Die immergrüne Kletterpflanze Efeu hat einmal Ep-heu geheißen und wurde mit Recht so geschrieben, denn Epheu stammt vom ahd. ebihouwi (Reiterpflanze) ab. Das ph wurde als griechisches Φ (Phi) verlesen und fälschlich zum f eingedeutscht, was den Lautwandel mit sich brachte. Sagst du: „Ep-heu ist die Arzneipflanze des Jahres 2010“, weiß niemand, was gemeint ist. Es geht aber noch absurder: Das Wort Maulwurf lässt uns fälschlich glauben, das Tierlein würde die Erdhügel in der Wiese mit dem Maul aufwerfen. Unsere Ahnen nannten den Maulwurf noch mūwerfo (ahd.) ‚Haufenwerfer‘. Die Nachfahren machten daraus „Moltwurf“ (mhd.) ‘Erdwerfer’, und in jüngerer Zeit wurde daraus missverstanden ‘Maulwurf’. Denn selbstverständlich gräbt der Maulwurf seine Gangsysteme nicht mit dem Maul, sondern mit den kräftig ausgebildeten Schaufelhänden. Kurios ist auch die Entstehung des Wortes Zenit. Es ist entlehnt aus dem Arabischen. Da heißt es samt. Da die arabische Schrift eine Konsonantenschrift ist, wurde es im Italienischen zu „Zemt“. Der Überlieferung nach führte Fliegendreck über dem 3. Beinchen des m*) dazu, dass es zu i verlesen wurde. Zenit tönt viel schöner als das einsilbige Zemt. Wer hätte gedacht, dass ein Fliegenschiss solchen Wohlklang hervorbringen kann. Weiterlesen
Monat: Mai 2016
Trocken oder nass – Wo beten nicht hilft
Wenn Frühling und Sonnenschein mich locken, fahre ich mit dem Rad durch den Georgengarten zur Mensa auf dem Conti-Campus. Ich muss freilich vor 12 Uhr da sein, denn zwischen 12 und 13 Uhr wird es schlagartig derart hömmele voll in der Contine, das es schwer ist, einen Platz zu finden. Letztens saß ich dicht an dicht mit welchen, die ihrem geschniegelten Auftreten nach von der Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät hereingeschneit waren. Aus dem allgemeinen Lärm wehten gelegentlich Gesprächsfetzen an mein Ohr. Man sprach tatsächlich über Tischgebete.
Einer verkündete, dass bei ihm zu Hause keine Mahlzeit ohne Tischgebet denkbar wäre. Und er sagte eines auf, das offenbar exemplarisch war: „Komm, Herr Jesus, sei unser Gast und segne, was du uns bescheret hast.“ Die dabei sitzende Studentin staunte und schwieg andächtig. Da wollte sich ihr Gegenüber ein bisschen locker hervortun und sagte, sein Vater würde so beten: „Trocken oder nass, deo gratias!“ fertig.
“Trocken oder nass”? Tischgebete beziehen sich in der Regel auf den Gegenstand der Mahlzeit. Gläubige Menschen danken Gott für das, was sie auf dem Teller haben. Bei welchen Gerichten stellt sich denn die Frage nach trocken oder nass? Ich kam nicht gleich drauf, aber es ist Hunde- und Katzenfutter. Man hat ja schon mal gehört, dass manche aus den besseren Kreisen ziemlich geizig sind. Dass welche im dicken Mercedes bei Aldi vorfahren, geht ja noch, aber kann Gott es gut heißen, wenn die Herrschaften armen Rentnern das Futter streitig machen? Was war das hier für ein wunderliches Völkchen?
