The Yellow Kids

Heute Morgen legte ich mich gleich wieder hin. Es ist etwas Wunderbares, aufzustehen und sich wieder hinzulegen im wohligen Gefühl, keinen Termin zu haben und den ganzen Tag nichts zu müssen. Man muss freilich das Gegenteil kennen, wie ich es gut vier Jahrzehnte gekannt habe. Bei Sturm und Regen, Dunkelheit und Eisregen in aller Früh das Haus zu verlassen … Brrrr!
Gerne stehe ich, die Teetasse in der Hand, am Fenster und schaue auf die Ärmsten, die draußen vorbeihasten. Leute in Kapuzenjacken, eine Frau in schwarzen Gummistiefeln. Im stürmischen Regengrau leuchtet nur ein einsam gelbes Blümchen im Beet unten auf. Mein Obernachbar aus dem Dachgeschoss, angetan in Ganzkörperregenzeug schiebt seinen Motorroller vom Hof auf die Straße, setzt einen dicken Helm auf, um gleich loszufahren. Davon werde ich grad so müde, dass ich mich nochmal hinlege, auf die Gefahr hin, wieder einzuschlafen. Das ist ein Risiko, denn ich träume dann ziemlich wild und erwache meistens wie gerädert.

Ich glitt in einen Traum ganz dicht unter der Oberfläche zum Wachsein. Da war ich Beobachter in der Bildzeitungsredaktion. Alle Redakteurinnen und Redakteure trugen hellgraue Jogginghosen aus einer geheimnisvollen LED-Kunstfaser. Diese Hosen waren per Bluetooth mit einem Statistiktool verbunden, dessen Anzeige sich über einen großen Bildschirm verfolgen ließ. Dort waren alle Artikel des Tages aufgelistet, die auf Bild.de erschienen waren. Gemessen wurde die Zahl der Aufrufe. Nach einem geheimnisvollen Algorithmus, der die Zeit nach Erscheinen eines Artikels und die Klicks in ein Verhältnis setzte, färbten sich die Jogginghosen der jeweils für einen Artikel verantwortlichen Redakteure gelb und zwar beginnend im Schritt. Geringe Aufrufe brachten ein Zartgelb, viele Aufrufe ein tiefes Gelb wie Kuhpisse. Beim Chefredakteur Julian Reichelt liefen alle Daten zusammen. War Bild.de insgesamt erfolgreich, färbte sich sein Hemd schweinchenrosa, was einen hübschen Kontrast zur tiefgelben Jogginghose abgab. Natürlich war die Redaktion bestrebt, nicht blass zu bleiben. Man schrieb sich die Finger blutig, um sich digital einzunässen.

Ein schepperndes Röhren kam von der Straße her und riss mich aus dem Alptraum. Ich erwachte schweißgebadet und besoffen von den eigenen Schlafhormonen. Als ich mich mühsam aufgerichtet hatte und ins Bad wankte, stand ich noch sehr unter Eindruck und schwor mir, mich nie mehr nach dem Aufstehen wieder hinzulegen.
Draußen wurde die Straße aufgesägt.

Der Sammelbegriff Yellow Press für unseriöse Sensationsblätter geht auf die erst spät für die Zeitungsrotation entwickelte gelbe Druckfarbe zurück. Um damit zu prunken, erschien ab 1895 in der New York World der erste Zeitungs-Comic „The Yellow Kid.“ Der Name bezieht sich auf das gelbe Nachthemd, mit der die Titelfigur, das Kind Mickey Dugan, bekleidet ist. Tatsächlich gibt es bei Bild.de diese digitale Wandanzeige mit einer Statistik der Klickzahlen, und den Bild-Chef Julian Reichelt hatte ich unlängst im rosafarbenen Hemd gesehen.

Also eigentlich ein Wahrtraum.

