Morgen des 24. Dezembers 1848. Im folgenden Jahr wird eine Horde aufgebrachter Bürger von Iserlohn heranziehen und den Turm besetzen. Sie werden die gesamte Einrichtung zerstören. Doch an diesem Morgen des 24. Dezembers weißt du das noch nicht. Im Gegenteil, du fühlst dich wohl. Obwohl es seit gestern unaufhörlich stürmt und schneit, habt ihr es warm im Turmzimmer. Der eiserne Kaminofen in der Ecke der Stube heizt mächtig ein.
Du wirst jetzt deine Arbeit machen. Es ist Heiligabend ohne Zweifel. Doch arbeiten musst du, denn du bist ein königlich-preußischer Untertelegrafist. Du musst jetzt acht geben. Dein Vorgesetzter hält auf dem Stehpult ein Logbuch bereit. Irgendwann in den nächsten Minuten, wird er dir rasch eine Kombination zurufen. „B4!“, wird er rufen. Mach dich gefasst. Denn im selben Augenblick, wenn der Stationsvorsteher ruft, wirst du die richtigen Hebel ziehen. B4, das ist unten links und mit der rechten Hand nimmst du den oberen. Du schaust dann lustigerweise immer zur Zimmerdecke. Obwohl du nicht sehen kannst, was die Hebel bewirken. Du siehst nur, dass sich zwei der dünnen Stangen weiter durch die Zimmerdecke geschoben haben.
Warum tut ihr das eigentlich?, hat dich deine Frau gefragt, als sie dich gerade frisch geheiratet hat. Du hast gesagt, wir sind die Boten, wir schicken Nachrichten in die Welt. Es heißt „Optische Telegraphie“, was wir machen. Wir stehen in den Diensten des höchsten Mannes dieses Landes. Dem König und der preußischen Regierung dienen wir. Der Turm sorgt dafür, dass seine Befehle fliegen. Sie kommen aus Berlin und fliegen dank uns durch das ganze Reich. Deine Frau ist natürlich noch nie in Berlin gewesen. Und was „Das ganze Reich“ bedeutet, woher soll sie das wissen?
Wann kommt denn die Nachricht, denkst du schon zum zehnten Mal. Ist es endlich so weit? Irgendwann in den nächsten Minuten wird der Obertelegrafist durch sein Fernrohr etwas Wunderbares sehen. Die Nachricht fliegt heran, die Nachricht: B4! Er sieht sie auf dem vier Kilometer entfernten östlichen Hügel. Dort steht ebenfalls ein preußischer Telegrafenturm. Sein Signalmast ragt hoch in den Himmel. Er hat je drei lange Signalblätter links und rechts am Mast. Wie sich die Signalblätter bei der Nachricht B4 stellen, weißt du nicht. Du bist ja nur der Untertelegrafist. Dein Vorgesetzter weiß Bescheid. Er schaut durch das Fernglas und erkennt B4 sofort. Wenn er B4 sieht, ruft er es. Deshalb schaut er alle zwei Minuten einmal gründlich hinaus. Beim heutigen Schneetreiben wird er es schwerer haben als sonst. Doch du bist sicher, er wird B4 erkennen. Er ruft, du stellst die Hebel, und dann ist es getan. Ihr beide habt die Nachricht an den nächsten Turm weitergegeben. Dort wartet man auch auf B4.