Ich weiß natürlich nicht wirklich, ob sie Wirtschaftswissenschaft studieren, dachte aber es würde schon passen, denn diese seltsame Studienrichtung hat viel mehr mit Glauben als mit Wissenschaft zu tun. Schon allein, dass man bis zum Ausbruch der Finanzkrise unverbrüchlich an die “Unsichtbare Hand” geglaubt hat, die den Markt regelt und all die Verrücktheiten ausgleicht, die geldgierige Menschen angerichtet haben, ist ja ein verkappter Gottesglaube. Und wenn deutsche Ökonomen unverdrossen propagieren, dass der Sparkurs für die in Schwierigkeiten geratene Mittelmeerländer das einzige Heilmittel wäre, obwohl doch die reale Entwicklung zeigt, dass deren Bevölkerung verelendet, die Wirtschaft schwindet und die Schulden wachsen, dann hat es wohl was mit Aberglauben zu tun, nah am Irrsinn. Den nämlich definiert Albert Einstein so: “Wahnsinn ist, immer wieder das Gleiche zu tun und andere Ergebnisse zu erwarten.” Sollte Katzenfutter, trocken oder nass, nicht munden, muss man es ohne Not kein zweites Mal probieren. Da hilft nicht mal beten.
Musiktipp
The Mighty Mighty Bosstones
The Impression That I Get
Deutschland zum Spartarif – schön schäbig
Eine Ärztin schickte mir die Mahnung einer zehn Monate alten Rechnung, von der ich dachte, sie längst bezahlt zu haben. Dann konnte ich aber keine Unterlagen über den Bezahlvorgang finden und überwies den Betrag sofort, denn die Sache tat mir leid, vor allem der sozialen Härten wegen, denen sie vermutlich durch meine Säumigkeit ausgesetzt gewesen war. Deshalb hatte sie die Mahnung auch durch den privaten Postdienstleister zustellen lassen. Die 40 Cent für eine Briefmarke der blauen City-Post hatte sie vermutlich gerade noch zusammenkratzen können. Wie traurig. Und ich hatte dem Briefträger nicht mal aufgemacht, als er bei mir klingelte, um an die Hausbriefkästen zu kommen.
Das mache ich aus zwei Gründen nicht. Erstens ist meistens ein Mitbewohner des Hauses schneller als ich, so dass der Briefträger schon im Hausflur unten hantiert, wenn ich den Hörer der Sprechanlage am Ohr habe, zweitens mag ich seine Stimme nicht hören, in der immer ein Anflug von stillem Leid mitschwingt. Nur kurz nach Weihnachten klang sie kräftiger, und ich dachte, aha, er hat über die freien Tage Kraft getankt, guckte mal aus dem Fenster, und dann war er es gar nicht gewesen, sondern der Briefbote der gelben Post. Es strampeln nämlich am Vormittag zwei Briefträger durch die Gegend, einer von der blauen Citypost und ein gelber von der Deutschen Post. Der Gelbe mit der kräftigeren Stimme verdient mit 1800 Euro etwa 600 Euro mehr als sein blauer Kollege. Was will man machen? Botendienste können eben nicht besser bezahlt werden. Es ist ja fast nur Beinarbeit. Die Kopfarbeiter dieses Dienstleisters müssen schließlich angemessen bezahlt werden, und für die Kapitaleigner muss auch noch ein bisschen was übrig bleiben, was sich lohnt, der Steuer zu hinterziehen.
Kein Geld für eine Jacke? Kann sich abstrampeln – Foto: Trithemius
Eigentlich verdient der von der blauen Post nicht zu wenig, sondern der von der gelben Post viel zu viel, noch von den Zeiten her, als der Postdienst eine hoheitliche Aufgabe war, die von Beamten wahrgenommen wurde. Entsprechend prächtig und repräsentativ waren die alten Postgebäude, in deren Hallen man sich ganz klein vorkam. Die Zeiten sind glücklicher Weise vorbei. Die alten Postgebäude sind längst an Investoren verhökert, die Deutsche Post hat ihre Filialen überwiegend in piefige Zeitungsläden verlegt, und die Postboten der blauen Post sortieren die Post überhaupt bei sich zu Hause am Küchentisch. Man kann sich ungefähr vorstellen wie es zu Hause bei einem aussieht, der grad mal 850 Euro netto verdient. Das reicht vielleicht nur für ein ungeheiztes Zimmer und Klosett. Da steht der Tisch neben Klo und Bett, wenn es einen gibt. Aber auf dem Bett ist sowieso mehr Platz zum Sortieren als zwischen Toastbrot und Aldi-Marmelade. Zur Not ist da noch der Klodeckel.
