Über Unfreundlichkeit

Grobiane gibt es überall, Choleriker, worin das Wort Kleriker sich verbirgt, und Wüteriche, auch wenn sie gar nicht Erich heißen. Unser Pastor beispielsweise war so ein Choleriker. Er unterwies uns in Religionslehre. Wenn es ihm in der Klasse zu laut wurde, geriet er in Wut, riss den Deckel des Eichenpults hoch und donnerte ihn wieder zu. Das Pult stand auf einem Podest, das man als Schüler nur betrat wie die heiligen Stufen des Altarraums. Irgendwann bekam die Schule neue Möbel, auch ein Pult mit Schubladen, aber ohne Tischklappe. Dem Pastor schien das nicht aufgefallen zu sein, denn als er mal wieder in Rage geriet, den Deckel des Pults anheben wollte, wandte er soviel Kraft auf, die vermeintlich widerspenstige Klappe zu bezwingen, da warf er das unschuldige Pult vom Podest herab in den Klassenraum. Damals schon war mir die katholische Religion unheimlich, denn wie konnte ein liebender Gott so wüste irdische Vertreter haben.

Entschuldigung, dieser Text soll von der Unfreundlichkeit handeln. Leider hat mich schon die müßige Sprachspielerei im ersten Satz aus der Kurve getragen. Genauer, es geht um die Unfreundlichkeit einer Verkäuferin der Bäckerei in meiner Nachbarschaft. Nachdem ich seit Anfang Juni nicht zu Hause war, zuletzt gar fünf Wochen in Aachen verbrachte, wo die Bäckereikultur auf ihrem Zenit ist, muss ich mich in vielen Dingen erst wieder erinnern, auch daran, dass ich in der Nachbarsbäckerei grundlos unfreundlich behandelt werde.

Ich betrat die Bäckerei, grüßte freundlich und wünschte zerstreut „ein Laugenbrötchen.“
„Laugenbrötchen habe ich nicht.“
„Was ist das denn?“, fragte ich und zeigte auf ein Auslagenfach, wo derlei Backwaren lagen.
„Laugenecken.“
„Dann nehme ich eine Laugenecke.“
Ich verstand spontan, warum die Schaufenster mit Plakaten zuklebt sind, auf denen freundliche VerkäuferInnen gesucht werden, doch ich hätte kein Verständnis zeigen und fragen sollen: „Warum so unfreundlich? Sie hätten bei sich Brötchen in Ecke übersetzen können, was natürlich eine gewisse Intelligenz erfordert hätte, die Fähigkeit nämlich des Transfers. Bei intellektueller Überforderung hätten Sie immerhin zurückfragen können: ‚Meinen Sie eine Laugenecke?‘ Beides war Ihnen nicht möglich, weil Sie unzufrieden mit sich, Ihrem Brotherrn und der Welt sind. Aber warum Sie das mich spüren lassen, der durch seinen Einkauf dazu beiträgt, dass Ihnen ein Lohn gezahlt werden kann, ist damit nicht erklärt.“

Doch so roh wie sie mir erschien, ist sie nicht. Heute Morgen ging ich hin, um ein weiteres Beispiel ihrer Unfreundlichkeit zu sammeln. Als hätte sie es geahnt, bediente sie mich mit freundlichen Worten, die zwar nach Papageienart ihren Mund verließen, aber als sie sich abwandte, um in die Küche zu gehen, quetschte sie sich tatsächlich „Noch einen schönen Tag“ aus dem Schnabel, was hiermit ebenfalls vermeldet wird, um der Wahrheit die Ehre zu geben.

Das achte Brot


Der britische Ethnologe und Medienwissenschaftler Jack Goody berichtet in Entstehung und Folgen der Schriftkultur, Frankfurt 2003, vom Fall eines afrikanischen Boten, der acht Brote nebst Begleitbrief in eine Missionsstation bringen sollte. Unterwegs bekam er Hunger und aß ein Brot. In der Station fragte ihn der Priester, wo das achte Brot geblieben sei. Der Bote fragte erstaunt zurück, woher der Priester vom Brot wisse.
„Der Brief hat es mir erzählt.“

Bei einem erneuten Botengang konnte der Bote seinen Hunger nicht zügeln und aß wieder ein Brot. Zuvor versteckte er den Brief, damit er ihn nicht beobachten und verraten konnte. Letztlich verhält sich der heutige Mensch gegenüber der digitalen Technik nicht klüger als der illiterale Bote beim Erstkontakt mit dem Schriftmedium.