Ex oriente lux*

Gerade habe ich die letzte Münze in den Münzschlitz gefingert, im Fahrscheinautomat setzt der Registrier- und Druckvorgang ein, da fährt der Bus vor. Als endlich mein Fahrschein in die Ausgabe fällt, schließen am Bus wieder die Türen. Halbherzig eilte ich hin, denn ich will das blöde Gefühl vermeiden, erfolglos einem öffentlichen Verkehrsmittel hinterherzulaufen. Der Bus fährt ab ohne mich. Der nächste wird in tröstlichen 12 Minuten kommen. Während er mich schier endlos durch Hannovers Straßen schaukelt, sehe ich, dass ich in 15 Minuten am Ziel sein muss. Das ist unmöglich zu schaffen. Ich hatte mir die lokalen Bedingungen im Internet angeschaut und weiß, dass ich von der Haltestelle an der Musikhochschule noch etwas zu laufen hätte. Als ich dort aussteige, zeigt die Uhr 18:10. Und ich bin gerade orientierungslos, weil die Haltestelle ist, wo ich sie nicht erwartet hätte. Um mich zu vergewissern, frage ich einen herumstehenden Jugendlichen.
„Wo ist denn die Hindenburgstraße?“
„Tut mir leid, das weiß ich nicht.“
Kinder und Jugendliche sollte man nicht nach dem Weg fragen, schreibt schon der Kolumnist Max Goldt. Ich habe das so oft bestätigt gefunden und auch jetzt wieder. Ein gutsituiert wirkenden Mann kommt heran. In der Hand trägt er einen geschlossenen Regenschirm. Ein methodische Mensch, denke ich und frage ihn. Er zeigt mir den Weg, ich will los, da ruft er: „Moment, bevor ich Sie in die falsche Richtung schicke, wozu hat man ein Smartphone? Zückt es und gibt „h i n d e n b u r g s t r a ß e“ in die Maske ein. Ich sehe ihm zu, auf heißen Kohlen stehend, denn mir ist klar, dass sein erster Hinweis zutrifft. Gleich ist auch das akademische Viertel abgelaufen. Endlich erteilt mir sein Smartphone die Erlaubnis zu gehen. Derweil ich die Straße überquere, ruft er mir hinterher: „Haben Sie ein Handy?!“
„Ja.“
„Dann laden Sie sich mal Google maps herunter!“
„Okay!“
Die Wahrheit ist, ich habe das Smartphone bei mir, da auch den Zugriff auf Google maps. Ich wäre nur nicht auf die Idee gekommen, das zu nutzen. Ich ziehe es vor, mich selbst zu orientieren. Und statt einer frigiden App einen Menschen zu fragen, ist wesentlich kommunikativer. Dass aber der freundliche Mann seiner Ortskenntnis nicht traut, sondern die Bestätigung durch die Navigationssoftware braucht, lässt mich noch mehr zu spät kommen.

Das Wort „sich orientieren“ stammt aus dem Französischen „(s‘)orienter, zu: orient = Orient, ursprünglich = die Himmelsrichtung nach der aufgehenden Sonne bestimmen.“ (Duden) Im christlichen Sinne war die Ausrichtung nach Jerusalem gemeint. Google ist ortlos. Sich danach auszurichten ist kopflos.

*) Aus dem Osten Licht.

Entschuldigung, wann kommt hier der Bus?!

Mein Zug rollte in den schäbigen Bahnhof. Der war mehr ein Haltepunkt ohne Überdachung. Am Bahnsteig einige Hinweisschilder. Ich hatte Zeit, sie zu lesen und dachte, dass Hinweisschilder doch eigentlich Ausdruck sozialer Verwahrlosung sind. Was ist so schäbig an Hinweisschildern auf einem menschenleeren Bahnhof? Sie ersetzen den menschlichen Rat, den Arm des Menschen, der einen Weg weist. Da wären Menschen genug, diese Aufgabe zu übernehmen. Einst haben solche Menschen bei der Deutschen Bahn ihren Dienst getan. Ein hilfsbereiter Schalterbeamter mit Dienstmütze gehört so weit in die Vergangenheit, dass die Rechtschreibprüfung meines Schreibprogramms, ihn rot unterkringelt. Man wird die Aufgabe eines Auskunfts- und Schalterbeamten nicht verlockend finden. Denn in der langen Wartezeit zwischen den Zügen, die einen entlegenen Haltepunkt anfahren, würde er nur herumsitzen. Tatenlos herumsitzen kann er auch zu Hause. Ökonomischer ist es, ihn wegzurationalisieren, rechnen jene, die unsere Welt unerfreulich machen.

Unter ökonomischen Gesichtspunkten verbietet sich ebenfalls eine leere Straßenbahn, die stoisch nach Fahrplan fährt, obwohl zu später Stunde kaum jemand einsteigen will. Beides, der hilfsbereite Bahnbeamte, der kaum je gefragt ist und die leere Straßenbahn gehören zu dem, was ich „soziale Redundanz“ (sozialer Überfluss) nennen möchte. Je mehr soziale Redundanz eine Gesellschaft hat, desto liebenswürdiger ist sie.

Es ist wie mit den Archiven, die getreulich die Dokumente der Gegenwart sammeln, sortieren und als kulturelles Erbe aufbewahren, unabhängig davon, ob einmal jemand just dieses oder jenes Dokument einsehen will. Es ist da für alle Fälle, und das ist prima.

Zwei Politiker einer deutschen Regierungspartei sah ich im Fernsehen dicke Krokodilstränen vergießen, dass man die Pendler aus ländlichen Regionen finanziell entlasten müsse, weil sie anders als Städter nicht auf öffentliche Verkehrsmittel ausweichen könnten. Schluchz. Ja. Warum ist das so? Hat die ach so fürsorgliche Bundesregierung nichts davon gewusst? Ist sie vielleicht gestern erst von hinterm Mond eingewandert und sieht jetzt mit Schrecken, dass auf den Dörfern weder Bus noch Bahn fährt? Ja, unsere gewählten Volksvertreter sind so schuldlos und rein wie ein frisch gewischter Kinderpopo. Derweil die Regierung hinterm Mond festsaß, haben korrupte Truchsesse Schmiergeld von der Autoindustrie genommen und die öffentliche Verkehrsinfrastruktur auf dem Land verfallen lassen, damit sich die Landbevölkerung Autos kaufen musste. Aber jetzt wird die fürsorgliche Bundesregierung den Blödsinn unterbinden, wird die Schuldigen ermitteln und bestrafen. „Wer hat dieses geheime Subventionsprogramm für die Autoindustrie aufgelegt? Wer hat gutes Steuergeld für rechtlich unhaltbare Bierzeltideen wie die Ausländermaut und umstrittene Großprojekte wie Stuttgart21 verschleudert?!“ Da werden aber Köpfe rollen. Und dann wird kräftig in die ländliche Verkehrsinfrastruktur investiert, damit das Leben in unserem Land insgesamt wieder liebenswürdig wird.

