Biologen fangen Wildtiere ein, tackern ihnen einen Chip ans Ohr und lassen die verstörten Tiere wieder laufen. Hernach können die Biologen die Wege der Tiere verfolgen und bekommen Auskunft, wie groß deren Streifrevier ist. Letztens sah ich im Fernsehen, wie sogenannte Wildhüter in den Alpen eine Gams einfingen und ihr eine Ohrmarke verpassten. Man ist geneigt zu glauben, es wäre im Dienste der Tiere. Aber es ist doch ein grausamer Akt, was nur auffallen würde, wenn da außerirdische Wildhüter kämen, um Menschen zu fangen, weil sie ihnen unbedingt was ans Ohr tackern wollen, im Dienste der intergalaktischen Wissenschaft und voll im Einklang mit dem Artenschutz. Sagen die. Yo.
Das Streifrevier des Menschen definieren jene intergalaktischen Wildhüter als die Straßen und Orte, die er gewohnheitsmäßig aufsucht, wobei nächtliche Aktivitäten dazugehören. Ausgeschlossen wären demnach touristische Fernreisen, eingeschlossen die Wege der Handelsreisenden, Hausierer, Scherenschleifer und Kesselflicker sowie der Fahrenden und Kirmesleute. Über die Wege der letztgenannten wissen selbst die intergalaktischen Verhaltensbiologen wenig.
Als junger Mann verliebte ich mich in ein Mädchen von der Schießbude. Nein, ich hatte es mir nicht geschossen, sondern von der Schießbude weg ins Kirmeszelt zum Tanz entführt, wo die besoffenen Schützenbrüder große Augen machten. Sie hatten vorher nicht wissen können, dass die junge Frau auch Beine hat, denn sie hat ja immer hinter der Theke der Schießbude gestanden und Gewehre geladen. Die Dorfschönheiten guckten neidisch, weil das Mädchen von der Schießbude in seinem duftigen Sommerkleid alle an Schönheit übertraf. Die Dorfgemeinschaft schüttelte über mich den Kopf, denn einem Mädchen von der Schießbude macht man im besoffenen Kopf anzügliche Bemerkungen, aber man führt es nicht zum Tanz. Ich bin ihr noch einige Wochen von Dorfkirmes zu Dorfkirmes hinterher gereist, aber unsere Streifreviere waren nicht kompatibel. Sie fuhr mit ihrer Schießbudenfamilie immer weiter, bis sie für mich unerreichbar wurde.

Foto: JvdL
Viel später als Lehrer in Aachen fuhr ich an Wochentagen mit dem Rad von meinem Haus am Aachener Stadtrand über eine alte Bahntrasse zum Gymnasium in Kornelimünster. (Im Bild, der Viadukt, der zu überqueren war, geknipst von mir.) Zudem fuhr ich mehrmals wöchentlich mit der Rennmaschine durch die Region. Mein Streifrevier war demgemäß ziemlich groß.
Da ich derzeit noch nicht Rad fahre, ist mein Streifrevier unter der Woche klein. Selbst wenn ich es ausdehne und einen für mich weiten Fußweg gehe wie heute morgen zuerst zum Glascontainer auf der Badenstedter Straße, weiter zum Lindener Markt, hinein in die Bäckerei auf der Ecke, um zu frühstücken, weiter über den Lichtenbergplatz, die Wittekindstraße hinauf, über die Dieckborn- und Rampenstraße zum Aldi-Supermarkt und hindurch, zurück nach Hause, ist mein Streifrevier kaum zwei Quadratkilometer groß. (Die detaillierten Angaben habe ich gemacht, weil ich keine Ohrenmarke habe und die digitale Ohrenmarke, das Smartphone, zu Hause gelassen hatte.)
Mein imaginäres Streifrevier ist dagegen unendlich groß. Wann immer ich etwas geschrieben habe, was mir selbst gefällt, lebe ich für Stunden in dieser für mich neuen Welt, wandere noch lange die Zeilen entlang. Hurtig bummle ich durch die Buchstabenreihen und halte nach Fehlern Ausschau, ändere hie und dort was, wie der übermütige Wandersmann ab und zu mit seinem Stecken eine Brennnessel am Wegesrand köpft. Später freue ich mich über gelegentliche Mitwanderer, Gefährten quasi, obwohl in diesen Streifrevieren keine echte Gefahr droht, bin ein Fahrender, ein Kunde in meiner Phantasie. Zuvor aber, wenn ein Text im Entstehen ist, kann ich beliebige Wege anlegen, kann mich beispielsweise vom Wort „Kunde“, in der frühneuhochdeutschen Bedeutung „Bekannter, Vertrauter“ oder in der rotwelschen Bedeutung: „ein Fahrender, der eine Gegend zum 2. Mal bereist hat“, auf einen geheimen Pfad leiten lassen, den nur Fahrende gehen, die sich auskennen.
Ich kann einer fast überwucherten Karrenspur folgen, auf dem mir bald ein Gespann entgegen rumpelt. Ich trete zur Seite, sehe die seitliche Klappe und erkenne, dass es ein Kirmeswagen ist, der, wenn er aufgestellt und die Klappe geöffnet wurde, zur Schießbude wird. Ich bin noch jung, abenteuerlustig und winke dem Mädel auf dem Kutschbock zu. Sie lächelt, ruft etwas und ich antworte ihr in der selben Geheimsprache, genannt Kundenschall, besser bekannt als Rotwelsch, Sprache der Fahrenden. Sie schaut zurück und winkt verlockend. Da springe ich hinterher, klettere zu ihr auf den Kutschbock und …
Gerne hätte ich noch etwas über Kundenschall geschrieben, über Gaunerzinken, über Sondersprachen, über das Jugendwort des Jahres, die Tagesschau, doch das Mädchen mahnt, dass die Wegbegleiter schon müde sind und zurückbleiben.