Lastkahn vor Wien

Ein Lastkahn glitt über die Donau Richtung Wien. Über die Ladeluken des Kahns waren wie Zeltdächer schwarze Plastikfolien gespannt. Der Regen der Nacht hatte in der Bespannung längliche Pfützen hinterlassen, wo das Wasser nicht abgelaufen war und sein Gewicht die Planen niederdrückte. Entlang dieser Pfützen saßen auf Hockern 12 attraktive Frauen, die Faktencheckerinnen eines Rundfunksenders. Sie mussten sich in den Pfützen spiegeln, um zu beweisen, dass sie keine Vampire waren. Was sie checkten, war streng geheim. Es war klar, dass bei der täglich aufkommenden Nachrichtenflut nur ein Bruchteil der Informationen gecheckt werden konnten, zumal der Sender nur die 12 Faktencheckerinnen beschäftigte. Aber der streng geheime Algorithmus des Zufallsprinzips stellte sicher, dass die Produzenten von Fakenews niemals wissen konnten, ob ihre Lügen aufgespürt und im Netz hängen bleiben würden. Jede Falschnachricht wurde an Ort und Stelle in Plastik verschweißt und hinterrücks in den Fluss geworfen, so dass der Lastkahn eine lange Spur dümpelnder Plastikpakete hinter sich herzog.

Damit die 12 Damen ob ihrer verantwortungsvollen und gewaltigen Aufgabe nicht verzagten, strich hinter ihnen der Intendant persönlich vorbei und fasste jede einzelne liebkosend an. Ja, die Welt hatte sich verändert. Alte kulturelle Errungenschaften wie die Ächtung sexueller Belästigung durch Vorgesetzte und die Vermeidung von Plastikmüll waren über Bord gegangen.

„Das war mein Traum heute Morgen, kurz vor dem Aufstehen“, sagte ich.
„Wieso Wien?“, fragte Frau Dr. Barmen, meine Therapeutin.
„Keine Ahnung. Ich denke selten an Wien und war noch nie dort. Mein Lexikon der Traumsymbole weiß nichts über Wien. Vermutlich ist es nur ein Verdreher und meint eigentlich Wein. Das bedeutet laut Lexikon: Eine Wandlung oder Belebung des Geistes lässt sich an.
Frau Dr. Barmen seufzte: „Ihren Kopf möchte ich ja lieber nicht haben.“

Radio Gaga – Geräusche in der Nase

Die folgende Gif-Animation ist ein Dachboden- Festplattenfund, ursprünglich veröffentlicht im Teppichhaus Trithemius auf der versunkenen Plattform Blog.de. Ich fand nämlich die Quelldatei wieder und konnte sie für das Teestübchen anpassen. Zu sehen sind Standbilder von der Webcam eines Radiosenders aus dem Jahr 2009. Von wegen „Ist ja Radio.“
Die Webcam sieht alles.
Viel Vergnügen!

Hier gibt es keine Rezepte – Webcam-Standbilder, Text und Animation: JvdL

Frau Nettesheim langt zu


Frau Nettesheim

Nach so vielen guten Ratschlägen haben Sie Ihr SIM-Karten-Problem doch sicher lösen können, Trithemius?


Trithemius

. . .

Frau Nettesheim
Huhu, Trithemius!

Trithemius

Was los, junge Frau?

Frau Nettesheim
Ich habe Sie etwas gefragt.

Trithemius

Nichts gehört. In bestimmten Fequrenzbereichen höre ich kaum noch etwas, wie ein Hörtest ergab. Und wenn Sie ausgerechnet diese Frequenz für ihre Frage benutzen, muss ich sagen, das gibt mein Rundfunkempfänger nicht mehr her, der ja, wie Sie wissen, noch ein altes Röhrengerät ist. Mein Arzt sagt, nicht mehr auf allen Frequenzen zu hören, das wäre normal, wenn man ’nicht mehr zwanzig ist.‘ Bald käme ich in den Bereich, dass ein Hörgerät sinnvoll wäre.