Die Kapitaleigner und Großaktionäre der Autoindustrie haben zu lange bestimmen dürfen, wie unsere Welt beschaffen ist. Sie haben die Automobile zu den waren Herrschern unseres Planeten gemacht. Einzelheiten zeigt  der Autor und Poetry-Slammer Robert Kayser in einem überaus amüsanten und treffenden Beitrag.
Viel Vergnügen!

Bitte packen Sie sich keine Fisimatenten in den Kopf!

Gerade wollte ich loswettern gegen bekloppte TV-Quizformate, wollte schimpfen, dass auch und besonders das öffentlich-rechtliche Fernsehen die Köpfe der Menschen mit nutzlosem Wissen zumüllt und sie mit derlei Bildungsentertainment vom Selbstdenken abhält, wusch, geht meine Internetverbindung in die Knie. Aus, vorbei! Ich muss wieder zum Kartoffeldruck zurück, ein Bettlaken bestempeln und aus dem Fenster hängen lassen. Und alle werden hoch schauen und denken: Was wohnt denn da für ein Sonderling? Hat der nichts Besseres zu tun als sich zu ereifern?

Zum Glück funzt meine Verbindung inzwischen wieder, und ich kann meine Meinung sagen, ohne dass Passanten bedauernd den Kopf schütteln. Vielleicht hätte sich aber der eine oder andere Passant Gedanken gemacht, was die Zweckentfremdung der Kartoffel betrifft. Lebensmittel zu vergeuden, ist dem materiell verwöhnten Bürger der Industrienationen längst zur zweiten Natur geworden. Und jetzt reibt er sich verwundert die Augen über den bedrohlichen Zustand unseres Planeten. Als wäre er nicht die logische Folge der Gedankenlosigkeit zugemüllter Köpfe, des globalisierten Irrsinns unkontrollierter Finanzmärkte, der hemmungslosen Profitgier Einzelner und der törichten Regierungen dieses Planeten.

Uff, beinah vom Thema abgekommen. Ein anderes Beispiel von Bildungsentertainment: Vor Jahren haben das Goethe-Institut und der Deutsche Sprachrat  nach dem besten eingewanderten Wort gesucht. Rund 3500 Menschen beteiligten sich am ersten Wettbewerb. Am häufigsten vorgeschlagen wurden Fisimatenten und Tohuwabohu. Das beste eingewanderte Wort wurde dann in Berlin gekürt. Finanziert hat der deutsche Steuerzahler diese prächtigen Fisimatenten, wie immer, wenn Wörter gekürt und prämiert werden wie Thüringer Würste, auch die Wörter und Unwörter des Jahres. Erfreulich ist die Tatsache, dass sich immer nur wenige tausend verwirrte Bürger an der Wortwurstwahl beteiligen. Doch wie klein das öffentliche Interesse an derlei Schnickschnack ist, wie mausklein der Erkenntnisgewinn, das hindert unsere Qualitätsmedien nicht daran, darüber zu berichten. So werden total überflüssige Themen gemacht, und für die massenhafte Verbreitung dieses Quarks werden lebendige Bäume gefällt, bis die Erde nur noch ein einziges Tohuwabohu ist, nämlich wüst und leer. Dabei hätte es im Falle von Tohuwabohu und Fisimatenten gereicht, Bettlaken aus den Fenstern der Goethe-Institute  zu hängen.

Zerknalltreibling, Zerknalltreibling

Zounds! Ohne erkennbaren Anlass ging mir nach dem Aufwachen das Wort „Zerknalltreibling“ durch den Kopf. Zerknalltreibling, was is’n das? Na, das deutsche Wort, mit dem der Allgemeine Deutsche Sprachverein im Nationalsozialimus das Fremdwort „Automobil“ ersetzen wollte. „Ts, Ts“, findet der gemeine Zerknalltreiblingsbesitzer, „glücklicherweise ist der Allgemeine Deutsche Sprachverein längst Geschichte, die gerechte Strafe für den perfiden Anschlag auf mein heiliges Automobil.“ Zu früh gefreut, den Verein gibts noch, nur im Tarnmäntelchen. Er heißt heute: Gesellschaft für deutsche Sprache (GfdS).