Ist es nicht wunderbar, wie die einst so arrogante und selbstherrliche Post zurückgestutzt wurde auf Verhältnisse, die an das 18. Jahrhundert gemahnen, wo selbst Lehrer so schlecht bezahlt wurden, dass sie im Klassenraum, in dem sie auch wohnten, noch eine Ziege halten mussten. Das wäre doch mal ein Idee, die sich wiederzubeleben lohnt. Oder lieber doch nicht. Am Ende frisst die Ziege den Brief oder er riecht ein bisschen streng. Und ich bekomme von meiner durch meine Schuld verarmten Ärztin eine Mahnung, die ich nur mit ausgestrecktem Arm lesen mag. Dann fällt mir vielleicht gar nicht auf, dass sie mir bei 40 Cent Porto nur 2,50 Euro Mahngebühr berechnet hat. Deutschland herrlich Billigland!
Wissenswertes und Unterhaltsames vom Dienstag
Gleipnir hieß der magische Faden, mit dem die germanischen Götter des Geschlechts der Asen den Fenriswolf gefesselt haben. Gleipnir war unsichtbar. Die Zwerge hatten ihn geflochten aus lauter Dingen, die es seither nicht mehr gibt, aus den Wurzeln der Berge, dem Trittgeräusch der Katze, den Bärten der Frauen, dem Atem der Fische und dem Speichel der Vögel. Der Fenriswolf war den Asen zu groß geworden, so dass man sich vor ihm fürchtete. Alle vorherigen Versuche, ihn zu fesseln, waren gescheitert. Er hatte selbst die schweren Ketten Leding und Dromi zerrissen. Als die Asen mit Gleipnir an den Fenriswolf herantraten, wurde er misstrauisch und wollte sich nicht binden lassen. Die Götter versprachen, ihn wieder zu befreien, sollte sich Gleipnir als unzerreißbar erweisen. Der Fenriswolf traute ihnen aber nicht und verlangte eine Garantie.
Der Kriegsgott Tyr legt ihm zum Pfand die rechte Hand ins Maul. Weil Gleipnir standhielt, die Götter sich aber weigerten, den Fenriswolf wieder loszubinden, biss er Tyr die rechte Hand ab, genau am Handgelenk, weshalb der dort am Außenriss zu tastende Knochen Tyrsknochen heißt. Was hat der Tyrsknochen mit dem Dienstag zu tun, diesem Untag, diesem Tag nicht Fleisch nicht Fisch? Der Dienstag ist genauso nach dem einhändigen germanischen Kriegsgott Tyr (auch Tiwaz, Tiu, Dies, bei den Römern: Mars) benannt wie der Knochen am Handgelenk, was freilich versinkendes Wissen zu sein scheint. Vier Einträge findet Google zum „Tyrsknochen“, drei sind von mir.
(Bildquelle: Wikipedia)
An diesem Dienstag heißt eine Kurzgeschichte aus dem 2. Weltkrieg von Wolfgang Borchert. In einer Episode wird ein Leutnant an der Front zum Nachfolger seines erkrankten Hauptmanns ernannt. Obwohl er ermahnt wurde, im Dunkeln nicht zu rauchen, zündet sich der Leutnant eine Zigarette an und wird prompt von einem Scharfschützen erschossen. „Nach dem Motto zum einen Ohr rein, zum anderen raus“, schrieb mal ein Schüler von mir in einem Aufsatz, womit er natürlich die ausgeschlagene Mahnung meinte, aber ungewollt eine ulkige Stilblüte schuf, die ich nie vergessen werde. Dieses ungewollt Komische ist irgendwie typisch für Dienstag.
The Rolling Stones, Ruby Tuesday (1966/67)
Föppes, Pierro und ich – oder: Vakantie, vakantie – Treppe zur Selbstbestimmung
Gut 45 Jahre zurück, Föppes, Pierro und ich, wir stehen auf dem Bahnsteig unseres Dorfes und warten auf den Zug. Man erreicht den Bahnsteig durch einen hässlichen Tunnel. Dort sah ich damals mein bis heute liebstes Graffito. Rechts an der Wand der Bahnsteigtreppe, entlang der ersten Stufen, genau in Augenhöhe, stand in weißer Schrift auf grauem Putz: „Arbeiter, nutze deine Aufstiegschance!“
Über den Spruch des unbekannten kritischen Poeten kann ich heute noch lachen. Er trifft die Realität auf herzlich boshafte Weise, denn er ist zugleich Verhöhnung, bittere Einsicht und Aufforderung.