Frau Nettesheim
„Nicht mehr zwanzig“ ist schön euphemistisch ausgedrückt.

Trithemius

Eine Lesebrille brauche ich schon seit 1998. Neuerdings auch eine für die Fernsicht. Dabei hatte ich mit 20 glatte 110 Prozent, weil ich auch die untere Zeile auf der Tafel lesen konnte. Das war bei der Bundeswehr. Sie hätten mich sicher zum Scharfschützen gemacht. Aber ich war Kriegsdienstverweigerer.

Frau Nettesheim

Er mal wieder.

Trithemius

Wissen Sie, was „er“ sich jetzt fragt? Ob es mit den anderen Sinnen auch bergab geht, wenn man nicht mehr 20 ist. Letztens habe ich mich über faden Geschmack der Lebensmittel beklagt und das den Nahrungsmittelproduzenten angelastet.

Frau Nettesheim

Mit ihrem Text „Das turmhohe Butterbrot in der Wüste des Schmeckens?“

Trithemius

Ganz genau. Vielleicht liegt es aber an mir. Gibt es entsprechend zu Brillen und Hörgeräten auch Geschmacksverstärker?

Frau Nettesheim

Ich kenne nur Glutamat.

Trithemius

Das Zeug, womit Sie alte Chinesin immer kochen?

Frau Nettesheim

Ich kann Ihnen auch eine langen. Das spüren Sie garantiert ohne Gefühlsverstärker.

In Sackgassen

In eine Sackgasse zu geraten, bringt Verdruss. Erst letztens, es war bereits dunkel, wollten meine Begleiterin und ich eine Runde um den Block gehen, um die Wartezeit auf eine Bestellung bei einem Restaurant zu überbrücken. Wir bogen zweimal ums Eck und gelangten an einen Wendehammer. Wieso „Wendhammer“ frage ich mich gerade, weils mir zu martialisch klingt. Das Internet belehrt mich „T-förmiger Wendeplatz am Ende einer Sackgasse.“ Ich habe den Platz rund in Erinnerung, aber Hammer oder Rund war nicht die Frage. Jedenfalls kehrten wir um und sahen an der Einmündung tatsächlich ein Schild „Sackgasse.“ Es war freilich von Sträuchern überwuchert. Unser Essen wartete schon.

Mein Mobiltelefon ist mir kürzlich mit dem Gesicht auf Küchenfliesen geknallt. Die Scheibe ist gesplittert und drückt offenbar auf Kontakte. Wenn ich die PIN eingeben will, erscheint ohne mein Zutun vielmals die Vier. Mein guter Sohn schickt mir ein abgelegtes Gerät, eine Generation neuer als das neuerdings defekte, das er mir vor Jahren geschenkt hat, nachdem er sich ein neues Gerät gekauft hatte. Dieses inzwischen auch abgelegte Gerät bekomme ich jetzt. Ich brauche dazu eine Nano-Simkarte. Um sie zu bestellen, muss ich mich bei meinem Anbieter registrieren. Der schickt mir zur Sicherheit ein Passwort, das ich durch ein eigenes Passwort ersetzen soll. Der Algorithmus der Registrationsseite teilt mir mit, das Sicherheitspasswort sei mir per SMS auf mein Handy geschickt worden. Na, prima, Sackgasse. Nirgendwo auf der Seite gibt es eine Option, aus der digitalen Sackgasse herauszufinden.

Bei der Kunden-Hot-Line verlangt eine digiale Stimme nach meiner Kunden-Nummer und akzeptiert sie nicht. „Du musst mit einer Automatenstimme sprechen!“, riet mir mal eine junge Freundin und ließ mich staunen, wie gut sich junge Menschen schon an die automatisierte Kommunikation angepasst haben. Ich erinnerte mich an ihren Rat und hab’s vergeblich versucht, bin wohl nicht android genug. Wieder Sackgasse. Man wünscht sich einen digitalen Hammer. Mir bleibt nichts als der Umweg in den Laden.

