Pareidolie – Köpfe im Blattwerk

Derweil ich früh am Morgen an meinem Arbeitsplatz saß, hörte ich das vertraute leise Raunen der Heizung, was mir zu denken erlaubte, das ferne Dröhnen des Galaktischen Betriebssystems zu vernehmen, wobei diese Weltmaschine nur nebenher damit beschäftigt wäre, meine Räume angenehm zu temperieren. Gerade würde sie nämlich das Himmelsblau erschaffen, die ersten Sonnenstrahlen bündeln und in die Baumkronen senden, so dass Blatt für Blatt in Form und Farbe unterscheidbar gemalt wäre. Selbst die roten Beeren der Vogelkirsche scheinen auf. In der Nacht ist nämlich alles anders gewesen. Als ich im Bett lag und in die Baumkronen schaute, das zeichnete sich das Blattwerk schwarz vor dem dunkelgrauen Himmel ab, und ich brauchte nicht viel Phantasie mir vorzustellen, dass einzelne Bereiche des Blattwerks große Köpfe formten. Dicht beieinander neigten sie sich meinem Fenster zu und schauten auf mich herab. Ich dreht den Riesen den Rücken zu, denn ich dachte, falls sie zu mir sprechen würden, sollten sie mir lieber in den Nacken reden. Wenn Riesen auf dich herabschauen, hat man das Recht, ihnen mit Ignoranz zu begegnen. Das gilt für alle Götter und sonstigen Bewohner des Olymp. Es ist ratsam, sich zu behaupten. Genau genommen sind sie doch nichts anderes als Menschenwerk. Existieren nur, wenn der Mensch ihnen erlaubt, sich in seinem Kopf zu manifestieren. Köpfe aus Blattwerk, Ausgeburten der Dunkelheit, hineingesehen, nichts weiter.

Derweil ich den obigen ersten Satz schrieb, anfing wie hier mit dem Wort „derweil“, wusste ich nicht, wohin er führen würde. Der Satz war wie ein unbekannter Weg, auf den man seinen Fuß setzt, bereit seinen Windungen zu folgen. Der Weg verliert sich just hier im hohen Gras. Dazwischen Dornenranken. Wir straucheln. In der Ferne ein Haus. Du näherst dich mühsam. Schaust durchs Fenster ins Zimmer, beschattest das Glas mit beiden Händen. Da sitzt an seinem Arbeitsplatz ein Mann. Du drückst die offenen Fensterflügel auf und grüßt ins Zimmer hinein, doch er wendet sich ab, lässt sich in den Nacken reden. Wir hören die Weltmaschine dröhnen. So wird das nichts. Wir sind im Kreis gegangen.

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Besser als Karaoke

Mein lieber Herr Gesangsverein! Letzte Nacht habe ich doch tatsächlich einige Stunden im Bürostuhl geschlafen! Das kam so: Die Treffen des Hannover-Cünstler-Kollektivs (HaCK) verschieben sich wie die Gezeiten. Anfangs haben wir uns dienstags getroffen, denn mittwochs, dann wegen Filipe nur noch donnerstags, was nicht bedeutet, dass er seither öfter kommt als sonst. Obwohl er uns höchst selten mit seiner Anwesenheit beehrt, hat er bei den Kellnerinnen des Leinau3 nachhaltigen Eindruck hinterlassen. Seine exotischen Getränkewünsche sind berüchtigt, weshalb er als einziger von uns je in die Getränkekarte geschaut hat. Er liest stundenlang darin herum, um dann einen Kakao zu bestellen. Herr Leisetöne, der die Termine unserer HaCK-Treffen macht, hatte diesmal für Freitag eingeladen, weil sie mich um 23 Uhr in ein berüchtigtes Karaokelokal schleppen wollten, der reiferen Frauen wegen, die man dort antreffen kann. Mir war morgens schon mulmig gewesen, denn ich hatte quasi versehentlich zugesagt, seine diesbezügliche SMS ohne Lesebrille gelesen, also nicht gelesen, sondern nur auf verschwommene Buchstaben hin mein „Okay“ geschickt.