Es fühlt sich nicht gut an, wenn du Arbeiter bist und an einem grauen Morgen diesen Aufstieg nimmst. Unterm Arm hast du eine braune Ledertasche, und darin liegt kein Marschallsstab, in deiner Tasche stehen ein Henkelmann und eine Thermosflasche. Oben stehst auch du, mitten unter anderen grauen Gestalten. Ihr verkriecht euch in eure Jacken und seid maulfaul. Denn was habt ihr schon zu sagen? Was ihr denkt, ist ohne Belang. Und hier an diesem frühen kalten Morgen, du warst noch schlafwarm als du aus dem Hause gegangen bist, da wird dir die Wärme entzogen, förmlich ausgesaugt vom Morgenwind. Da zeigt sich dir deine Ohnmacht in ihrer Gänze. Du bist verfügt. Andere befinden über dich, und es sind viele: dein Geselle, dein Meister, der Betriebsleiter, der Geschäftsführer, Gewerkschaftler, die Gesellschafter, Politiker und Kapitaleigner. Nur den unteren Vertretern dieser Hierarchie, die sich vor dir auftürmt bis in die Wolken über deinem Kopf, nur den Geringsten von ihnen bist du je begegnet. Die weiter oben thronen kennen dich ebenfalls nicht. Wie sollten sie auch, du bist aus ihrer Sicht viel zu klein.
Du kannst dich mit deinem Los bescheiden. Dann wird das Graffito am Treppenaufgang mit den Jahren immer bitterer für dich. Falls du Chancen hattest, tatsächlich aufzusteigen, dann hast du sie übersehen. Du bist erst später darauf gekommen, was du hättest tun sollen mit deinem Leben. Jetzt hast du keine Wahl mehr, denn du steckst über und über in Zwängen. Das ist gruselig, aber zum Glück gewöhnt sich der Mensch an fast alles.
Wer genug Kraft in sich spürt, wer sich reckt und der Kälte auf dem Bahnsteig Widerstand leistet, der wird sich nach Chancen umsehen, gesellschaftlich aufzusteigen. Das ist dann so, als hätte man dir statt Thermoskanne und Henkelmann Bleigewichte in deine Arbeitertasche gelegt. Eventuell hast du einen langen Atem und kämpfst beharrlich. Dann werden sich auch Glücksfälle für dich ergeben. Je mehr du dich ausbreitest, desto leichter können sich die Umstände zu deinen Gunsten fügen. So schaffst du Platz für dich, und das ist gewiss besser als die tägliche Müh, sich trotz enger Zwänge zu bewegen.
Ach, ich bin ganz vom Thema abgekommen. Wir stehen auf dem Bahnsteig, Föppes, Pierro und ich, wir frieren nicht, denn es ist ein heller Sommermorgen, neun Uhr zehn. Gleich kommt unser Zug, der Nahschnellverkehrszug von Köln nach Roermond. Da werden wir umsteigen in den Zug nach Amsterdam. „Ben jullie op vakantie?“, werden uns einige Mädchen fragen. Und keiner von uns weiß, was vakantie verflixt noch mal bedeutet. Pierro hat Ferien, Föppes und ich, wir haben drei Wochen Urlaub, da will man sich doch keinen Kopp über vakantie machen. Auf dem Bahnsteig unseres Dorfes wissen wir natürlich noch nichts davon. Wir sind einfach nur guter Dinge, hampeln ein bisschen herum und lachen.