Nachtbummel über den Königshügel

Einmal im Zustand innerer Aufruhr sei er in die frostklare Nachtluft hinaus und den Königshügel hinaufgelaufen, sagte Jeremias Coster, der dubiose Professor für Pataphysik und Leiter des Instituts für Nachrichtengeräte an der Technischen Hochschule Aachen. Er sei so lange auf den hübschen Straßen dort oben unterwegs gewesen, bis sich seine Aufregung gelegt habe. Einiges mehr aber sei nötig gewesen, seinen Blick wieder von innen nach außen zu richten, ihn also innerlich neutral zu machen.

Die glitzernde Stadt unten in ihrem Talkessel habe ihn beeindruckt. Und er habe durchaus den Sternenhimmel gewürdigt, der sich über ihm wölbte. Doch zwischen den lockeren Reihen kaum noch beleuchteter Häuser des Königshügels habe er sich gedacht, so ein Sternenhimmel könnte ebenso gut ein nachtdunkles Tuch sein, in das man feine Löcher gestochen hat, durch die ein Licht fällt. Diese Theaterkulisse sei also nur beeindruckend, da wir dank neugieriger Wissenschaftler wüssten, dass die Sterne keine Löcher in einer nachtblauen Decke sind. Eigentlich aber wüssten wir nicht wirklich etwas darüber, soweit wir keine Astronomen wären. Wir müssten deren Angaben glauben, was wiederum zeige, dass Wissenschaft für den Laien eine Sache des Glaubens ist, wodurch sie sich kaum von Religion unterscheide.

Über die nächtlich glitzernde Stadt habe er gedacht, sie entziehe sich durch ihre Entfernung ja lediglich seinem feineren Urteilsvermögen. Wenn einem Menschen nur der Sinn des Fernsehens erlaubt sei, könne man ihm die schlimmsten Verbrechen wie eine blinkende und funkelnde Kulturäußerung vorführen.

„Wie meine Sie das, Coster?“, fragte ich.

„So ein aus der Ferne romantisch funkelndes Lichtlein bescheint vielleicht gerade eine Szenerie, in der jemand überfallen und seines Lebens beraubt wird.“

„Denken Sie nicht, dass das eher in dunklen Ecken passiert?“

„Ach, Schmarrn, dann verabreden eben drei Obergauner im Schein eines Kronleuchters, den Staat um Millionen zu betrügen. Kann ich jetzt fortfahren in meinem Bericht vom Nachtbummel, ohne mich der Gefahr deiner unqualifizierten Einwürfe auszusetzen?“

“Nur zu!“

„Wenn einem die nächtlich funkelnde Stadt ihren durchaus anheimelnden Anschein präsentiert, liegt das nur daran, dass die Betrachtung aus der Ferne keine näheren Einblicke ins Geschehen erlaubt. Die großen Inszenierungen – Wissenschaft, nächtlicher Sternenhimmel und glitzernde Stadt habe ich also beim Nachtbummmel philosophisch widerlegt. Dadurch hat er mir die innere Ruhe zurückgebracht.“

Ich sagte: „Es kann ebensogut an der kalten Nachtluft und der Mühe gelegen haben, die Steilheit der Straßen zu bewältigen. Dann wären die philosophischen Widerlegungen der Wissenschaft, der glitzernden Stadt und des Sternenhimmels nicht nötig gewesen.“

„Das ist das, was du glaubst“, entgegnete Coster und verschwand.

Es wird immer schwieriger, mit ihm zu diskutieren, seitdem er tot ist, dachte ich.