Wir saßen gesellig zu Fünft im Raucherbereich auf der ersten Etage, das Kölsch aus unserem Elferkranz schmeckte wieder vorzüglich, als die attraktive Wirtin zu uns kam. Sie setzte sich vertraulich zu mir und ließ sich von mir helfen, den Text im Teestübchen aufzufinden, in dem ich sie letztens wieder erwähnt hatte. Eine Kellnerin und ihr kurz nach dem Rechten schauender Freund mussten bestätigen, dass sie drei Stunden vergeblich auf ihrem Smartphone nach diesem Text gesucht hatte. Über die Suchfunktion fanden wir den Text, und vor Freude herzte und küsste sie mich ausgiebig, wodurch der Abend aus meiner Sicht bereits gelungen war. Meinetwegen können andere mit ihren Texten Preise gewinnen oder sich von Lohnschreibern im Feuilleton beklatschen lassen, mein Preis war ihre herzliche Zuneigung. Das unmittelbar Zwischenmenschliche ist doch noch immer der schönste Lohn, natürlich dichtgefolgt vom mittelbar Zwischenmenschlichen beim interaktiven Schreiben und Lesen in der Blogosphäre. Die Sympathie der Wirtin strahlte auf unsere ganze Runde. Sie blieb eine Weile bei uns, sagte, wenn es heiße „der Gast ist König“, dann komme den Gästen dieses Privileg nicht automatisch zu. Sie müssten sich auch entsprechend verhalten. Wir aber dürften uns mit Fug und Recht Könige nennen, und spendierte einen neuen Elferkranz.

Da ich vorher schon einige Kölsch getrunken, dann bei zwei Elferkränzen kräftig zugelangt hatte, war ich gerade so hübsch angeschickert, wie es ausreicht, im Bürostuhl einzuschlafen. Die Lücke im Text bitte ich zu entschuldigen, denn von unserem Abschied und meiner Heimfahrt mit dem Rad weiß ich nicht mehr viel. Jedenfalls fand ich mich in aufgekratzter Stimmung in meinem Bürostuhl und sah mir in der Mediathek die Heute-Show an, die ich am Abend verpasst hatte. Als ich erwachte, war der Bildschirm dunkel und mein Rechner in den Schlafmodus gefallen. Ich suchte mein Bett auf und schlief wie ein Prinz.

Man sollte viel öfter über Wirtinnen schreiben.

Im Dämmer

„Götterdämmerung“ heißt der vierte Teil von Richard Wagners Tetralogie „Der Ring des Nibelungen.“ Es ist eine Anspielung auf Ragnarök, („das Schicksal der Götter“), von dem in der Edda berichtet wird. Gemeint ist der Kampf der Götter gegen die Riesen, der laut Edda verloren gehen wird, was gleichbedeutend mit dem Weltuntergang ist. Irgendein depperter Schreiberling vulgo Schmock hat sich vor einiger Zeit die Metapher „Merkeldämmerung“ aus dem alkoholschweren Kopf gewrungen, wahlweise mit Bindestrich „Merkel-Dämmerung.“ Obschon Frau Merkel nur Bundeskanzlerin ist, wird sie im Sprachbild zur Göttin erhoben, deren Untergang sich abzeichnet. Es muss die Abenddämmerung gemeint sein, denn allein in der aufkommenden Finsternis kann man Angela Merkel mit den bekannten germanischen Göttinnen Frigg und Freya verwechseln, natürlich nur, falls man ein Schmock ist. Schmocks begeistern sich für die Technik des Schreibens ohne Denken und sind froh um jede wohlfeile Worthülse. Sie lieben die „Metapher „Merkeldämmerung“ und schmieren sie in jedes Blatt, aktuell wegen der Abwahl des Merkel-Vertrauten Volker Kauder als CDU/CSU-Fraktionsvorsitzender. Jetzt sei die Merkeldämmerung angebrochen, heißt es unisono in unseren Qualitätsmedien.