Da steht auch ein Alter, schon ausgemustert, und der wird langsam verdrießlich. Er quatscht uns rein und beschwert sich über die Jugend. Auf die „Hippies!”, schimpft er, auf “die Studentens” und auf uns „Gammlers!“ Zum Glück kommt sein Zug und nimmt ihn mit Richtung Köln. Er hat uns mit dem überflüssigen Plural-s ein herrliches Sprachspiel hinterlassen: „Arbeiters nutzt eure Aufstiegschancen!“ Machen wir bald. Aber zuerst besuchen wir „die Holländers“ und besonders die „Mädchens.“ Da lernen wir, dass „vakantie“ „Ferien“ heißt und überhaupt, dass es Spaß macht, Niederländisch zu sprechen. „Der Esel kommt mir vor wie ein Pferd ins Holländische übersetzt“, sagt Lichtenberg. Vielleicht sah das Niederländische aus dem fernen Göttingen tatsächlich so aus. Für uns war die Sprache die Musik unserer Ferien. Und wir gaben uns redliche Mühe, sie nach Noten zu singen, wie sie von den Mädchen vorgesungen wurden.
Kapitaleigner, Finanzjongleure und Wirtschaftskriminelle haben sich im Olymp zu unsern Köpfen ganz nach oben gearbeitet. Ihr Gewicht drückt alles nieder. Das fühlen besonders stark die grauen Gestalten, frühmorgens auf den Bahnsteigen. Doch am stärksten fühlen es jene, die keinen guten Grund mehr haben, überhaupt noch aufzustehen. Alle sind die Opfer von Bezitters, Kassierers und Gangsters. Diese falschen Halbgötter, die den Himmel okkupiert haben, können sich wer weiß was dünken. In Wahrheit sind sie nur Ezeldrijvers, ins Holländische übersetzte Herrenreiter.
Föppes, Pierro und ich, wir hatten keine Ahnung davon, wie einfach es einmal sein würde, sich Bildung zu verschaffen, und zwar außerhalb von Schule und Hochschule. Wer sich heute bilden will, muss nicht mal verreisen, sondern verfügt über ein unerschöpfliches Angebot per Bibliothek und Internet. Denn es geht bei der Bildung nicht allein um berufliche Zwecke, sondern vor allem um Vakantie, Ferien von der Fremdbestimmung, also wesentlich darum, kein Esel mehr zu sein. Dem solcherart frei Gebildeten können die Diener der Herrschenden, die gekauften Lohnschreiber und Mietmäuler nicht mehr das Blaue vom Himmel erzählen. Man hat längst selbst nachgesehen und weiß, dass auch im Olymp mit Wasser gekocht wird. Und man hat erkannt, dass die Halbgötter sich schlimmer gebärden als eine Horde Barbaren und längst ihr Recht verwirkt haben, über das Leben der auf den Bahnsteigen zu bestimmen.
Maulspitzen gilt nicht, gepfiffen muss sein – 3 Versuche
Gestern am Nachmittag versuchten zwei Jungen die Eiche vor meinen Fenstern zu ersteigen. Als ich zum Einkaufen ging, hatten sie ein Seil über den untersten Ast geworfen, und derweil einer sicherte, versuchte der zweite, sich hochzuziehen. Später fand ich ihn zufrieden rittlings auf dem Ast sitzen. Schon vorher war mir ein Schwank eingefallen, den ich in einem gut 200 Jahre alten Buch bei Jacob Grimm gelesen hatte. Im Internet fand ich zwei Varianten der Geschichte, womit die Herkunft des folgenden Sprichworts erklärt wird: „Maulspitzen gilt nicht, gepfiffen muss sein.“ Weiterlesen
Plausch mit Frau Nettesheim – Das Schweigen der Dinge
Trithemius – Ich bin sowas von erleichtert, Frau Nettesheim! Kürzlich haben mein ältester Sohn und seine Freundin bei mir ausgemistet und mir Platz verschafft.
Frau Nettesheim – Sie lassen sich ganz schön bedienen. Warum haben Sie nicht selber weggeworfen, was Sie nicht mehr brauchen?
Trithemius – Wegen der „von unbestimmter Sehnsucht erfüllten Gestimmtheit, die sich in der Rückwendung zu früheren, in der Erinnerung sich verklärenden Zeiten, Erlebnissen, Erscheinungen in Kunst; Musik, Mode u. a. äußert.“
Frau Nettesheim – Was für ein Satz! Geht es auch kürzer?