Kurt Schwitters – Automayers (1924)

Guten Abend, liebe Hörerinnen und Hörer an den Empfangsgeräten. Heute einmal zur Abwechslung kein Text, sondern eine Tondatei in Ihrem Teestübchen Trithemius, nämlich das kuriose Stück „Automayers“ von Kurt Schwitters. Sein Werk ist seit dem Jahr 2019 gemeinfrei. Ich habe die Tondatei allerdings schon am 9. Dezember 2006 eingesprochen, also vor ziemlich genau 14 Jahren. Viel Vergnügen beim Hören.

Orientierungshilfen

Vor einer Weile sandte mir der Nürnberger Buchgestalter, mein Freund Christian Dümmler (CD), ein Paket. Als ich die Kartonage entsorgen wollte, entdeckte ich diese launige Aufschrift. Der Paketbote wird die Orientierungshilfe übersehen haben. Ernst gemeinte Nachrichten an Paketboten hängen mitunter an Türen. Meistens sind es lange Episteln, in denen jemand erklärt, dass er zu Hause ist und Pakete in Empfang nehmen kann. Sonst würden Nachbarn … und so weiter. Je länger der Text, desto unwahrscheinlicher, dass er überhaupt gelesen wird, außer von mir natürlich, sollte ich vorbeikommen, aber ich bringe keine Pakete. Wie kommen die Verfasser auf die Idee, sie müssten in langen Texten erklären, wie ein Paketbote seine Arbeit machen soll? Der Mann ist in Eile, will ausliefern und keine Episteln lesen.

Das kann sich denken, wer nicht völlig ichbezogen lebt. Auch zur Zeit der guten alten Bundespost war der Bote geringgeschätzt. Man hatte keine Bedenken, ihm Beine zu machen. „Briefträger lauf, Hans-Peter wartet drauf“, schrieb mancher auf Briefumschläge, als es in der Fernkommunikation noch Wartezeiten gab. Der Name ist natürlich Platzhalter. Franz, Heinz, Karl Hermann, Marie-Therese, Susanne, Ingrid und viele andere waren möglich, abgesehen von Namen, die damals noch nicht in der Welt waren. Aber der beamtete Postbote wurde wenigstens anständig entlohnt. Heute sind Boten die modernen Arbeitssklaven, weitgehend rechtlos und schändlich unterbezahlt. Dass an Liefersystemen mit Drohnen gearbeitet wird, signalisiert ihnen überdies ihre Ersetzbarkeit.

Im Wort Roboter scheint der Bote schon zu stecken, aber das ist wohl eine zufällige Übereinstimmung. „Roboter“ wurde vom tschechischen Autor Karel Čapek geprägt. Das Wort stammt aus dem Slawischen und bedeutet Arbeit oder „Fronarbeit.“ Wenn man berücksichtigt, dass „Sklave“ ebenfalls von Slawe abstammt, schließt sich der Kreis. Ich habe mir auf Rat meiner Lebensgefährtin einen Robot, einen Maschinensklaven geholt. Der Rheinländer kauft ja nicht, er holt. Der Robot soll bei mir Staubsaugen. Noch ruht er in seinem Paket. Bin gespannt, wie er sich in meiner Wohnung orientiert.

Jüngling der Schwarzen Kunst – Wurzelziehen

„Wie groß etwa ist Madagaskar?“, fragte Direktor Fischéll, der Lehrer für Fachrechnen.
„So groß wie England?“, vermutete Hannes.
Direktor Fischéll schnaubte verächtlich: „Overlack! Sie sind gelinde gesagt ein Träumer. Sie haben ja wohl auf der Zwergschule in Ihrem Kuhdorf rein gar nichts gelernt.“