Der neugewählte Fraktionsvorsitzende, Ralph Brinkhaus, von dem es heißt, er habe „Volker Kauder geschlagen“, beeilte sich zu beteuern, zwischen ihn und Angela Merkel „passt (…) kein Blatt Papier.“ Das ist nicht körperlich gemeint; wir sollen uns kein symbiotisches Aufeinanderliegen Brinkmann – Merkel vorstellen, kein Aneinanderklammern der beiden, wie sie in die Merkeldämmerung davonrollen, rollen und rollen wie der fall- und rollsüchtige brasilianische Fußballspieler Neymar, sondern das Bild meint inhaltliche Übereinstimmung in Sachfragen. Da will man sozusagen „kein Blatt vor den Mund nehmen.“

Soweit die Sprachhülsen der Woche.

Ich erinnere mich noch gut an die Morgendämmerung von Angela Merkel im September 2005. Diese für mich persönlich durchaus tragische Liebesgeschichte abseits der Merkelschen Morgendämmerung muss an anderer Stelle erzählt werden.

Bei der Zahnärztin

Aus Gründen musste ich gestern und vorgestern meine Zahnärztin aufsuchen. Mir waren nämlich vor einiger Zeit zwei Zahnfüllungen abgebrochen. Ich hatte es lange ignoriert, aber irgendwann war nicht mehr zu leugnen, dass ich mir an einer scharfkantigen Abbruchkante sowohl beim Reden als auch beim Essen die Zunge ritzte. Am Sonntag waren mein Sohn aus Hamburg und seine Lebensgefährtin bei mir gewesen, so dass ich mehr redete als gewöhnlich. Ich merkte, dass es immer schmerzhafter wurde, bat Montag um einen Termin bei der Zahnärztin und bekam auch sogleich einen für den Folgetag, 8:00 Uhr.

Gewöhnlich gehe ich ja nicht gerne in eine derartige Behandlungspraxis. Doch da es nun unumgänglich war, freute ich mich sogar auf den Besuch, denn die Aussicht, bald wieder schmerzfrei reden und essen zu können, war nicht schlecht; hauptsächlich mag ich aber die Zahnärztin. Sie war mir einst von einem Kieferchirurgen empfohlen worden. Er sagte, was er von ihr und ihrer ebenfalls praktizierenden Schwester in den Mündern seiner Patienten gesehen hätte, habe durchweg handwerkliche Qualität.

Derlei Aussagen muss man mit Vorsicht nehmen. Aus der Psychologie wissen wir, dass man geneigt ist, die Leistung attraktiver Menschen besonders positiv zu bewerten. Da ist irgendwas im Menschen ziemlich dumm. Das sollte man bedenken. Wie es um das Urteilsvermögen des Kieferchirurgen bestellt ist, weiß ich nicht, wollte und will ihm aber gern glauben.

Als ich am Dienstag in der Praxis eintraf, fand ich meine Zahnärztin apart wie eh und je. Zuletzt war ich vor zwei Jahren bei ihr gewesen. Damals hatte sie gerade einen Fahrradunfall gehabt und einige üble Schrammen im Gesicht. Ein Autofahrer habe sie umgefahren, sagte sie. An der Wand neben dem Behandlungsstuhl hat sie ein Schild mit der Aufschrift „Herrin der Lage.“ Was hilft es, Herrin der Lage zu sein, wenn ein anderer die Herrschaft nicht akzeptiert. Ich schon, gab mich vertrauensvoll in ihre Hände, und nach etwa 35 Minuten hatte sie meine Zahnruinen wieder hochgezogen. Meine Zunge konnte sich an einer perfekten Rekonstruktion erfreuen. Zwischendurch fiel ihr ein Instrument zu Boden. Sie kickte es weg und sagte: „Was bei uns zu Boden fällt, wird in die Ecke geschossen“, denn sie habe einmal erlebt, dass ein Kommilitone ihr ein hinuntergefallenes Besteck wieder auf den Tisch gelegt habe.