Über die Aufgaben und Ziele schreibt die GfdS auf ihrer Homepage: „Die Gesellschaft für deutsche Sprache (GfdS) ist eine politisch unabhängige Vereinigung zur Pflege und Erforschung der deutschen Sprache. Seit ihrer Gründung im Jahre 1947 sieht sie es als ihre Aufgabe an, in der Öffentlichkeit das Bewusstsein für die deutsche Sprache zu vertiefen und ihre Funktion im globalen Rahmen sichtbar zu machen. (…)“

Anders als der Verein behauptet, wurde er nicht im Jahr 1947, sondern bereits 1885 als Allgemeiner Deutscher Sprachverein gegründet, unter Vorsitz des Braunschweiger Museumsdirektors Hermann Riegel. Ziel war die Reinigung der deutschen Sprache von Fremdwörtern. Der Kölner Germanist Fritz Tschirch schreibt, mit Riegels Vorsitz sei dem Sprachverein der „Fluch des Dilettantismus in die Wiege gelegt“, dem sich der Verein nie mehr zu entziehen vermocht habe. Das Publikationsorgan des Vereins war die „Muttersprache“. Freudig begrüßte die „Muttersprache“ im April 1933 die Machtergreifung durch die Nationalsozialisten. Bis 1939 trieb der Allgemeine Deutsche Sprachverein exzessive Fremdwortjagd. Neben den skurrilen Eindeutschungsvorschlägen zu Automobil (Zerknalltreibling) oder Elektrizität (Bern); (E-Lok = Bernzieh) gebar der Verein auch ein wunderbar selbstentlarvendes: aus Profil sollte Gebüge werden. Ja, das kann man sich fein vorstellen, wie im 3. Reich die Menschen mit Profil durch die hundsföttisch Gebogenen verdrängt wurden. Dem Verein nutzte alle Kriecherei nichts. Mit dem von Hitler per Erlass verfügten Verbot der Fraktur und der Umstellung auf Lateinschrift kam 1940 auch das Aus für die Fremdwortjagd. Das Vereinsblatt „Muttersprache“ war schon im Jahr zuvor verboten worden. Der Verein war den Nazis mit seiner provinziellen Deutschtümelei peinlich geworden.

Im Jahr 1947 konstituierten sich die alten Herrschaften wieder, unter dem neuen Namen „Gesellschaft für deutsche Sprache“. Das Vereinsblatt heißt noch immer „Muttersprache“ und rügt weiterhin den Fremdwortgebrauch. Deshalb gilt nach wie vor Adornos Befund: „Fremdwörter sind die Juden der Sprache.“

Wie die Kleingärtner alljährlich ihre dicksten Kohlköpfe herzeigen, so präsentiert die GfdS traditionell „Wörter und Unwörter des Jahres“ und eine Hitparade der Vornamen. Finanziert wird die Spielerei zu 80 Prozent aus öffentlichen Mitteln. Immer wieder mischte sich die GfdS auch in die Diskussionen um Orthographiereformen, und man gestattet ihr sogar, Vertreter in den Rat für deutsche Rechtschreibung zu entsenden. Ebensogut könnte man den Kleingärtnern erlauben, den Regenwald zu jäten.

Womit wir bei der aktuellen Klimadiskussion angekommen sind. Zerknalltreiblinge stehen die meiste Zeit rum und blockieren unverschämt den öffentlichen Raum. Wenn sie bewegt werden, lärmen sie, verpesten unsere Atemluft, heizen das Klima auf und  gefährden Mensch und Tier. In 50 Jahren werden sie hoffentlich ganz aus dem öffentlichen Leben verschwunden sein. Aber was ist mit den großen fetten Zerknalltreiblingen, deren Schöpfer und Besitzer den Knall schon verinnerlicht haben? Hier wäre ein kollektiver Zerknall ganz hübsch. Ich würde es so gern noch erleben.

Von der Musik der Schnellwege in Hannover

Im Von-Alten-Garten sehe ich seit Wochen eine Gruppe junger Mütter mit Kinderwägen bei der Gymnastik. Kürzlich standen sie alle auf einem Bein und hoben beidhändig kleine Hanteln. Ich finde das überaus löblich, weniger die Gymnastik, mehr noch dass die Übungsleiterin für ihre Gymnastikgruppe immerzu eine Stelle nah am Westschnellweg wählt. Am anderen Ende des Parks würde der Autolärm nicht mehr so ungebremst herüber branden. Für die Säuglinge in den Wägen ist es besser, wenn ihre Mütter sie direkt neben dem Schnellweg abstellen. So werden sie schon früh an Hannovers Autolärm gewöhnt, so dass sie später ihre Erholung nah an einem der unzähligen Schnellwege finden können. Wie gut die Anpassung gelingt, beweisen Hannovers Jugendliche. In den Leineauen liegend, reichern sie den Lärm des nahen Schnellwegs noch durch Musik kraftvolles Wummern aus dem Ghettoblaster an. Das richtige Wohlgefühl stellt sich nämlich nur ein, wenn die ätzenden Geräusche der Natur nicht störend dazwischenfunken, sollte sich im Verkehrslärm einmal eine kriminelle Lücke auftun.

Doch zurück zur lärmpädagogischen Früherziehung. Hannovers fürsorgliche Stadtmütter und -väter haben keine planerische Anstrengung gescheut und im dicht besiedelten Gebiet vom Von-Alten-Garten bis zur Leinebrücke am Schnellweg entlang nicht weniger als fünf (!) Kinderspielplätze, zwei Kindergärten, eine Kindertagesstätte und drei Schulen erbaut. Man möge mich korrigieren, wenn es mehr sind.