Die ganze Schriftsetzer-Klasse lachte. Fischéll hatte Hannes schon oft vor der Klasse herabgesetzt. Die Verachtung war durchaus gegenseitig. Jemanden wegen seiner dörflichen Herkunft lächerlich zu machen, war einfach erbärmlich. Da kann einer hundert Mal Direktor der Neußer Berufsschule sein und sich mit einem Akzent schmücken, fand Hannes. Fischéll war vom gleichen Schlag wie Hauptlehrer Eugen Schmitz, der bis zu seinem Tod die dreistufige Oberklasse der Volksschule Nettesheim unterrichtet hatte. Bei ihm hatten sie fast nichts oder nur Unsinn gelernt. Sein Mitschüler Paul, ein Bauernsohn, der kaum etwas behalten konnte, hatte sich aus einem Lehrervortrag „die Fliege hat Facettenaugen“ gemerkt. Tatsächlich hatte er aber nur das Wort Facettenaugen behalten und war davon fasziniert gewesen. Wenn er fortan mit eigenen Worten wiedergeben sollte, was Hauptlehrer Schmitz im Naturkundeunterricht ins Heft diktiert hatte, glänzte Paul mit Facettenaugen. „Die Katze hat Facettenaugen“, sagte Paul, „der Storch hat Facettenaugen“; selbst der Frosch verfügte darüber. Das war nur gerecht, denn so sicherte Paul zumindest beim Schauen die Waffengleichheit zwischen Beute und Beutegreifer. Nichts davon wurde je richtig gestellt.

Wenn Schmitz einen Schülervortrag hörte, saß er mit geschlossenen Augen am Pult, und nur ein leichtes Fingertrommeln verriet, dass er nicht schlief. Das Fingertrommeln hatte Zeichencharakter. Solange Schmitz trommelte, musste vorgetragen werden. Allein auf die flüssige Rede kam es an. Sie durfte nicht enden, bevor die Finger aufhörten zu trommeln, weshalb es ratsam war, nach dem Ende des Vortrags wieder von vorne anzufangen, bis Schmitz zum Notenbuch griff und sein kryptisches Urteil hineinschrieb. „Facettenaugen, Facettenaugen, Facettenaugen“, wäre eine Option gewesen, ein fettes Sehrgut einzuheimsen. Leider hatte Hannes nicht daran gedacht, weshalb er bei Schmitz nicht über ein Ausreichend hinausgekommen war.

Schmitz hatte sich erspart, Wurzelziehen zu unterrichten, wie es im Lehrplan vorgesehen war. Er hatte gesagt: „Keiner, keiner von euch Dummbratzen, die ihr da seid, wird in seinem Leben je Wurzelziehen müssen. Also machen wir das nicht. Ihr würdet es doch nicht begreifen.“ Auch hatten sie bei Hauptlehrer Schmitz gelernt, wie es um Elektrizität bestellt ist. Er fragte: „Was ist Elektrizität?“, und der Dümmste in der Klasse riss sich einen Arm aus, so dass Schmitz wusste, der würde ihm die richtige Antwort liefern. Also: „Was ist Elektrizität? – Paul?“
„Das weiß man nicht.“
„Richtig. Gut aufgepasst, Paul.“

Die gröbste Untat war, dass Schmitz ihnen das Rechnen madig gemacht hatte, indem er willkürlich elend lange Kettenaufgaben als Kollektivstrafe aufgab. Hannes war gut in Geometrie gewesen, als er die Mittelklasse verließ. Schmitz verleidete ihm auch die Geometrie. Es blieb: „Das weiß man nicht“, „das braucht man nicht“, Mathematik ist eine Strafe. Welch ein Pech für Hannes, dass Fischéll letzteren Trugschluss bestätigte.

„Zum Verhältnisprinzip des DIN-Papierformats: Die längere Seite verhält sich zur kürzeren Seite wie eins zu Wurzel aus zwei“, dozierte Fischéll, und schon war sein Bruder im Geist widerlegt. Unter „eins zu Wurzel aus zwei“ konnte sich Hannes nichts vorstellen. Aber er begriff, was die Formel leistet: „Ein DIN-0-Bogen lässt sich ohne Verschnitt in kleinere Formate zerteilen, die alle die gleiche angenehme Proportion haben.“ Fischéll diktierte den Setzerlehrlingen ins Heft:

    „Der DIN-A-0-Bogen (841 x 1189 mm) entspricht gerundet einem Quadratmeter. Auf ihn beziehen sich alle Gewichtsangaben. Z.B. ist ein DIN-A-4-Bogen 1/16 des A-0-Bogens, wiegt folglich 1/16 von 80 Gramm = 5 Gramm. Die kleineren Formate des DIN-A-0-Bogens lassen sich durch Halbierung der jeweiligen Langseite ableiten:
    DIN A 0: 841 * 1189 – 80g
    DIN A 1: 594 * 841 – 40g
    DIN A 2: 420 * 594 – 20g
    DIN A 3: 297 * 420 – 10g
    DIN A 4: 210 * 297 – 5 g
    DIN A 5: 148 * 210 – 2,5g
    usw.“

„Overlack! Das habe ich mir gedacht“, sagte Fischéll, indem er in Hannes‘ Heft blickte. „Sie sollen nicht ‚usw.‘ schreiben, sondern die Größen und Gewichte von DIN A6 und DIN A7 selbst ausrechnen, Herrjeh! Dumm wie Brot.“

Fischéll wandte sich ab. Hinter seinem Rücken grinste Pesch, der Banknachbar. Er stieß Hannes an und tippte auf sein eigenes Heft. Pesch hatte ebenfalls „usw.“ geschrieben. Bislang hatte Pech sich gegenüber Hannes unfreundlich verhalten. Und Hannes hatte Pesch ebenfalls abgelehnt. Dass Pesch sich solidarisch zeigte, ließ Sympathie zwischen ihnen aufkommen. Hannes spürte, sie könnten Freunde werden.

Unbehaust

Bei den Einkaufswagen des Supermarktes sitzt ein heruntergekommener Stadtstreicher, ein elender Mann, und mampft hungrig etwas für mich Undefinierbares. Ich schiebe den Einkaufswagen zurück und stecke die Verbindung in sein Schloss. Mein Zwei-Euro-Stück flutscht heraus zu Boden. Es will offenbar nicht mehr bei mir sein. Darum störe ich den Stadtstreicher beim Essen und halte ihm das Geldstück hin. Als er aufblickt, drücke ich es ihm in die Hand. Er ist verdutzt, schlingt hastig seinen Bissen herunter und bedankt sich. Während ich mein Fahrradschloss aufschließe, spricht er weiter, aber ist kaum zu verstehen, weil er den Mund noch immer voll hat. Ein Wort erreicht mich: „Ich lebe seit 1996 im Wald.“

Zu jener Zeit vor ziemlich genau 24 Jahren hatten wir in Aachen und in der Nordeifel einen Kälteeinbruch und ersten Schnee. Ich notierte es mit Behagen in mein Tagebuch. Derweil verlor in Hannover ein Mann seine Wohnung, seine bürgerliche Existenz und es verschlug ihn in den Wald. Er wird keine Zukunft darin gesehen haben, dachte vielleicht, er würde wieder hinausfinden aus seinem Los, aber er sollte für lange Jahre dort bleiben und verelenden.

Tagebucheintrag JvdL vom 24. November 1996

Der Lindener Berg hat seitlich der Schrebergärten hangabwärts ein Wäldchen mit einem Teich. Ich habe den Flecken erst kürzlich bei einem Bummel entdeckt. Ein versteckter Pfad führt vom Hauptweg zum Gewässer. Wir schlugen ihn ein, denn wir wollten den ringsum zugewachsenen Teich besser sehen, doch drangen nicht weit vor, weil unterhalb des Trampelpfads zwei vergammelte Zelte standen. Am Ufer oberhalb des Teiches gab es einen Tisch mit Bänken, über den eine Plane gespannt war. An einem Ast hing eine Tüte mit Äpfeln. Offenbar war das karge Lager bewohnt. Tage später sahen wir zwei Männer durch die Büsche hinabsteigen. Zu dritt standen sie hernach am Ufer des Teichs. Sie waren nach Hause gekommen.