Mittags sah man mich schon wieder am Lindener Markt, wo ich eine leckere Suppe löffelte. Mein Genuss wurde aber getrübt durch das nicht zu ignorierende Stimmengewirr des an diesem Tag zu dieser Uhrzeit überfüllten Lokals, und nebenan erklärte ein großsprecherischer Mensch seinem Kollegen, den er „Herr Schuster“ nannte, wie er mit ihrem gemeinsamem Chef zu reden habe. Ich dachte noch, wenn du so ein Schlaumeier bist, warum immer noch in offenbar untergeordneter Position und nicht selbst auf der Chefetage? Darüber sollte Herr Schuster auch mal nachdenken. Meine negative Einschätzung hing aber damit zusammen, dass der Mensch sein Geschwätz nervig abgehackt hervorbrachte, weil er es nicht schaffte, Reden und seine Bissen zu koordinieren. Mein Bissen traf auf etwas Hartes, und zum Glück versuchte ich nicht, es zu zermalmen, es war nämlich ein Stück meiner neuen Füllung. Ich sicherte das kleine Teil in der Serviette und ging wieder über den Markt zur Zahnarztpraxis. Die Ärztin wollte gerade in die Mittagspause aufbrechen, konnte mir zum Glück für den Folgetag einen Termin geben, weil jemand abgesagt hatte.

Die neue Zahnfüllung hält sich an die Aussage des Kieferchirurgen. Ich bin der hochgelobten Zahnärztin nicht gram, dass ich zweimal auf ihrem Behandlungsstuhl hatte liegen müssen. Jeder hat mal einen schlechten Tag. Und meine waren trotzdem gut.

50 Jahre Volkspost – eine Vorschau

Mein Jugendfreund Fritz [Name geändert] hat vor einiger Zeit im Teestübchen kommentiert und mir kürzlich ein Buch geschickt, womit sich unser verlorener Kontakt erneuerte. Eigentlich kenne ich Fritz schon aus Kindertagen. Sonntags hörte ich im Radio den Kinderfunk. Die Sendung ging von 14 bis 15 Uhr, aber gegen 14:30 musste ich mich auf den Weg zur Sonntagsandacht machen. Unterwegs traf ich Fritz. Er wohnte näher an der Kirche, hatte den Kinderfunk drum etwas länger hören können und konnte mir davon erzählen.

Später trommelten wir zusammen im Tambourkorps. Sein Onkel war der Tambourmajor. Er hatte eine Schreinerei, und bevor man uns Neulinge an echte Trommeln ließ, übten wir in der Schreinerei und trommelten auf den Hobelbänken. Fast habe ich noch den Klang von Holz auf Holz im Ohr. Als Jugendliche gaben Fritz, ein weiterer Freund und ich eine Zeitung für unser Dorf heraus. Sie hieß „Volkspost“ und erschien vor genau 50 Jahren. Wir legten sie in zwei Kneipen und beim Friseur zum Kauf aus. Bald nach den ersten vielbeachteten Ausgaben trat Fritz in die CDU ein, weil er hoffte, in der Partei leichter an Informationen zu gelangen. Aus Protest verließ ich die Volkspostredaktion. Ich verstand mich als Kommunist, las nur die damals linke Frankfurter Rundschau und kaufte mir unverdrossen die deutsche Ausgabe der kommunistischen Peking-Rundschau. Ihr Deutsch war tadellos, aber der Inhalt war Parteichinesisch, von dem ich kaum ein Wort verstand.

Ich Kommunist, war seit kurzem stolzer Besitzer eines eigenen Produktionsmittels, einer Halda-Schreibmaschine [deren Geschichte ist hier erzählt]. Daher verließ ich die Volkspostredaktion und gab eine eigene Zeitung heraus. Sie hieß „Dampfdruck.“ In Wahrheit wurden Volkspost und Dampfdruck nicht mit Dampfmaschinen gedruckt, sondern mit dem Spirit-Karbon-Umdrucker. Die älteren werden sich erinnern. Die Druckvorlagen waren Papiermatrizen. Man spannte sie zusammen mit einem beschichteten Blatt in die Schreibmaschine und beschriftete sie. Um ein klares Schriftbild zu erzielen, schaltete man an der Schreibmaschine das Farbband ab. Jeder angeschlagene Buchstabe druckte sich vom beschichteten Blatt spiegelverkehrt auf der Matrizenrückseite ab. Die Matrize wurde in den Umdrucker gespannt, in dem sie mit Spiritus getränkt wurde. Der Spiritus löste die Buchstaben auf der Matrize an und gab etwas Farbe ans Papier ab. Es ließen sich etwa 80-100 saubere Drucke erstellen. Entsprechend niedrig war die Auflage unserer Zeitungen. Wir legten die einzelnen Seiten als kleine Stapel auf den Tischen der Schule aus und rannten zusammentragend rundum. Leider besitze ich von der Volkspost und vom Dampfdruck kein Exemplar mehr. Wenn ich mich recht erinnere, erschien von Dampfdruck aber nur eine Ausgabe. Nachdem ich mich vom Schock von Fritzens CDU-Mitgliedschaft erholt hatte, trat ich wieder in die Volkspostredaktion ein.