„Wie bitte?! Aufs Stadtgebiet gerechnet, sind es natürlich deutlich mehr!“, tönt ein Sprecher der Stadtverwaltung stolz. Schließlich habe man die gesamte Stadt einschließlich aller Parks, Landschaftsgärten und dem Stadtwald durch ein ausgeklügeltes System von Schnellwegen lärmtechnisch erschlossen. Aber man könne von einem Zugezogenen wie mir nicht erwarten, dass er in Gänze überblickt, worin das Alleinstellungsmerkmal der Stadt Hannover gründet. Lärmwissenschaftler hätten Hannover nicht umsonst das Prädikat „lauteste Stadt Deutschlands“ verliehen. Man habe von Seiten der Stadtverwaltung jedenfalls sichergestellt, dass Hannovers Kinder beizeiten taub werden. Passenderweise beherberge man in der Stadt einen weltweit führenden Hörgerätehersteller mit dem treffenden Namen „Kind.“ „Ein bisschen Wirtschaftsförderung muss sein“, grinste der Sprecher der Stadtverwaltung schlau. Schließlich sei der Besitzer dieses segensreichen Unternehmens in Hannover ein wichtiger Mäzen. Sprachs, drehte den Regler seines Ghettoblasters auf und balancierte geschickt auf einem Bein, um beidhändig kleine Hanteln zu heben.

Schräg – Eine Allegorie

Vorbemerkung:
Eigentlich sollte das hier ein schöner Reisebericht werden, der auf ein erfreuliches Wiedersehen hinausläuft. Doch der Text wollte in eine andere Richtung, und nachdem ich ihn eine Weile hatte gewähren lassen, wandelte er sich zu einer Allegorie meines Lebens. Ich widerstand der Versuchung, ihn von hinten aufrollend zu überarbeiten, sondern ließ den Anfang wie er war, bevor der Text seine Eigendynamik bekam. Über das Wiedersehen und eine Erkenntnis, die sich daran anschließt, dann später.

Der Bus holperte über Land. Ich sah aus dem Fenster und versuchte mich zu erinnern. Hier war ich einst unterwegs gewesen, kannte die Dörfer und ihre Straßen, aber in der Erinnerung war alles dichter beieinander. In der Realität des sonnigen Nachmittags entrollten sich die Wegstrecken und beanspruchten ihre tatsächliche Länge. Dann bog der Bus ins Dorfzentrum ein, und ich musste aussteigen. Ich hatte noch ein Stück zu laufen bis zum Institut im Nachbardorf. Zuerst galt es eine Bahnlinie zu überqueren, deren Schranken für immer senkrecht gestellt waren. Ihre rotweiß gestreiften Stangen bildeten einen hübschen Kontrast zum Grün des Buschwerks, das dabei war, den Gleiskörper zu überwuchern. Die Straße führte steil hinab. Ich wusste, dass im Talgrund unten scheinheilig brav ein Bächlein plätscherte, das mit seinem unentwegten Fließen über Jahrtausende das Tal geformt hatte. Auch an seinem Hang entrollte sich mir der Weg, wand sich um Kurven und wollte kein Ende nehmen. Hübsche Einfamilienhäuser entlang der Straße zeigten, dass man sich mit der Steilheit des Wegs arrangiert hatte. Eine wirklich dicke Frau inmitten ihres Gemüsegartens grub mit einer Hacke Kartoffeln aus. Schaudernd betrachtete ich das hochgereckte Hinterteil in der ausgebeulten grauen Jogginghose, bis die Frau sich aufrichtete, ihre Stirn wischte und sich nach mir umsah, als wären meine abfälligen Gedanken wie Hiebe auf Ihr Gesäß niedergegangen.