Wo im Wald der elende Mann lebt, weiß ich nicht. Ich hatte keine Zeit, mich mit ihm zu unterhalten, denn ich wurde in einem hübschen heimeligen Haus zum Waffelnbacken erwartet, wozu ich Kirschen und Sahne gekauft hatte. Die unbehausten Männer gehen mir trotzdem nicht aus dem Kopf, besonders wenn die Nächte kalt werden. Doch davon haben Sie nichts.

Frau Nettesheim mal wieder

Trithemius
Mir wurde zugetragen, Frau Nettesheim, dass man die kurzen Beiträge von mir vermisse, und dass die Episoden von Jüngling der Schwarzen Kunst eher abschrecken. Das deckt sich mit der schwindenen Resonanz und den mählich sinkenden Aufrufen.

Frau Nettesheim

Wie ich Sie kenne, lassen Sie sich von Ihrem Ziel abbringen, das Manuskript diesmal zu Ende zu schreiben.

Trithemius
Die zum Ausdruck gekommene Geringschätzung haben gehabt zu sein mich irritiert.

Frau Nettesheim

So dass Ihr Sprachzentrum nicht mehr funzt? Sie wissen, dass ein Blog kein passendes Medium für eine Romanveröffentlichung ist.

Trithemius
Weiß ich das?

Frau Nettesheim

Sie haben doch in Gracians „Kunst der Weltklugheit“ gelesen: „Nie seine Sachen sehen lassen, wann sie erst halb fertig sind“

Trithemius
Ach ja, wie heißt es da noch?

Frau Nettesheim

„Nie seine Sachen sehen lassen, wann sie erst halb fertig sind
in ihrer Vollendung wollen sie genossen seyn. Alle Anfänge sind ungestalt und nachmals bleibt diese Mißgestalt in der Einbildungskraft zurück. Die Erinnerung, etwas im Zustande der Unvollkommenheit gesehn zu haben, verdirbt dessen Genuß, wann es vollendet ist. Einen großen Gegenstand mit Einem Male zu genießen, verwirrt zwar das Urtheil über die einzelnen Theile, ist aber doch allein dem Geschmack angemessen. Ehe eine Sache Alles ist, ist sie nichts: und indem sie zu seyn anfängt, steckt sie noch tief in jenem ihren Nichts. Die köstlichste Speise zubereiten zu sehn, erregt mehr Ekel als Appetit. Deshalb verhüte jeder große Meister, daß man seine Werke im Embryonenzustande sehe: von der Natur selbst nehme er die Lehre an, sie nicht eher ans Licht zu bringen, als bis sie sich sehen lassen können.“

Trithemius
Das trifft es aber nicht ganz, Frau Nettesheim. Jede veröffentlichte Episode und ist von mir sorgsam verfasst und redigiert, hat also den Embryonenzustand längst hinter sich gelassen, ist quasi für sich genommen rund.

Frau Nettesheim

Ich glaube, das Wissen, mit einem Kapitel nur einen Teil des Ganzen zu lesen, schreckt ab. Und Sie sind mit der Erzählung noch immer im 1. Lehrjahr. Zu ahnen, dass es drei Lehrjahre gibt, die noch durchlitten werden müssen, erinnert an den einschüchternden Blick auf einen Gipfel, den man ersteigen muss.

Trithemius
Also muss ich alleine hoch? Ohne ermunternde Worte vom Wegesrand? Niemand trägt mir den Radiergummi hinterher, keine ermuntert mich und beflügelt meinen Schritt, wenn der Weg zu steinig ist, keine labt mich mit köstlichen Worten und herzerfrischendem Esprit? Das wird ein einsamer Gang.

Frau Nettesheim

Ich heule gleich.

Trithemius
Entschuldigung, hohe Frau, das habe ich nicht gewollt. Ich werde wohl besser beides versuchen, mal Jüngling, mal kurzes Geplänkel. Abwechslung ist das Zauberwort.

Frau Nettesheim

Er mal wieder. Ob das gut geht?