Fritz schrieb mir, dass er sein Elternhaus, in dem sich der Redaktionsraum befunden hatte, kürzlich verkauft habe. Der Käufer habe im Schuppen einen Karton mit Manuskripten und Redaktionsprotokollen gefunden und ihm übergeben. Derzeit ist Fritz noch im Urlaub. Ich hoffe, den Inhalt des Kartons bald mit ihm sichten zu können. Bericht folgt.

Pommes Schranke

„Pommes Schranke“, las ich heute bei CD und musste eine Weile nachdenken, was das wohl sein könnte. Klar, eine Bahnschranke ist rot-weiß gestrichen. Also ist „Pommes Schranke“ das gleiche wie „Pommes rot-weiß.“ Auch das ist eine Metapher, denn rot-weiß“ steht für die Kombination Ketchup und Majonäse. Für einen Augenblick zweifelte ich an der Schreibweise Majonäse, eine Hypothek aus meiner Lehrzeit als Schriftsetzer. Da musste ich nämlich täglich die Speisekarte für das Restaurant im Neusser Kaufhaus Horten setzen. Das Manuskript kam immer erst gegen 16:30 Uhr, also kurz vor Feierabend. Offenbar schmierte es der jeweils diensthabende Koch zusammen. Während heutige Köche keine Majonäse mehr auf ihre Gerichte kleckern, war es in den späten 1960-er Jahren üblich. Es gab Majo zu allem, aber keine einheitliche Schreibweise. Mal hieß es Mayonnaise, Majonäse, Majonnaise, ja, sogar Maionnaise, je nach Koch und dessen Rechtschreibkenntnissen. Und ich habe das Wort natürlich gesetzt, wie es da stand. Um 17 Uhr hatte ich Feierabend, und ich musste noch die Setzerei fegen, da war keine Zeit, eine einheitliche Schreibweise zu bestimmen.

So ist es auch gewesen, bevor Konrad Duden seine erste Deutsche Einheitsorthographie vorlegte. Duden wollte einst das deutsche Kaiserreich von seiner „buntscheckigen Rechtschreibung“ befreien. Bis 1903 hatte jede große Druckerei ihre eigene Hausorthographie. Das gleiche galt für viele Schulen. Daher war Duden von Otto von Bismarck beauftragt worden, das orthographische Chaos zu regeln, womit auch der staatliche Zusammenhalt gefördert werden sollte. Doch ohne die Unterstützung der Verleger und Buchdruckereiverbände hätte sich Dudens Einheitsorthographie nicht durchsetzen können. Deshalb entsprach er dem Wunsch der Buchdruckereiverbände nach einem Wörterbuch, in dem die meisten Doppelformen getilgt waren.

Der erste Buchdruckerduden erschien bereits 1903; seine 9. Ausgabe von 1915 verschmolz mit dem bis dahin parallel erscheinenden Orthographischen Wörterbuch. Der heutige DUDEN war geboren, Konrad Duden selbst am 1. 8. 1911, 82jährig, verstorben. Hatte im Vorwort des Buchdruckerdudens noch Dudens Mahnung gestanden: „dass die Entscheidung für eine von zwei oder drei durch das amtliche Regelbuch zur Verfügung gestellten Schreibungen keineswegs die nicht gewählten als minderwertig bezeichnen soll“, bewirkte die Festlegung in der Praxis, dass die meisten Doppelformen verschwanden.