Der Stationsvorsteher wird B4 ins Logbuch notieren, sich umdrehen und gemessenen Schrittes den Raum durchqueren. Vor der Schwarzwälder Kuckucksuhr mit Schlagwerk bleibt er stehen. Er streckt den rechten Zeigefinger aus und dreht die Zeiger genau auf Berliner Ortszeit. Denn B4 bedeutet: „Achtung, die Uhren werden gestellt!“ Wenn eure Nachricht weitergeflogen ist, habt ihr verlässliche Berliner Ortszeit auf den Zeigern eurer königlich preußischen Schwarzwälder Schlagwerkuhr. Im Land ringsum haben sie ihre eigene Ortszeit. Sie stellen die Kirchturmuhr nach der Sonne. Wenn sie am höchsten steht, ist 12 Uhr. Die Uhr des preußischen Königs dagegen die richtet sich danach, wann ihm in Berlin die Sonne am höchsten steht. Ihr Beamten der optischen Telegrafie sorgt für Berliner Ortszeit auf der gesamten Telegrafenlinie, die doch tatsächlich von Potsdam bis Aachen und Koblenz reicht! Unzählige Türme unterwegs, eine stattliche Schar von Telegrafisten …
Warum jedoch wird der Turm im Juni des Sommers 1849 gestürmt? Die Menschen lehnten sich auf gegen die Flüsterpost zu ihren Köpfen. Die geheime Fernkommunikation war ein Instrument der Macht. Und schon bist du zurück aus dem Jahr 1848. Fernkommunikation ist auch im Jahr 2020 noch ein Machtinstrument.
Weihnachtskarte in Groß bitte klicken!
(Gestaltung: JvdL)
Mensch im Mantel – Etwas über drinnen und draußen

Cartoon: JvdL, abgedruckt in Aachener Prisma 1978
Fast war noch Nacht. Der Sturm heulte im Schornstein, tobte und pfiff, bog die schlanken Masten der Laternen, trieb den glitzernden Schnee durch ihre Lichtkegel, ließ die kahlen Äste der Straßenbäume erzittern und fegte die Vögel von den Dächern. Im Fallen sind sie schon steif gefroren, polterten wie steinerne Kugeln über die Dachziegel, gewannen Tempo im freien Fall und zerbarsten auf dem Bürgersteig. Einige Leute hasteten geduckt vorbei, schwangen eilends die Hufe, soweit es die Glätte zuließ. Wo alles Leben erstarrt, durften sie nicht lange sein. Und in dem Sausen und Brausen ist ganz stoisch die erste Straßenbahn vorüber gezogen und hat ein paar Leute zum Erfrieren stadtauswärts gebracht. Draußen vor der Stadt war nichts, was dem Schneesturm Einhalt bieten konnte. Da geriet er in Raserei, peitschte die nackten Rücken der Felder und drosch die Hasen aus ihren Mulden. Und als wäre er wundgeprügelt, zeigte sich am Horizont ein blutroter Streif. Wohl dem, der irgendwo hin gehört, ein Dach überm Kopf hat und ein Feuer im Kamin, wo man ihn erwartet und sitzen lässt.
Am Mount Everest, K2 und an anderen hohen Gipfeln nimmt der Bergtourismus zu. Banker, Finanzjongleure, Investoren, solche, die neuerdings zu Geld gekommen sind, suchen dort oben sich selbst, wollen ihre Grenzbereiche erkunden, außerhalb der alltäglichen Erfahrung. Sie mieten Ausrüstung, Sherpas, Bergführer und steigen in Seilschaften hinauf ins ewige Eis, ohne es je geübt zu haben, außer an Klimmwänden in Fitnesscentern. Im Berg sind die Grenzbereiche rasch durchdrungen, und sie erfahren, dass ihre Allmacht nur unter schwachen Menschen besteht, nicht aber in der eisigen Natur, stürzen in Felsspalten, erstarren in ihren Schlafsäcken, sinken stumm in den Schnee und vereisen. Gehts noch kälter?
Es gibt im Himalaja einen tibetanischen Mönchsorden, der sich auf eine wundersame Übung versteht in eiskalter Nacht. Sie führen einen der ihren nackt hinaus, er hockt sich in den Schnee, und sie behängen ihn mit Decken. Andere eilen mit Wassereimern herbei und leeren sie über seinem Kopf. Augenblicklich frieren die Decken ein und erstarren zum Eispanzer. Dann lassen sie ihn allein, und der im Eis wird die Nacht über versuchen, die Decken an seinem Körper aufzutauen und zu trocknen.