„Jules van der Ley, Privatadresse!“, sagte jüngst mein ältester Sohn, als er mich mit dem Auto abgeholt hatte und nach Hause fahren wollte. Prompt nannte eine wohlklingende Frauenstimme meine Adresse und gab Anweisungen, wie zu fahren wäre, was noch auf einem Bildschirm angezeigt wurde.
„Woher kennt die Frau meine Adresse“, fragte ich naiv. Ähnlich naiv reagierte ich, als ich bei einem Touchscreen eine Satzphrase mit den Finger ausgeschnitten hatte und an anderer Textstelle einfügte. Da konnte ich mich nicht der Vorstellung erwehren, die Phrase wäre zwischenzeitig in meiner Fingerkuppe gespeichert gewesen. Der Mensch ist nur an das Analoge gewöhnt. Deshalb kann die digitale Technik irritieren.

Die Frauenstimme des Navigationssystems trägt den Namen Siri. Der Name ist eine Reminiszenz ans Analoge. Siri und ihre Stimme gehören zur sogenannten Benutzeroberfläche. Das Wort gibt einen Hinweis darauf, dass es etwas unterhalb der Oberfläche gibt. Unter dieser Oberfläche beginnt für die meisten Menschen die Fremde, eine hermetische Einöde aus mathematischen Daten und Algorithmen, also Anweisungen, wie die Daten zu verarbeiten sind. Das unterscheidet das gedruckte oder geschriebene Adressbuch vom digitalen. Auch das Adressbuch gibt eine gewünschte Auskunft. Es spricht zu dem, der die Schriftzeichen zu lesen versteht. Doch es fehlt die Tiefenstruktur. Die Seiten eines Adressbuches sind nur Benutzeroberfläche. Demgemäß leitet das Adressbuch hinter unserem Rücken keine Daten weiter und handelt nicht mit ihnen, ohne dass wir es merken.

Die Schriftzeichen, aus denen dieser Text besteht, sind ebenfalls eine Vorspiegelung auf der Benutzeroberfläche. Darunter besteht er aus mathematischen Daten und Algorithmen. Doch das Wort „besteht“ ist irreführend. Es verschleiert, dass wir es nur mit elektronischen An-Aus-Zuständen in Speicherzellen zu tun haben.

Ein Großteil unserer Geschäftspost, digital und analog gehört inzwischen zur Benutzeroberfläche digitalisierter Verwaltungs- und Geschäftsvorgänge. Selbst wenn eine veranlassende Person genannt ist, gehört sie ebenfalls zur Oberfläche. Wenn in derart automatisierten Verfahren etwas schief läuft, wird es immer schwieriger, einen menschlichen Veranlasser zu finden, mit dem sich über eine Angelegenheit verhandeln lässt. Indem reale Personen aus derartigen Vorgängen verschwinden, machen wir uns das Dasein nicht einfacher, sondern die Welt wird für den Einzelnen unerbittlich.

Zeitsprung im Nachstellschritt

Gestern habe ich erstmals wieder meine Waschmaschine in Betrieb genommen und freute mich, dass sie sich nach der langen Ruhezeit brav an die Arbeit machte. Dann saß ich auf meiner weinroten Wohnzimmercouch inmitten weinroter Kissen mit dem einen goldenen, nach dem die Schwäbin und ich einst diverse Möbelhäuser durchstöbert hatten. Diese Design-Idee, mancher erinnert sich, stammt von einer Sitzbank in den Hangwiesen des niederländischen Dorfes Nijswiller, hier beschrieben. Als ich also auf meiner Couch saß, fiel mein Blick auf die offen stehende Wohnzimmertür. So gerade eben war das große Gemälde mit der nächtlichen Hafenszenerie zu sehen, in dem die Comicfiguren Tim und Struppi auf den Betrachter zu kommen. Meine Tochter Manja hat es im Leistungskurs Kunst der Jahrgangsstufe 13 gemalt. Ich dachte darüber nach, dass ich dem Bild einen besseren Platz suchen sollte, wo es immer zu sehen ist und nicht von der selten geschlossenen Wohnzimmertür verdeckt wird. Diese Tür verdeckt nämlich etwas anderes, was ich ebenfalls von Manja bekommen habe.