Trithemius – „Nostalgie“, hihi. Sie wissen, Frau Nettesheim, dass ich mich bemühe, Fremdwörter zu vermeiden, aber manchmal fehlt eben ein entsprechendes deutsches Wort. Wegen Nostalgie habe ich im Fremdwörterduden nachgeschlagen. Der Duden braucht zum Verdeutschen 27 Wörter. Was ist wohl der Grund für die Lemmalücke im deutschen Wortschatz?
Frau Nettesheim – Unsere Vorfahren hatten offenbar keinen Bedarf. Vielleicht haben sie sich nie sehnsuchtsvoll an die Vergangenheit erinnert, sondern waren in der Gegenwart zu sehr gefordert und haben auf eine bessere Zukunft gehofft.
Trithemius – Das klingt zwar nach einer gewagten These, Frau Nettesheim, aber irgendwie haben Sie vermutlich Recht. Nostalgie ist erst durch die gereiften 68er in Mode gekommen, wie ich einem aufschlussreichen Essay entnommen habe. Ich vermute, das Wort kam auf, weil die Welt sich durch die modernen Kommunikationsmittel beschleunigte. Wenn alles so rasch geht und immer schneller in der Versenkung verschwindet, wollen wir manchmal innehalten und zurückblicken, aus der „von unbestimmter Sehnsucht erfüllten Gestimmtheit, die sich in der Rückwendung zu früheren, in der Erinnerung sich verklärenden Zeiten, Erlebnissen, Erscheinungen in Kunst; Musik, Mode u. a. äußert.“ Und wenn einer dieses Gefühl hat und ein anderer fragt: „Was guckste so blöd?“ Dann ist es einfacher zu sagen: „Ich hab‘ Nostalgie!“ Auch wenn’s ein Fremdwort ist oder sogar, weil es ein Fremdwort ist.
Frau Nettesheim – So ein Quatschkopfwort kommt mir nicht über die Lippen.
Trithemius – Was halten Sie von Vergangensucht, Früherweh oder Frühersucht, Vergangenweh?
Frau Nettesheim – Frühersucht wäre etwas anderes als Früherweh. Genauso ist Vergangensucht nicht gleich Vergangenweh. Warum hatten Sie so viele Gegenstände in Ihren Schubladen, Trithemius?“
Trithemius – Aus Vergangenweh. Ach, die süßen Erinnerungen!
Frau Nettesheim – Heuchler. Vermutlich sind Ihnen die Dinge einfach über den Kopf gewachsen. Gut, dass die überflüssigen Dinge weggeworfen wurden.
Trithemius – Nicht alle, Frau Nettesheim. Behalten habe ich Dinge, die ihre Bedeutung verloren haben, weil sie Technikgeschichte sind: Bedienungsanleitungen, Kassetten, Floppy Discs, Kompakt Discs, CD-Roms, Festplatten. Die Datenträger bewahren ihre Inhalte als stillschweigendes Geheimnis, denn ich besitze keine Geräte mehr, sie zum Sprechen zu bringen. Soll ich die Datenträger wegwerfen? Die Inhalte sind ja noch nicht wirklich im Orkus verschwunden. Man könnte sie theoretisch noch auslesen. Aber sie leiden an Schwindsucht. Wie traurig. Das macht mir so ein Vergangenweh.
Frau Nettesheim – Do mäht mer en Kölle kein Finster för op.
Der TV-Kritiker Ihres Vertrauens untersucht die Vertrittschäden auf dem Satiregipfel – Eine Polemik
Wenn einer ein beachtlich mittelmäßiger Witzereißer ist, dann können unglückliche Verhältnisse ihn in dieser Mittelmäßigkeit gefangen halten, als hätte man seine Füße in eine Wanne mit flüssigem Zement gesteckt und gewartet, bis er hart wurde. Diese Zementwannen sind beispielsweise Fernsehsendungen, ausgestrahlt von der ehrwürdigen ARD in großen Dekorationen mit gefällig hindrapierten Zuschauern. Man fragt sich übrigens, woher diese fröhlich klatschenden Menschen kommen, die im Jargon „Schwenkfutter“ genannt werden. Ich erinnere mich, dass Gewährsmann Noemix einmal mitgeteilt hat, sie würden mit Bussen aus Slowenien oder irgendeinem anderen Hinterwald herangekarrt. Deutschkenntnisse brauchen sie nicht, denn es wird ihnen immer beizeiten signalisiert, wo sie lachen oder klatschen sollen. Da man sie mit einem leckeren Imbiss bewirtet hat, ertragen sie auch bereitwillig eine Veranstaltung, die geschwollen „Satiregipfel“ heißt.