Zurück zu Pommes Schranke. Als Kind war ich fasziniert von Bahnschranken. Manchmal half meine Mutter dem Bauern von gegenüber beim Rübeneinzeln und ich musste mit. Eine Impression aus meinem Text „Rübendarwinismus“:

Die Bahnschranke ist unten. Das Gespann muss halten. Der Knecht springt vom Traktor ab und geht zur Rufsäule. Man muss einen Hebel ziehen. Dann kommt ein Knistern aus dem gerippten Lautsprecher, und eine quäkende Stimme fragt: „Ja, bitte?“
„Bitte Schranke aufmachen!“
„Wer ist da?“
„Ein Traktor mit Anhänger!“

Sie haben natürlich das Tuckern des Traktors gehört, die Männer im Stellwerk. Sie müssen trotzdem fragen, es ist Vorschrift. Noch weiß der Kleine nicht genau, was das ist, Vorschrift. Doch er will darauf achten, es herauszufinden. Ein Motor surrt, und die Schranken gehen hoch, fast synchron. Schon holpert das Gespann über die Gleise. Das ist der aufregendste Moment für den Kleinen. Zwei Schienenstränge gilt es heil zu passieren. Noch ist es frei, das glänzende Band, das von schweren Schrauben auf geteerten Schwellen verankert ist. Und der dreckigbraune Schotter dazwischen, Steine wie verrostet. Wenn jetzt aus dem Hohlweg drüben eine dampfende, fauchende Lok gebraust käme…! Welch eine Macht haben die unsichtbaren Männer im fernen Stellwerk. Sie wissen blind, dass ihnen die Schranken gehorchen. Doch wissen sie auch über die Züge bescheid? Können sie denen Befehle geben? Der Lautsprecher drüben knistert auch. Hier soll man „Danke!““ reinrufen, weiß der Kleine. Dann kriegt man ein quakendes „Bitte!““ zurück. Noch mal gut gegangen, denkt er und freut sich schon auf den Abend, wenn sie wieder über die Schienen müssen.

Neueste Nachrichten vom Nichtstun

Ich hätte durchaus einiges zu erledigen. Aber einige Stimmen in meinem Kopf vertreten die Ansicht, das könnte ich morgen, übermorgen oder in der nächsten Woche tun. Überhaupt wäre es besser, nichts zu überstürzen, sondern die Dinge zu tun, wenn ihre Zeit gekommen ist. Außerdem geht bestimmt die Sonne weg, sobald ich aufbreche. Also umgekehrt: Wolken kommen. Spätestens, wenn ich mein Fahrrad zur Haustür hinausschiebe, dann schieben sich dichte Wolken vor die Sonne, Wind kommt auf, lässt mich frösteln, und ich habe schon direkt keine Lust mehr. Am Ende regnet es noch auf mein mühsam aufgebautes Kartenhaus der Motivation, und das ist natürlich ganz und gar nicht wasserfest. Schon die Vorstellung, wie die Karten im Regen umfallen, laff auf dem Bürgersteig kleben, aneinandergepappt in schmutzigen Pfützen liegen, und ich versuche sie mit spitzen Fingern herauszufischen … Das Rad muss ich auch wieder auf den Hof schieben, abstellen und das lästige schwere Schloss drumwinden, bevor ich endlich die Treppenstufen hinaufsteigen darf, die ich doch eben erst herabgestiegen bin.

Wenn es mir nur gelänge, in Ruhe sitzen zu bleiben, ohne schlechtes Gewissen, ohne die endlosen Überlegungen, was möglicherweise erledigt werden könnte und wieviel besser es doch wäre, draußen unterwegs zu sein als hierinnen im Sessel zu hocken. Denn die Sonne scheint weiterhin. Warum auch nicht? Ich habe ja noch keinen Fuß vor die Tür gesetzt. „Das machst du, wenn die Zeit reif ist“, sagt es in meinem Kopf, und ich denke, die Zeit ist ein Harzer Käse und fängt furchtbar an zu stinken, wenn eine Sache endlich gemacht werden muss und keinen Aufschub mehr duldet. Es gibt also derzeit kaum einen Grund, aus dem Sessel aufzustehen, in die Welt hinauszufahren und den Leuten den Sonnenschein zu verderben. Ist ja auch nicht ein Hauch von Harzer Käse in der Luft.