Als ich am 12. Dezember 2008 von Aachen nach Hannover umgezogen bin, halfen sie und mein späterer Schwiegersohn beim Beladen des Transporters. Ich weiß nicht mehr, wie es geschah, jedenfalls gab mir Manja einen Wäscheständer mit, den ich alle Jahre in Ehren gehalten habe.

Nachdem nun meine Waschmaschine ihre Arbeit getan hatte und ich die Wäsche aufhängen wollte, war der Ständer nicht da. Tim und Struppi schauten mich fragend an. Da erinnerte ich mich schwach, dass ich am Freitag des 4. Junis, dem Tag vor meinem Unfall die Wäsche im Hof getrocknet und am Samstagmorgen dort abgehängt hatte. Ich hatte wenig Hoffnung, dass der Ständer dort noch stehen würde, tappte im Nachstellschritt hinab und fand ihn tatsächlich vor. Er hatte an Gelenkstellen ein wenig Rost angesetzt, war aber sonst im guten Zustand.

Während ich überlegte, wie ich ihn wohl am besten nach oben transportieren könnte, kam glücklicherweise mein hilfsbereiter Unternachbar nach Hause, fragte, ob er helfen könne und trug mir den Wäscheständer hinauf auf die erste Etage. Solche Abenteuer kann erleben, wer lange von zu Hause weg war.

Reise durch zehn Betten – Ende gut, alles gut

Bett fünf war der Tiefpunkt meiner Reise. In ihm wurde mir klar, dass der Verlust der Autonomie durch einen Beinbruch bislang ungeahnte Gefahren birgt. Das Prinzip „Paarung wirkt auf die Partner“ galt auch hier. Da die Hausärzte der Einrichtung überwiegend mit dementen Bewohner zu tun hatten, entschieden sie auch über meinen Kopf hinweg und verordneten vorsorglich ein Medikament, das geeignet war, aus mir einen anhaltenden Pflegefall zu machen. Indikation „Bei Unruhe.“ Hätte ich dem Impuls nachgegeben, den hässlichen Putz von den Wänden zu kratzen, wäre es passiert. Für diesen Fall hielten die Pflegekräfte eine chemische Keule vor. Ich entkam glücklich in eine andere Einrichtung, fühlte mich wohl aufgehoben im sechsten Bett, bloggte, schaute Tour de France und plante meine Reha. In Stunden der Verzweiflung war der ferne Lichtblick gewesen, zur Anschlussheilbehandlung nach Aachen zu fahren, in eine vertraute Umgebung, zu Familie, Freunden und Exkollegen. Diese Aussicht hatte mir die geistige Gesundheit bewahrt.

Bett sieben war gar kein Bett, sondern eine Couch im Wohnzimmer meiner Tochter und Familie in Aachen, wo ich von Sonntag auf Montag übernachtete, um pünktlich am Morgen die Reha anzutreten.

Meine Unterkunft in der Reha glich einem Hotelzimmer. Demgemäß war auch Bett acht dem allgemeinen Design angepasst, wirkte kaum noch wie ein Pflegebett, hatte aber die diversen Funktionen der Höhenverstellung und einen Galgen. Hatte ich Bett sechs noch aus Langeweile auf und ab gefahren, wurde in acht nötig, Kopf- und vor allem Fußteil zu verstellen, um mein inzwischen heftig schmerzendes Bein hoch zu lagern. Im Ohr habe ich noch das entsetzliche Jaulen, wenn der Elektromotor das Bett auf und ab fuhr, eine Funktion, die mein Enkel weidlich nutzte, bis seine Mutter ihm Einhalt gebot, weil eine Unterhaltung unmöglich war.

Wenn einer in der Kurklinik um Urlaub fragt, steckt sich die Dame an der Rezeption die Finger in die Ohren und singt „Na-nanaa-na-naaa-na!“ Sie darf nämlich nicht wissen, dass jemand die Einrichtung verlässt, ein Versicherungsding, versteht man. Das Verbot aushäusiger Aktivitäten ist zwar abseits der Lebenswirklichkeit, aber es muss alles seine Richtigkeit haben in Deutschland. Die Exkollegin eines Exkollegen ist zu einem 80. Geburtstag eingeladen, und ich erwarte Besuch. Die Schwäbin reist an, und wir wollen die Gelegenheit nutzen, nach acht Wochen mal wieder gemeinsam zu übernachten. Ich buchte ein Zimmer in einem anonymen Hotel, genoss das Wiedersehen, konnte das bequeme Bett neun aber nicht richtig genießen, denn zu dieser Zeit litt ich schon Schmerzen, weil sich aus der Verschraubung des Nagels in meinem Bein ein Bolzen herausgedreht hatte. Vielmehr hatte mein Körper diesen Bolzen herausgedreht, ein mir rätselhafter Vorgang. Man weiß ja, dass der menschliche Körper Fremdkörper abstößt, aber dass er dazu auch eine Gewindeschraube drehen kann, wusste ich nicht. Am Morgen beim Frühstück im Hotel wunderte ich mich über die vielen leichtfüßigen Zweibeiner. Ich war nur noch Leute mit Rollator oder Krücken gewohnt.