Wenn mich da andere Einwohner wahrnahmen, dann blieben sie versteckt hinter den Gardinen ihrer Fenster. Ich bemühte mich um einen beschwingten Schritt, wunderte mich aber, dass ich trotzdem den Talgrund nicht erreichte. Wüsste ich nicht von seiner Existenz, würde ich mich nicht erinnern an die Mauer aus Bruchsteinen, die den Bach flankiert, ich würde fürchten, vor Einbruch der Dunkelheit nicht unten anzukommen. Eine Weile gruselte ich mich bei der Vorstellung, es würde immer tiefer und tiefer hinabgehen. Der Talgrund wäre im Hellen nicht mehr zu erreichen. Ab und zu kämen von unten Autos herauf. Sie würden hupend an mir vorbeifahren, und ihre Insassen würden abwehrend winken, so als wollten sie mich warnen. Weiß Gott, dachte ich, diese Winkerei schafft mich. Würde doch ein Auto mal anhalten, und der Fahrer sich erklären. Da! Einer drosselt sein Tempo. Wie er auf meiner Höhe ist, ruft er durch die geschlossene Scheibe auf der Beifahrerseite: „Darf nicht halten! Kehrsachen!“
„Kehrsachen?!“
„Kehrtmachen! Umkehren!“
„Wieso?!“
Die Antwort kann ich nicht mehr hören, weil ihn der schwere Wagen vorwärts reißt. Ich drehe mich um und schaue dem Auto hinterher bis die Rückleuchten hinter einer Kurve verschwinden. Erstaunt nehme ich wahr, dass inzwischen die Dämmerung herabgesunken ist. Natürlich! In Tälern geschieht das früher als auf den Höhen! Im Dämmer wirken die Häuser an der Straße schäbig. Nein, sie wirken nicht so, sie sind schäbig, neigen sich windschief der Steigung zu. Durch eines geht ein Riss vom Dach bis zum Gehsteig. Der hintere Teil des Hauses hat die Neigung nicht mitgemacht. Ich kann durch den klaffenden Riss in eine Wohnküche sehen. Drei Teller auf einem Tisch. Eine hübsche Frau steht schräg zu mir hantierend am Herd und schaut über ihre Schulter zurück mir direkt in die Augen. Aus drei Töpfen brodelt und zischt es. Sie hebt die Deckel an und ruft: „Komm rein und iss mit uns! Ich habe hier Kartoffeln, Gemüse und Schweinebraten. Das ist so lecker, da könnt‘ ich mich reinsetzen!“
„Na, wenn schon!“, murmele ich und will mich vorbei stehlen, gehe einen Schritt, nein, ich stolpere vorwärts, denn die Steilheit hat plötzlich zugenommen. Ich rutsche weg und lande unsanft auf dem Hintern. Gerade kann ich noch ein paar rote Stockrosen erwischen, die sich aus einer Bodenritze erheben, und mich festhalten. Es kugelt mir fast den Arm aus. Da ist ein Richtungswechsel nötig, weiß ich und kämpfe mich aufwärts. Die Frau sieht mir weinend hinterher. Das tut mir so unendlich leid. Doch ich muss wieder Boden unter die Füße bekommen und will zurück ans Licht.

Von der Kontextabhängigkeit des Denkens

Kürzlich hat mich ein Aachener Freund besucht. Eines Abends saßen wir in meinem Viertel vor einem Restaurant. Plötzlich kam ein beschwingtes Paar die Straße herunter. Neben dem großgewachsenen Mann erkannte ich vage meine Ärztin. Eigentlich erkannte ich sie nicht, nur eine Ähnlichkeit. Sie wirkte auf mich wie ihre jüngere Schwester. An einer Fußgängerampel blieben beide stehen. Sie hatte mich auch entdeckt und schaute herüber. Ich war zu verblüfft, ihr zuzuwinken, was ich gerne getan hätte, zweifelte aber zu lange an ihrer Identität, denn ich hatte sie noch nie außerhalb ihrer Praxis gesehen. Wochen später kam mir auf meinem Nachhauseweg eine Frau in senfgelber Uniformjacke entgegen. Erst als wir aneinander vorbeigingen, erkannte ich sie, wusste aber erst nach unserem Gruß, wer sie war, nämlich die Arthelferin in der Praxis von besagter Ärztin. Hier kam die senfgelbe Uniformjacke erschwerend hinzu, denn ich musste zuerst realisieren, dass in Hannover-Linden Schützenfest war, was ich bislang ignoriert hatte. Senfgelb ist zudem nicht unbedingt die Farbe der Schützen. Die Jacken sind gemeinhin grün, unterscheiden sich allenfalls in der Schattierung.

Die Beispiele zeigen, was vermutlich jede/jeder schon erlebt hat, wie schwer Menschen zu erkennen sind, wenn sie außerhalb gewohnter Kontexte auftreten. Bei uns eng vertrauten Menschen fällt das nicht auf, weil wir sie in vielen Kontexten kennen.

Schon der britische Kognitions- und Kreativitätsforscher Edward de Bono hat modellhaft gezeigt, wie sich menschliches Denken in Mustern organisiert. Diese Muster sind nicht räumlicher Art, sondern miteinander vernetzte Informationen. Sie ergeben ein Gesamtbild, so dass der Aufmerksamkeitsfluss des Denkens nur eine Information berühren muss, um das Gesamtbild zu aktivieren.

Vor einer Weile habe ich einen Berufstouristen geschildert, der mir mit seinen Reiseberichten auf den Nerv ging. Nach allen Ferien lungerte der Kollege herum auf der Suche nach Opfern, denen er seine verbale Diashow vorführen konnte. Oft dachte ich, wie kommt es wohl, dass du nach all den Reisen noch den gleichen dummen Kopf hast? Natürlich ist mein Urteil dem Kontext geschuldet, der Wahrnehmung des Mannes als jemand, der nie zu Hause ist, sondern geistig in der letzten Reise verharrt oder schon die nächste Reise vorwegnimmt. An mir selbst merke ich, dass ich nach jeder Reise gedanklich wirr im Kopf bin.