Bekanntlich ist Satire eine Textgattung. Die Inhalte dieser Gattung sind oft unfreundlich, so dass Satire sich am bequemsten konsumieren lässt, wenn sie gar keine Inhalte hat. Wer könnte am besten ohne Inhalte auskommen? Natürlich die mittelmäßigen Witzereißer, die ein Herr Dieter Nuhr um sich versammelt, um mit ihnen auf diesem Gipfel umher zu stolzieren und ihn niederzutrampeln wie die Steinböcke die Alpen. Wer das bezweifelt, nehme dies:
„Die Wiedereinbürgerung des Steinwildes in den Alpen hat in einigen Regionen auch gezeigt, dass Steinwild einen großen Einfluss auf die sie umgebende Landschaft hat. Aufgrund der in den 1920er Jahren wieder eingebürgerten Steinböcke nahm im Bereich des Schafberg und des Piz Albris bei Pontresina im Oberengadin die Hangabtragung zu. Verantwortlich dafür waren die Vertritt-Schäden, die das Steinwild verursachte.“ (Wikipedia)
Äh, vom Thema abgekommen. Aber immerhin, die Sache wäre bewiesen. Weiter mit den Vertrittschäden auf dem Satiregipfel. Gegen Morgen träumte ich, dass Dieter Nuhrs Auftritt angekündigt wurde, aber bevor er auf die Bühne trat, bezweifelte ich, dass er kommen würde, weil ich dachte: Der ist doch tot! Bitte! Es war nuhr (hehe) ein Traum. Das wünsche ich ihm natürlich nicht. Er soll im Gegenteil steinalt werden – am besten schon morgen.
Nach dem Aufstehen wirkte der Traum noch nach. Ich musste darüber nachdenken, warum ich diesen Satiregipfel grässlich, sogar so widerlich finde, dass ich mich noch nie überreden konnte, ihn länger als fünf Minuten anzuschauen. Ich beschloss, eine Kritik dieser Sendung zu schreiben, die ich gestern Abend in ihrer Wiederholung beim WDR ausschaltete, derweil ein Ingo Stadelmann oder so ähnlich uns Zuschauer mit schlechten Witzen quälte. Ich wollte mir Klarheit verschaffen. Wie das geht bei einer Sendung, die man sich nur flüchtig oder gar nicht angeschaut hat? Bitte, das ist das täglich Brot des Kritikers. Gut die Hälfte aller je geschriebenen Theaterkritiken sind so entstanden.
Also. Was war widerlich? Die Arroganz mit der Nuhr sein Rudel angesteckt hat, trieft so ekelhaft aus allen Poren dieser Witzbolde und zeigt, dass diese vom Fernsehen hochgefürsteten Kleingeister der öffentlichen Aufmerksamkeit nicht gewachsen sind. Und ich will mir von solchen Leuten nicht die Welt erklären lassen, denn das weiß man schließlich: Arroganz und Intelligenz treten niemals gemeinsam auf.
Kaisertreu oder Platz für das Gesäß des Kaisers!
In diesem Text geht es quasi um nichts. Um einen Buchstaben, der mal verschwinden sollte, aber nicht durfte, dann doch verschwand, aber auf geheimnisvolle Weise wieder bereitgestellt wurde. Man hört ihn beim Sprechen nicht, er zeigt weder Dehnung noch Schärfung an, sondern hat seit Jahrhunderten die ehrenvolle Aufgabe, gar nichts zu tun, lediglich besessen zu werden. Im Jahr 1901, als unsere Rechtschreibung amtlich wurde, da wollte Konrad Duden viele Wörter eindeutschend geschrieben sehen, die nicht mehr als Fremdwörter empfunden werden, unter anderem auch das aus dem Griechischen stammende Wort „Thron“ (griech. thrónos = Stuhl, Herrschersitz). Gegen die Schreibung „Tron“ aber verwahrte sich der letzte deutsche Kaiser Wilhelm II. Er wollte sich seinen Thron nicht schmälern lassen, denn was Kaiser einmal besitzen, wollen sie behalten, und sei es einen funktionslosen Buchstaben.