Bett zehn war das kürzeste von allen und wurde erst nach mehrstündiger Suche gefunden, nicht weil es so kurz war, sondern weil man in der Abteilung für orthopädische Chirurgie des Aachener Marienhospitals keinen Platz für mich hatte. Fündig wurde man zwei Etagen höher in der Frauenabteilung. „Keine große Sache“, sei meine OP, meinte der coole Chirurg, aber es ist wohl ein Unterschied, ob man in ein Bein hineinschneidet oder der Eigentümer des geschnittenen Beins ist.

Trotz meiner Befürchtung, es wäre doch eine größere Sache, wurde ich nach drei Tagen wieder entlassen und durfte das operierte Bein voll belasten. Mein Zimmer und mein Bett standen mir noch zur Verfügung, und zwei Wochen später kehrte ich nach Hannover ins eigene Bett zurück. Meine Odyssee durch zehn Betten hatte gut vier Monate gedauert.

„Waren Sie im Urlaub?“, fragte meine Unternachbarin, als wir uns zufällig begeneten. „Ich habe sie so lange nicht gesehen.“
„Nein, ich hatte mir das Bein gebrochen“, sagte ich und schilderte kurz die Gründe meiner Abwesenheit. Da sprach sie das passende Schlusswort: „Schön, dass Sie wieder da sind.“

Musiktipp
dEUS – Bad Timing

Reise durch zehn Betten

Manch einer wird denken, unter der Überschrift würden ihn frivole Bettgeschichten erwarten, Erzählungen von amourösen Ereignissen etwa im Bett eines verschwiegenen Hotels, in dem ein Liebhaber eine leichtfertige Frau erwartet, die heran geradelt käme in einem luftigen Sommerkleid, unter dem sie nichts trüge als aufregende Dessous. Sie hätte sich zeigefreudig erhitzt beim Gedanken, dass der laue Fahrtwind ihr gelegentlich unter den Rock gefahren war, und frech entblößt hatte, wofür Männer ihre Automobile in die Straßengräben lenken. Nein, nein, nein!

Wer solche Phantasien erwartet, lese hier nicht weiter. Unsere Altvorderen wussten schon, warum sie den emanzipierten Radfahrerinnen der frühen Stunde Bleikugeln in die Rocksäume genäht haben, wie wir sie heute noch beschwerend in den Gardinen besserer Häuser finden. Diese Bleikugeln hinderten die Kleider am Hochfliegen und befreien quasi jetzt noch unsere Gedanken von anzüglichen Assoziationen. „Reise durch zehn Betten“ soll nämlich sein ein bewegender Tatsachenbericht. Er kündet von Ereignissen, deren Beschreibung es nötig gemacht haben, schönere Imaginationen voranzustellen, um potenzielle Leserinnen/Leser nicht abzuschrecken. Weiterlesen

Plausch mit Frau Nettesheim über ein kaputtes T

Frau Nettesheim
Warum haben Sie im Header das T kaputtgemacht?

Trithemius
Ist ja nicht ganz kaputt, nur gebrochen wie mein Unterschenkel.

Frau Nettesheim
Ihre beiden Frakturen sind nach über drei Monaten hoffentlich verheilt.

Trithemius
Das Wadenbein schon, aber der Spiralbruch war’s nicht, weshalb der Aachener Chirurg in der zweiten OP die Statik des Nagels und dessen Verschraubung innerhalb des Beins verändert hat. Es soll mehr Druck auf den Bruch. Darum durfte ich anschließend voll belasten. Wie es jetzt aussieht, erfahre ich erst Mitte Oktober. Denn mit den Worten eines unbekannten Automechanikers: „Man steckt nicht drin.“

Frau Nettesheim
Irgendwie doch.