Als ich kürzlich ein Geschenk einpacken wollte, habe ich mit Papier, Klebeband, Stiften, Lineal, Schere, Cutter und Klebestick ein unglaubliches Chaos angerichtet, ohne erfolgreich gewesen zu sein. Statt die erforderliche Geduld aufzubringen, bin ich am Ende noch zu einem Kaufhaus gerannt und habe eine Geschenktüte gekauft. Als ich dann zu Hause alles notdürftig beschriftet und eingetütet hatte und endlich aufbrechen konnte, sah ich fassungslos auf das Durcheinander, das ich angerichtet hatte. Eigentlich kann man meine Wohnung nur noch sprengen, dachte ich. Oder ich schiebe alles unters Sofa wie die sprichwörtlichen Hempels. Wie unter deren Sofa sieht es aus in meinem Kopf, wenn ich von einer Reise zurückkehre. Meine Aufmerksamkeitsfluss hoppelt kurzatmig von einer Ideeninsel zur nächsten, aber nichts will sich fügen. Es braucht Wochen, bis sich alle Eindrücke sortiert haben und ich wieder in gewohnten Kontexten denken und wahrnehmen kann. Sie haben sich dann naturgemäß erweitert, und wenn es landläufig heißt, dass Reisen bildet, dann geht es um die Erweiterung von Wahrnehmungs- und Denkmustern. Eine Überfülle an Erlebnissen erfordert große Muße zur inneren Sammlung und Verortung der neuen Informationen.

Wahrnehmen in Kontexten findet seine Entsprechung im Denken in Kontexten. An anderer Stelle habe ich schon darauf hingewiesen, dass der Mensch nicht nur mit seinem Kopf denkt, sondern mit seinem ganzen Körper. Die Idee zu erweitern, hieße, dass der Mensch mit seinem gesamten Umfeld denkt. Deshalb mag ich das gewohnte Umfeld kaum verlassen. Es bereitet mir nämlich Verdruss, wenn es in meinem Kopf so unaufgeräumt aussieht. Daher konnte ich das hier leider nicht kürzer sagen.

intergalaktische flaschenpost

Fluch der verschrobenen landessprache mit ihren wahnwitzigen ausnahmeregeln! Was heißt regeln? nein, es geht ja alles weitgehend regellos zu in ihr. Trotzdem habe ich sie inzwischen gelernt, bin ja notgedrungen lange genug hier, und kann meinen bericht in ihr verfassen, und zwar indem ich mit einem finger auf einem tastenbord tippe. Der verrückten landessitte, bestimmte wörter mit großen buchstaben zu schreiben, die sich erzeugen lassen, indem man mit einer taste zu ihnen umschaltet, werde ich mich jedoch entziehen. Denn mein bericht ist doch eher nicht für die augen der heimischen spezies gedacht, wenngleich mir nur deren winziger wortschatz zur verfügung steht. Weshalb ich auch freiweg meinen unwillen loswerden kann. Fluch über dich, du miser galaktischer kontrolleur, du sohn eines stinkenden raketenwurms, der du mich in diesem raumsektor vor die tür gesetzt hast, nur weil ich versehentlich den falschen beförderungsschein gelöst hatte. Möge das große loch dich verschlingen. Woher hätte ich wissen sollen, du uniformierter clown, dass ich für mein angestrebtes reiseziel ein anthrazitfarbenes interzonenticket benötige, mein rosafarbenes aber nur bis zu diesem gelumpe von einem planeten erde reicht, wo man mich gezwungen hat auszusteigen. Dazu mir „intergalaktische beförderungserschleichung“ vorzuwerfen, ist der gipfel der impotenz, äh, impertinenz. Ich könnte .. 3wesän@rw axgwu0 … und sage äeaxgkwxjwb!!!

natürlich gibt es auch auf diesem planeten eine nebenstelle der galaktischen registratur. Ich musste, um sie aufzusuchen, auf dem bauch in einen sich trichterförmig verjüngenden dachsbau kriechen, wobei ich platzangst bekam und mich erbrach, weshalb ich dann völlig derrangiert vor den zuständigen unterbeamten trat. Dieser kerl interessierte sich jedoch kaum für mein problem, sagte jedoch, dass es auf diesem planeten jeder zu reichtum bringen könne und zwar durch tellerwaschen.
„VOM TELLERWÄSCHER ZUM MILLIONÄR“
„Nur teller?“, habe ich gefragt.
„No, sir, tassen und anderes essbesteck natürlich auch.“
„Wie soll das gehen“, fragte ich. Genau wisse er das auch nicht, aber er könne sich das wohl so vorstellen. Angenommen, da wäre ein berg von geschirr und besteck. dann bekäme ich für jedes teil, das ich abwasche, den doppelten betrag von x, also 1+2+4+8+16 usw. Wenn die letzten löffel abzuwaschen sind, würde mir jeder löffel, den ich noch aus dem spülwasser fische, bereits mehr millionen bringen, als ich überhaupt für die passage zu meinem heimatplaneten bräuchte. Bei 27 teilen hätte ich bereits über 67 millionen.

„Das ist die theorie“, sagte er.
„Und die praxis?“
„Die muss von ihnen kommen. spülen sie, spülen sie, dann können sie eine interstellare fahrkarte für die spiralnebelzone 2 bald locker bezahlen.“

[Wie ich mir versüßte, dass ich heute Nachmittag endlich den Berg schmutziges Geschirr abgewaschen habe.]