An einem frostigen Sonntag traf ich im Weiler Mamelis ein. Die letzten zwei Kilometer hatte ich rollend bewältigt, ohne selbst treten zu müssen, denn ich kam vom niederländischen Grenzort Vaals herunter und fuhr in die Niederlande Richtung Maastricht. Dabei war mir im Fahrtwind schon lausig kalt geworden. Auf der Höhe von Mamelis bog ich von der Maastrichter Laan ab und rollte hinunter zum Gehöft van Mamelis. Bei seiner Hauswiese am Selzerbeek schloss ich mein Rad an ein Eisengitter, was ich später bereuen sollte.
Von Orsbach kam Freund Erlenberger herunter und überquerte den zugefrorenen Selzerbeek, der hier Grenzbach ist. Wir waren für eine Winterwanderung durchs schöne Mergelland verabredet. Es schien eine prächtige Sonne, doch wo unser Weg durch sanfte Täler, über Hügel und Höhenrücken der weithin mit Reif bedeckten Landschaft führte, zehrte ein eisiger Ostwind an unseren Kräften. Ich war erschöpft und müde, als wir das Dorf Mechelen am Kehrpunkt unserer Wanderung erreichten.
Die niederländischen Dörfer im Mergelland mit ihren restaurierten Fachwerkhäusern sind allesamt touristisch herausgeputzt. Ich sagte: „Wenn der liebe Gott völlig verkitscht ist, dann ist hier sein Vorgärtlein.“ Erlenberger nickte, denn anders als ich war er noch nicht vom Glauben abgefallen. Wir beschlossen, uns in einem Café aufzuwärmen. Als wir eintraten, fanden wir das halbe Dorf, Oma, Opa, Mama, Papa und Kinder allen Alters in drangvoller Enge versammelt. Das Stimmengewirr wurde übertönt von Schnulzen aus den 60er Jahren. Gerade lief Little Green Bag von der George Baker Selection. Es war wirklich hyggelig, obwohl das dänische Wort nicht ganz die spezielle Form der holländischen Gemütlichkeit trifft. Auch der Fremde ist rasch vereinnahmt. Wir tranken heißen Kaffee, aßen appeltaart met slagroom und genossen, dass wir nicht fragen mussten, ob man deutsches Geld nehmen würde, sondern zahlten erstmals mit Euro-Münzen. Es wird also im Winter 2002 gewesen sein. Auf unserem Rückweg mussten wir gegen den Wind an. Die Dämmerung fiel herab, und als wir wieder in Mamelis eintrafen, war es bereits stockfinster.
Mein Fahrradschloss war eingefroren. Als ich den Schlüssel zu heftig drehte, brach er im Schloss ab. Wir gingen durchs Tor ins Gehöft und fanden nur Licht im Kuhstall, wo die Bäuerin bei der Arbeit war. Sie fühlte sich gestört und war mürrisch, finster wie das ganze Gehöft. Widerwillig holte sie einen Werkzeugkasten und gab mir eine Eisensäge. Als Fahrtraddieb bin ich eine Niete, desgleichen Erlenberger. Wir haben sicher eine halbe Stunde am Schlosskabel gesägt.
Nachdem wir mein Fahrrad befreit hatten, begleitete ich Erlenberger nach Hause. Schon vom Schieben bergauf war mir wieder warm geworden. Doch so richtig hyggelig war es an Erlenbergers Kaminofen, in dem die Holzscheite knackten und loderten und auf dessen Herdplatte zwischen dicken Kieselsteinen der Wasserkessel zischte. Für kurze Zeit war die unwirtliche Natur ausgesperrt.
[Überarbeitete und gekürzte Fassung der Erstveröffentlichung vom 20. Dezember 2016]
Jammer zur Unzeit
„Sie waren ja schon lange nicht mehr hier“, sagte die Zahnärztin.