Trithemius
Natürlich, Eure Spitzfindigkeit. Wäre ich jünger, würde alles besser heilen. Als ich 18 war, ist mir eine Rolle Rotationspapier auf den Mittelfuß gefallen. Alle Knochen waren glatt durch. Ich bekam für sechs Wochen einen Gehgips. Mit dem war ich sogar in der Diskothek zum Tanzen.

Frau Nettesheim
Muss gruselig ausgesehen haben.

Trithemius
Na. Bei jungen Menschen wird’s akzeptiert, und jede drängt sich, auf dem Gips zu unterschreiben. Ein älterer Mensch mit OP und Krücken wirkt gleich hinfällig, und die Leute machen einen Bogen um einen.

Frau Nettesheim
Interessantes Wort „hinfällig.“ Inzwischen wird’s metaphorisch gebraucht. „Die Pläne sind hinfällig.“ Aber man erkennt noch den einstigen Wortinhalt. Ein durch Krankheit geschwächter alter Mensch neigt zum Hinfallen. Er ist gebrechlich.

Trithemius
Genau wie „gebrechlich.“ Wenn sie fallen, brechen sich viele Alte den Oberschenkel. Der Oberschenkelhalsbruch war einst ein Todesurteil. Meine Oma ist daran gestorben. Heute wird ein solcher Bruch operiert, und die Leute müssen nicht liegen, bis sie durchdrehen, sondern laufen herum.

Frau Nettesheim
Frakturen sind ein blödes Thema. Da gefällt mir ein Gespräch über die Frakturschrift schon besser.

Trithemius
Mir auch! Wissen Sie, dass ich Wochen vor meinem Unfall nah beim Pflegeheim einen hölzernen Wegweiser mit geschnitzter Frakturschrift gesehen habe?

Frau Nettesheim
Gähn! Er mal wieder.

Kleine Wortschatzübung – Nachstellschritt und Triell

Den Wortschatz des Deutschen dachte sich Jacob Grimm ganz im Geist des 19. Jahrhunderts als in Kisten und Kasten bewahrte gefaltete Leinwand. Heute wissen wir den Wortschatz sicher verwahrt im Deutschen Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm, dem monumentalen Werk von 32 schwergewichtigen Bänden in Leder. Obwohl das ehrgeizige Projekt erst im Jahr 1960 fertig wurde, ist der heutige Wortschatz besser in Wörterbüchern wie Duden oder Wahrig abgebildet, weil er dort ständig aktualisiert wird.

Wie muss man sich den eigenen Wortschatz vorstellen? Er ist naturgemäß viel kleiner als der Wortschatz des Deutschen, doch auch er wird ständig aktualisiert. Die Sprachwissenschaft unterscheidet zwischen dem aktiven und passiven Wortschatz. Passiv sind Wörter, die eine/einer versteht, aktiv sind die von ihnen benutzten Wörter. Manchmal werden Wörter aus dem passiven in den aktiven Wortschatz verschoben. Kürzlich lernte ich das Wort „Nachstellschritt.“ Ich kannte es noch nicht, habe es aber unmittelbar verstanden, denn es ist die Weise, wie ich Treppenstufen steige, treppauf mit dem Fuß des gesunden Beines, treppab mit dem Fuß des gebrochenen Beines, den jeweils anderen Fuß nachstellend.

Ein mir komplett neues Wort ist „Triell.“ Gemeint sind die Fernsehduelle der Kanzlerkandidaten dreier Parteien, mit denen das Fernsehen unsere Demokratievorstellungen untergräbt. Triells im Fernsehen begünstigen Parteien, die Kanzlerkandidaten aufgestellt haben, und benachteiligen alle anderen Parteien. Wir wählen nämlich nicht Bundeskanzler, sondern Parteien, die sich wiederum im Nachstellschritt um eine Regierungsbildung bemühen, wozu sie in der Regel Koalitionen mit anderen Parteien eingehen müssen.

    – Nachstellschritt
    – O
    – P
    – Q
    – R
    – S
    – Triell

Ab und zu ist es ganz hilfreich, sich zu vergewissern, wie und von wem der eigene Wortschatz erweitert wird.