statt gedanken

ich habe unvollständige sätze geschrieben. in den letzten tagen habe ich viele sätze nur angefangen. mein schreibimpuls krepierte, bevor der punkt in sicht war. faireweise muss gesagt werden, dass hinter dem schreibproblem ein verebben der gedanken steckt. gerade ist so ein mauskleiner gedanke ans licht gekrochen, kommt der innere zensor und gibt ihm eins mit dem schlappen drüber. kein wunder dass die gedanken sich nicht mehr hervortrauen. vermutlich hocken sie irgendwo beisammen und sind beleidigt, sagen „puh! ich muss ja nicht…“ „ich kann auch woanders denken, wenn das so ist.“ oder fluchen über den zensor und seinen schlappen. die verhuschten dinger. wären sie nicht so rachitisch, wäre mal einer kräftig genug aufzustehen, zu sagen: „hier stehe ich und kann nicht anders!“, dann könnte er sogar für den schwächlichsten aller gedanken eine bresche schlagen, so dass sich alle schwachmaten hervorwagen könnten, ohne den zensorschlappen befürchten zu müssen. aber weils nicht so ist, gibt es ersatzweise mal was ohne gedanken, nur zum anschauen (rechte seite. links ist ein alternatives alphabet zu sehen, so’n quatsch.)

bitteschön, von mir selbst gemacht aus obigen bleistiftskizzen sinnloser Symbole. sinnlose symbole zu entwerfen ist übrigens gar nicht so einfach. auch wenn mans gar nicht will, schon schleicht sich an eine form eine bedeutung ran, springt ihr in den nacken wie ein hockauf und dirigiert das symbol frech bei den ohren.

Grafik: JvdL (größer: bitte klicken!)

Fingerkuppenkräuselkrause

Zu viele Dinge in der Welt, zu viel Information. Ich wollte einen Pullover, habe aber einen Wasserkocher gekauft. 5000 Seiten Gebrauchsanleitung in allen Weltsprachen. Dabei ist das Gerät nicht etwa die technische Variante einer Eier legenden Wollmilchsau, sondern kocht nur Wasser. Meine Gebrauchsanleitungsbibliothek füllt eine ganze Kommodenschublade, und fast alles davon ist noch ungelesen. Nur einmal, als ich während meiner Lesereise bei einer Essener Freundin im Garten gelesen habe, da habe ich spät in der Nacht noch die Anleitung für meinen neuen mp3-Player in allen Weltsprachen vorgelesen; aber das ist ein Versehen gewesen. Bei Kerzenlicht kann man sich schon mal vergreifen. Zum Glück ist es nicht aufgefallen, ja, von allen Texten bekam die Bedienungsanleitung den meisten Beifall. Sogar aus dem Fenster des Nachbarhauses wurde applaudiert, und ein Mann rief: „Danke, du Tünnes, jetzt weiß ich das auch!“

Für die erfolgreiche Benutzung eines Wasserkochers ist die Lektüre der Bedienungsanleitung nicht unbedingt erforderlich, sondern eher hinderlich, denn ich will ja jetzt heißes Wasser und nicht erst in fünf Stunden. Tatsächlich ist nicht einmal gesagt, dass ich den Wasserkocher besser zu bedienen lerne, wenn ich die Gebrauchsanweisung studiere. Bei den meisten Geräten reicht dem Nutzer das Weltwissen, das er sich im Laufe seines Lebens angeeignet hat gepaart mit der Technik Versuch und Irrtum. Generell ist die genaue sprachliche Beschreibung nicht so leistungsfähig wie man glauben könnte. Eine Aufbauanleitung für ein Möbelstück beispielsweise wäre sprachlich kaum zu vermitteln. Hier sind Schaubilder mit den einzelnen Aufbauphasen hilfreicher.


Wenn man zum Beispiel ein Ereignis oder ein Bild digitalisiert, dann setzt man einer fließenden komplexen Wirklichkeit eine grobe Struktur gegenüber. Anders: Man nimmt über ein Netzwerk die Information ja oder nein ab. Eine Kurve lässt sich mit Hilfe von Punkten beschreiben (grün). Ich könnte sie auch anders interpunktieren ( rot). In beiden Fällen vermittelt sich das Bild der Kurve. Nur eine vergleichende Überprüfung bringt an den Tag, dass die gleiche Kurve auf unterschiedliche Weise dargestellt ist. Ist die zugrunde liegende Struktur zu fein für das menschliche Auge, dann bilden sowohl die grünen wie die roten Punkte die Kurve scheinbar 1:1 ab. So wäre die unterschiedliche Interpunktion von grün und rot nicht mehr zu erkennen.