Das Gesicht des Büttels – leiser Horror

Es ist schrecklich, auf den Gerichtsbüttel zu warten. Er ist schon unterwegs. Obwohl die Sonne lacht, wirft die Ahnung einen Schatten auf mich und verdunkelt mein Gemüt. Richtet dieser schreckliche Mensch seine mitleidslosen Augen schon auf meinen unglücklichen Nachbarn, derweil er ihm die Daumenschraube fester zieht, um zu sehen, was aus ihm herauszuquetschen ist? Diese Büttelhand, jederzeit bereit, Schreckliches zu tun, vielleicht schwebt sie bereits über meiner Klingel und wird sie, wenn nicht in dieser Sekunde, dann in der nächsten lang und anhalten pressen.

Ich weiß nicht, wo ich mich lassen soll, denn egal wo ich bin, entrinnen werde ich nicht. Eine Weile bin ich hin und her gegangen, habe sogar gewagt, aus dem Fenster zu schauen. Da sah ich eine gut gekleidete Frau, die ihre blonden Haare sorgfältig zu einem Zopf geflochten hatte, eine durchaus angenehme Erscheinung, hätte sie nicht einen kleinen gescheckten Hund an der Leine gehabt und ihm aufmerksam zugeschaut, wie er seine Notdurft im Eingang des Kinderspielplatzes verrichtete, danach mit seinen stummeligen Hinterbeinen scharrte, so dass Erde und kleine Blätter aufstoben. Da hoffte ich, just in diesem Moment würde der Gerichtsbüttel um die Ecke biegen und „Eingehalten!“ donnern, den leer geschissenen Hund noch im Scharren ergreifen und mitsamt seiner zuckenden Beinchen in die braune, lederne Gerichtsbütteltasche quetschen. Und sie stockstarr und stumm vor Entsetzen, sie würde er mit harter Hand beim Haarstrang packen und die Straße hinunter zum Gericht schleifen, mich hingegen vergessen.

Es kann dem Gerichtsbüttel doch egal sein, wen er der unerbittlichen Gerichtsbarkeit unterwirft. Und ist nicht mein Vergehen klein genug, dass man es vergessen könnte? Was habe ich denn getan? Nichts. Ich habe nichts getan, aber das … Da! Die Klingel schnarrt! Ich muss den Hörer abheben. „Aufmachen! Schnell!“, sagt er, „ich komme von der Obrigkeit.“ Es hilft doch nichts, er will herein. Die Obrigkeit schickt ihn, und wer wagt schon, sich gegen die Hohen Herren zu stellen. Man hat Mittel, das weiß jedes Kind.

Er kommt die Treppe herauf, runde, weiche Gesichtszüge, ein gutes Gesicht. Die mit dem guten Gesicht sind gewiss die Schlimmsten. Du bist ihnen noch dankbar, wenn sie dich martern, denn sie schauen dich an mit ihrem guten Gesicht und du denkst, es muss richtig sein, was die Obrigkeit mir antun lässt. Denn könnte der Büttel sein gutes Gesicht bewahren, hätte er mit Unschuldigen zu tun?

Ich bitte ihn herein und an den Tisch, setzte mich selbst an das Kopfende, und er nimmt den Stuhl an der Breitseite an. Was will er? Mich zur Rechenschaft ziehen, ersatzweise mein gesamtes Geld.
„Sie sind dran!“, sagt er, „auch wenn Sie unschuldig sind.“ Ich frage: „Habe ich ein Widerspruchsrecht?“ „Nein“, sagt er, „der Christian Wulff hat es abgeschafft, als er hier Ministerpräsident war. Alle denken, der ist ein Depp, weil er sich als Bundespräsident so dumm verhalten hat, aber als es darauf ankam, die Rechte der Bürger zu beschneiden, da hat er eiskalt dafür gesorgt, dass die Leute mit ihren Sorgen und Nöten allein stehen. Erfüllungsgehilfen wie er reden vom schlanken Staat, doch meinen den schwachen Staat, in dem die Gesetze gemacht werden für die Obrigkeit. Aber was wundern Sie sich? Ist es nicht immer so gewesen? Sie wählen, aber das tauscht nur die Köpfe aus. Die hier das Sagen haben, brauchen Repräsentanten, und sie suchen sich nicht die Besten aus, sondern die Dummdreisten, die es nach Macht gelüstet und die bereit sind, das Volk zu knechten. Hören Sie nicht auf ihre Reden, glauben Sie nicht, was ihre Vasallen, Mietmäuler und Speichellecker sagen. Und schaffen Sie bloß Ihr Fernsehgerät ab! Es ist die Maschine, mit der Ihr Gehirn gewaschen wird.“

„Aber Herr Büttel, was reden Sie da? Wenn Sie so weiter machen, wird man einen Grund finden, Sie zu erschießen.“
„Ja, so wird es wohl kommen, wenn ich mein Gesicht behalten will“, sagt er düster, nimmt mein Geld und geht davon.