Am Ende des Tages

Drei Monate war ich nicht zu Hause und finde das meiste unverändert. Nur die Bäume vor meinen Fenstern sind kräftig gewachsen, so dass sie mir die Wohnung ein wenig mehr beschatten. Noch etwas hat sich geändert: Im Kabelfernsehen gibt es jetzt einen Sender von BILD, wie ich beim Durchzappen feststellte. Ich weiß nicht, welchen Sendeplatz der Medienkonzern Springer okkupiert hat, jedenfalls sendet er, wie in der Presse gemeldet, schon ab August. Leicht angeekelt sah ich mir ein Gespräch von BILD-Sportchefredakteur Matthias Brügelmann mit dem Fußballfunktionär Karl-Heinz Rummenigge an, nicht weil mich interessierte, was der Ex-Fußballspieler und vorbestrafte Rolexschmuggler Rummenigge zu sagen hatte, sondern weil ich hörte, dass er noch immer von einem Phrasen-Virus geplagt wird, der ihn nachweislich schon im Jahr 2009 befallen hatte.

    Im Mai 2009 sagte Rummenigge in der ARD-Sportschau: „Am Ende des Tages kann Franck Ribéry den Club ohne das Ja des FC Bayern nicht verlassen.“

Demnach konnte Franck Ribéry den FC Bayern jederzeit unerlaubt verlassen, morgens, mittags, nachmittags, nachts, nur eben am Ende des Tages nicht.

Ich konnte den Wortlaut seiner Aussagen im Bild-Interview vom 15. September 2021 nicht verifizieren, doch am Ende des Tages sonderte Rummenigge mindestens dreimal „ am Ende des Tages“ ab; in einem langen Satz purzelte ihm „am Ende des Tages“ sogar zweimal heraus, so dass zu befürchten war, die Phrase würde gänzlich die Herrschaft über sein Denken an sich reißen und Rummenigge „am Ende des Tages“ nur noch „am Ende des Tages“ stammeln können. Vielleicht lag es an Bild-TV, dass Rummenigge derart zum Spielball seiner Phrase wurde, denn Paarung wirkt bekanntlich auf die Partner.

Dass in einer sich ständig verändernden Welt wenigstens Rummenigges Kopf dauerhaft durch die hohle Phrase „am Ende des Tages“ blockiert ist, könnte man als erfreuliches Zeichen ansehen, wenn sein Kopf für das Weltgeschehen eine Bedeutung hätte. Lieber nicht.

Burtscheider Kursplitter XXX – Arzt auf freier Wildbahn

Ein Aachener Freund war einst zu Besuch in Hannover, und wir saßen zum Abendessen vor dem Plenum, einem Lokal auf dem Eck zwischen der Badenstedter Straße und der Nieschlagstraße in Linden-Mitte. Plötzlich kam meine Hausärztin die Badenstedter Straße hinunter, beschwingt an der Seite eines Mannes. Sie wirkte wie frisch verliebt. In Zivilkleidung sah sie aus wie ihre jüngere Schwester, wiewohl Beschwingt- und Verliebtsein immer einen verjüngenden Effekt hat. Wenngleich sie gleich mehrfach zu uns herüber schaute, war ich mir nicht sicher, ob sie meine Hausärztin war: Ich zweifelte, obwohl Ihre Praxis nicht weit entfernt liegt.

*
Als ich am späten Nachmittag in der Fußgängerzone saß, kam ein Mann vorbei, in dem ich eigentlich den Chefarzt der Kurklinik hätte erkennen sollen. Ich blieb allerdings unsicher, bis er außer Sicht war. Erstens hätte ich ihn nicht in der Fußgängerzone erwartet. Zweitens kannte ich ihn bislang nur in Berufskleidung. Wer bei ihm einen Sprechstundentermin hat, wird von ihm abgeholt. Dr. Evinghoven [Name geändert] begrüßt seinen Patienten und geht leichtfüßig rückwärts den Flur entlang vor ihm her. Dann trägt er weiße Turnschuh, eine weiße Hose und ein weißes T-Shirt. Er ist ein großer kräftiger Mann und für seine Position noch recht jung. So kenne ich ihn, und so erkenne ich Dr. Evinghoven, nicht aber in der Fußgängerzone mit groben Doc-Martens-Schuhen an den Füßen und knielangen Hosen, im Outfit eines Berufsjugendlichen. Er hatte offenbar im Supermarkt eingekauft und trug einen Rucksack, in der Hand aber einen Zehnerpack Toilettenpapier. Dass ich auch bei ihm am Erkennen zweifelte, zeigte mal wieder, wie kontextabhängig die Wahrnehmung ist.