Ähnliches geschieht bei der Zerlegung eines Bildes in Rasterpunkte im Reproverfahren. Wenn man mehrere Aufnahmen macht und dabei das Raster jeweils um einige Grad dreht, einmal um die Achse, sieht ein unbefangener Betrachter bei jeder Einzelaufnahme das gleiche, nicht jedoch das selbe Bild, wie er glaubt zu sehen. Legt man nur zwei solcher Filme übereinander, erhält man einen Moiré-Effekt. Alle Bilder übereinander ergeben nur noch schwarz. Die Bildinformation ist verschwunden. Hier zeigt sich, dass sich eine Information nur wahrnehmen lässt, wenn sie ausgedünnt ist. Die Information muss ausgedünnt sein, damit der Mensch sie verwerten kann. Der Verfeinerung der Wahrnehmungsstrukturen sind also Grenzen gesetzt.

Der Mensch eignet sich die komplexe Welt über die Wahrnehmungsstruktur Sprache an. Dass die Wörter der Sprache wie grobe Punkte sind, mit deren Hilfe wir die Wirklichkeit erfassen, ist uns bei der Sprachverwendung selten bewusst. Wir neigen dazu, die sprachliche Erfassung mit der Wirklichkeit gleichzusetzen. Eine Verfeinerung der Sprachstruktur brächte jedoch keine genauere Wirklichkeitserfassung. Wenn wir an einer Stelle verfeinern, müssen wir an einer anderen Stelle vergröbern, damit Gesamtmenge der Information das menschliche Maß nicht überschreitet.

Was ist Fingerkuppenkräuselkrause? Ich bekomme sie, wenn ich bestimmte Textilien berühre. Denn da nehme ich das Textil nicht mehr als eventuell tragbar wahr, sondern es vermittelt sich mir nur eine Information: „Ich war einmal ein Joghurtbecher.“

Das unrühmliche Ende einer Engeltasse

Meine Engeltasse ist zerbrochen. Vor Tagen hantierte ich ungeschickt mit dem Kaffeefilter aus Porzellan und dem Wasserkocher, und wie es manchmal ist, wenn man ein Unglück verhindern will: Alle Handgriffe erweisen sich als falsch, fahrig ist das passende Adjektiv, und richten nur weiteres Chaos an. Es war eine rasche Abfolge von Fehlhandlungen, die ich rückblickend nicht mehr rekonstruieren kann, in deren Folge der Kaffeefilter umfiel, die Engeltasse ebenfalls, sich eine Kaffeelache ausbreitete, über die Kante des Arbeitsfläche floss und zu Boden tropfte. Warum die Engeltasse ebenfalls zu Boden fiel und zerschellte, entzieht sich meiner Kenntnis. Vermutlich hat sie nur auf einen günstigen Augenblick gewartet, sich aus meinem Leben zu entfernen, denn ich schätzte sie schon eine Weile nicht mehr. Ich hob die Scherben auf und warf sie ohne Umschweife in den Müll. Die Geschichte der Engeltasse ist rasch erzählt:

Im September 2006, heute könnte man sagen vor zwölf Jahren, besuchte mich in Aachen die liebreizende Bloggerin Mikage, eine spätberufene Jurastudentin aus Berlin. Am Tag ihrer Abreise stöberten wir noch in einem Laden für Geschenkartikel nahe der Alten Post. Dort kaufte sie mir die Engeltasse, auf dass ich sie immer in Erinnerung haben sollte. Ob dieser Hintergedanke für sie eine Rolle spielte, weiß ich nicht. Aber in der Folgezeit, in der die eher flüchtige Fernbeziehung zerbrach, in dieser Zeit und nach meinem Umzug nach Hannover begleitete mich die Tasse und war ein wesentliches Element meines Frühstücks, denn es passte ordentlich was an Kaffee rein. Wenn ich ihn aufgoss, konnte ich zweimal in den Filter nachgießen. Ich dachte nicht bei jedem Frühstück an Mikage, aber immer wieder. Jetzt ist die Tasse weg, und über alles kann sich die Gnade des Vergessens breiten.