„Doch!, im ersten Lockdown im Frühjahr.“
„Ich erinnere mich an gar nichts.“
„Sie hatten mir prophezeit, dass ich bald wiederkommen würde, aber ich hätte es gerne vermieden, um das üble Jahr 2020 wenigstens vernünftig abzuschließen.“
Als einst die Gestapo von Dr. Freud verlangte, er solle schriftlich bestätigen, gut behandelt worden zu sein, bat er um die Erlaubnis, den diktierten Text zu erweitern. Er schrieb: „Ich kann die Gestapo jedermann empfehlen.“ Soweit die Legende.
Zahnweh kann ich keinem empfehlen, erst recht nicht Zahnweh mitten im Lockdown-Winter. Aus Gründen des Infektionsschutzes lag ich frierend auf der Pritsche im Durchzug. Die Tür im Wartezimmer hatte offengestanden und der Heizkörper war kalt gewesen. Im Behandlungsraum fiel glücklicherweise reichlich eisige Frischluft aus dem geöffneten Dachflächenfenster herein, fiel auf mich Bündel Schmerz und ließ mich unkontrolliert zittern. Das wärs noch, sich auf dem Zahnarztstuhl eine Erkältung zu holen. Vor einer Coronainfektion fürchtete ich mich nicht. Schon auf der Webseite wurde stolz auf diverse Hygienemaßnahmen verwiesen, deretwegen die Praxis sicher sei. Eine Helferin verwischte mit Desinfektionstüchern hinter mir alle meine Lebensspuren. Ärztin und Personal waren eingepackt wie für den nächsten Bummel auf dem Mond, wo auch die tückischsten Viren nicht überleben können. Obwohl sich unser Planet im Lockdown ähnlich unwirtlich anfühlt wie der Mond, werden wir wohl eher aufgeben als ein Virus. Wegen irdischer Kälte schwingt kein Virus die weiße Fahne, eher im Gegenteil.
Die Ärztin entschied sich für eine brachiale Notfallmaßnahme, damit sie und Kollegen Weihnachten Ruhe vor mir haben werden. Meine Schmerzen sind nun geringer als gestern Nacht. Schon in den qualvollen frühen Morgenstunden hatte ich mich gefragt, ob ich unter Zahnschmerz einen heiteren Text würde schreiben können, ob es mir gelänge, mich quasi mit Heiterkeit am eigenen Zahn aus dem Übel zu ziehen wie sich einst Baron von Münchhausen am eigenen Zopf aus der Misere zog. Ich fürchte, es ist mir nicht gelungen. Der Zahn zwingt mich morgen früh erneut in die Praxis. Dann wird er gezogen. Ich werde mich warm einpacken.
Fluch der Stilkunst
Eines Morgens wurde ich wach, und da saß jemand neben meinem Bett. Bevor ich das Maul aufgemacht hatte, begann der Mensch auf meiner Bettkante mit einem Vortrag über deutsche Stilistik. Danach zählte er die rhetorischen Mittel auf, und zum Schluss wandte er sich Einzelfragen zu. Fragen?, dachte ich. Ich habe keine gestellt! Das spielte keine Rolle, denn er wusste mich einzuwickeln; zu den Einzelfragen gehörte auch ein Exkurs über Schimpfen! Prächtige Beispiele aus der Literatur gab er, und ich staunte, wie wunderbar sich manche auf’s Schimpfen verstanden haben.
Dann aber machte der auf der Bettkante einen Fehler. Er sprach über Humor. Das hätte er besser nicht getan, denn mit Humor darf mir am frühen Morgen keiner kommen. Meine Sprachfähigkeit kehrte zurück, leider nur auf ganz niedrigem Niveau. Außer einem befreienden „Zieh Leine, Arschloch!“ brachte ich nichts heraus. Was nutzte es, dass er sich sogleich verdünnisierte und höflich leise die Tür ins Schloss zog. So richtig sprechen konnte ich an diesem Morgen nimmer. Mir gingen einfach zu viele Einzelfragen durch den Kopf. Und aus diesem Durcheinander wollte ich lieber nichts nach draußen lassen. Offenbar, schloss ich, offenbar ist es nicht hilfreich, zuviel über eine Sache zu wissen. Sprechen oder Schreiben muss ein Gutteil aus dem Bauch kommen, ohne Berechnung oder Taktik.