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Glücklicherweise halte ich mich von den sogenannten „sozialen Medien“, Twitter, Facebook, Instagram usw. fern. Ein anderer hätte vielleicht getwittert: „Hilfe! Der Chefarzt der Kurklinik hamstert Klopapier!“ und hätte damit nicht nur einen Klopapier-Engpass in Aachen-Burtscheid herbeigeführt, sondern eine Kettenreaktion ausgelöst, die gleich einem Tsunami um den Erdball gerast wäre, was letztlich den endgültigen Ruin der menschlichen Art bedeutet hätte. So gefährlich können Ärzte auf freier Wildbahn sein.

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Irrtümlich im Wartebereich vor dem falschen Arztzimmer gewartet und noch irrtümlicher in der ausliegenden Zeitschrift Gala geblättert. Ich las das Editorial der Chefredakteurin Brigitte Huber. Der total verschmockte Text weckte in mir den Wunsch, ins Heft zu brechen. Und ich habe den nur gelesen. Wie man derlei Dreck schreiben kann, ohne in die Tastatur zu speien, wird mir immer ein Rätsel bleiben.

Musiktipp
Detektivbyrån – Om Du Möter Varg – [Wenn du einen Wolf triffst]

Burtscheider Kursplitter XXIX – Lady Bump

Zum Frühstück kam ein älterer Mann an meinem Tisch, sah mich an und stieß fast triumphierend hervor:
„Mein letztes Frühstück!“
Hinfort saß er mit gesenktem Kopf vor mir, im Gesicht tiefe Bitterkeits- und Sorgenfalten, und schob sich stumm und methodisch sein Frühstück hinein. Keinmal hob er den Blick. Zu ihm durchzudringen war nicht möglich, denn als ich ihn fragte: „Reisen Sie morgen ab?“, reagierte er nicht. Später sah ich ihn bei der Rezeption mit Koffern sitzen, offenbar darauf wartend, abgeholt zu werden. Ich hoffe sehr für ihn, dass „Mein letztes Frühstück!“ keine Prognose für die nahe Zukunft war.

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In der Cafeteria laufen aus geheimer Tonquelle ausschließlich Hits vom Ende der 1960-er bis in die 1970-er Jahre, vermutlich auf die Klientel angepasst. Die gleiche Musik ertönt in der Turnhalle. Bei der heutigen Gymnastik machte ich Bewegungsschritte zu „Lady Bump“, einem grauenvollen Nummer-1-Hit aus dem Jahr 1978 von Penny McLean. Bump war auch ein populärer Tanzstil.

    „Der Bump ist ein Musikstyle und Modetanz aus den 1970-er Jahren, bei dem sich die Tanzpartner im Rhythmus mit den Hintern, bzw. der Hüfte anstoßen, sich aber sonst nicht berühren.“ (Wikipedia)

Penny McLeans bürgerlicher Name war und ist Gertrude Wirschinger. So um das Jahr 2005 habe ich Frau Wirschinger mal in Aachen gesehen. Da trat sie als Numerologin auf. Ich war hingegangen aus journalistischem Interesse. Es war noch ein bisschen schrecklicher als der Gesang. Gertrude Wirschinger ist eine beherrschende Person, numerologisch nach eigener Angabe eine Eins. Ich hatte ein bisschen Angst, sie würde Zweien wie mich mit dem Hintern anstoßen, saß besorgt mitten unter etwa 100 gläubigen Numerologen, die gebannt Frau Wirschingers esoterischen Erkenntnissen folgten, ihr Buch gleich der Bibel auf dem Schoß hielten und am Schluss damit um Signierung anstanden.

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Rentnerbeige hat definitiv ausgedient. Beliebt bei den Damen sind bunte Muster und viel viel Glitzer. Manche kommen daher wie ein Frau gewordenes Glanzbildchen, zu dick fürs Poesiealbum.

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Meine Tage in Burtscheid sind gezählt. Samstag Vormittag noch Therapien, dann Warten auf Sonntag und meinen fürsorglichen Sohn, der aus Leipzig anreist, um mich Montag bei der Bahnfahrt nach Hannover zu begleiten. Vielleicht gibt es noch einen 30. Burtscheider Kursplitter. Aber das wäre reine Zahlenmagie. Ansonsten: Ihnen und euch allen vielen Dank für die lesende, likende und kommentierende Begleitung auf meinem holprigen Weg zurück ins Zweibeinige. Es hat geholfen.

Musiktipp
Snow Patrol – Chasing Cars (live)