Meine Mutter war Mitglied im Bertelsmann Lesering. Da sie nicht die Zeit hatte, sich Titel auszusuchen, bekam sie immer Bücher aus der Vorschlagsliste. Bei einer Lieferung war Ludwig Reiners Stilfibel, Ein Lehrbuch deutscher Prosa, das richtige Buch für meinen Bildungshunger. Ich las viel darin und erarbeitete wohl auch einige der darin gestellten Aufgaben.
Im Dezember 2010, ich war gerade von Aachen nach Hannover gezogen, fand ich auf einem Bücherflohmarkt eine Ausgabe der Stilfibel, fühlte mich glücklich an Jugendtage erinnert und kaufte das Buch. Zwischen der Erstbegegnung im Jahr 1966 und dem Dezemberfund lagen 44 Jahre. Beim neuerlich Lesen stellte ich erstaunt fest, dass ich viele Grundsätze meines Schreibstils aus der Stilfibel verinnerlicht habe.
Die enge Perspektive des Bücherfachs im heimischen Wohnzimmerschrank des Jahres 1966 hat sich durch das immer wieder erstaunliche Werkzeug Wikipedia enorm er weitert. Eigentlich wollte ich nur nachschauen, wann die Stilfibel erschienen ist [1951], wurde aber auch über die Entstehungsgeschichte aufgeklärt. Was an Reiners Werk überrascht, sind die vielen Beispiele guten und schlechten Stils aus der Literatur, die zusammenzutragen eine Mordsarbeit wäre. Doch die hat Reiners nicht geleistet, sondern größtenteils aus dem 1911 erschienenen Werk „Deutsche Stilkunst“ des Sprachpuristen Eduard Engel übernommen, was der Schweizer Altphilologe Stefan Stirnemann herausgefunden hat. Er hat Engels Buch neu herausgegeben und schreibt:
- „Reiners übernahm von Eduard Engel bewußt und nach Plan die Auffassung von Stil und Stillehre, die Begriffe und zahllose Beispiele aus schöner und Fachliteratur. Darüber hinaus stahl er ihm treffende Beobachtungen und kräftige Sätze und äffte recht eigentlich Engels Haltung nach: die überlegene Haltung des Kenners. […] Möglich war der Betrug nur im Dritten Reich. Einerseits waren Engels Schriften ohne Rechtsschutz [Anmerkung JvdL: Engel war Jude], andererseits durfte Reiners annehmen, daß sie, in Fraktur gedruckt, umso schneller vergessen würden, da der ‚Führer‘ 1941 die Umstellung auf Antiqua verfügt hatte. Er konnte also zuversichtlich das erfolgreiche Buch Eduard Engels – das Wort drängt sich auf: arisieren.“
Den Sprachpuristen Eduard Engel, Ludwig Reiners und Stefan Stirnemann wäre entgegenzuhalten, was Georg Christoph Lichtenberg ganz unpuristisch notierte:
oder mit den Worten des gelehrten Buchdruckers Theodore Low De Vinne:
- „The last thing to learn is simplicity.“
Strich ist Schnur
Zeitweise bot YouTube zur Sprache im Video „Thomas Haendly bügelt mein Hemd“ eine automatische Transkription an. (Die Funktion finde ich derzeit nicht mehr.) Obwohl Thomas Haendly deutlich spricht, kam ein herrlicher Unsinn heraus, nämlich diese Sätze, die ich in einem typografischen Schaubild zusammengestellt habe.
Klaus lächelt
Festplatten-Fundstück, Grafik: JvdL Heute habe ich den ganzen Tag herumgesessen und erfolgreich gar nichts getan. Deshalb gibt es nur ein Festplatten-Fundstück, eine Gif-Animation, die ich irgendwann aus einer Zeichnung gefertigt habe und für die ich keine Verwendung hatte. Jetzt dokumentiere ich damit mein Nichtstun.