In meinem Bücherregal ist ein Regalboden in Augenhöhe dem aktuellen Rechtschreib-Duden und anderen Wörterbüchern vorbehalten. Dazwischen steht auch ein schmales Heft von 48 Seiten, das der Dudenverlag anlässlich der Wiener Orthographiekonferenz vom 22. bis 24. 11. 1994 an Fachpublikum verschickt hat. Es enthält die Beschlüsse der Konferenz im Vorgriff auf die bald folgende Orthographiereform. Auf Seite 25 steht (Abb.):
„Entsprechend können in einigen häufig gebrauchten Wörtern die Buchstabenverbindungen rh, th, gh durch r, t, g ersetzt werden (in Klammern die weiterhin zulässige bisherige Schreibung): Reuma (Rheuma), Tron (Thron)“
Dieser zaghafte Anschlag auf den Thron wurde aber erfolgreich vereitelt. Die alternative Schreibung Tron ist nach der endgültigen Fassung der Reform nicht zulässig. Upps, wer hat hier quer geschossen? Wir haben doch gar keinen Kaiser mehr, der für sein ausladendes Gesäß einen ordentlichen breiten Thron fordern könnte. Ich habe einen leisen Verdacht: Vor einigen Jahren befragte die Rheinische Post Prominente zur Rechtschreibreform, unter anderem Franz Beckenbauer, den einzigen deutschen Kaiser seit Wilhelm II: Kaiser Franz soll gesagt haben: “Ich schreibe so, wie ich es gelernt habe. Mit knapp 60 stelle ich mich nicht mehr um. Wir haben in Deutschland andere Sorgen.”
Gibs zu, Beckenbauer! Das warst du doch!
Mit Liebe? … Äh, Dingens
Bei Google finden sich 230 Millionen Einträge zu „Liebe.“ Obwohl das Wort derart oft gebraucht wird, ist es quasi „unkaputtbar“ und gilt noch immer als Hochwertwort, nicht nur in Beziehungen, sondern vor allem in der Werbung. Die industrielle Fertigung von Produkten unter entfremdeten und entfremdenden Bedingungen tarnt sich gerne mit Liebe:
„Ich liebe es“ (McDonald’s)
„Liebe, die man schmeckt“ (Pfanni)
„Aus Liebe zum Automobil“ (VW)
Der Vorkassenbäcker in Supermärkten wie Rewe oder Edeka wird im Raum Hannover von der zur Edeka-Gruppe gehörenden Backwarenfabrik „Schäfers“ betrieben. Da es in Hannover kaum noch echte Bäckereien gibt, kaufe ich gelegentlich dort. Eine Weile hatte mich schon der Papiertütenaufdruck von Schäfers „Mit Liebe ausgewählt“ irritiert, da entschloss ich mich, mal nachzufragen, was es damit auf sich hat.
Guten Tag,
gestern kaufte ich in einer Ihrer Filialen ein Hefeteilchen. Man packte es in eine Papiertüte. Da fällt groß der rote Aufdruck „Liebe“ ins Auge. Darüber steht klein und schwarz „Mit“, darunter in gleicher Typografie nicht etwa „gebacken“ sondern „ausgewählt“.
Nun rätsele ich, was bedeutet „Mit Liebe ausgewählt“? Was wurde wo, von wem ausgewählt? Ich als Kunde bin sicher nicht gemeint. Ich habe die Backware zwar aus dem Angebot der Auslage ausgewählt, aber da war keine Liebe im Spiel. Selbst wenn ich mit Liebe ausgewählt hätte, könnten Sie von Schäfers das nicht wissen, folglich nicht sinnvoll behaupten.
Bleiben also Sie, bzw. ungenannte Schäfers-Mitarbeiter, etwa Bäcker? Wählen die aus Liebe zum Mehlsack unter einem Mehlsack-Angebot, das meine Vorstellung überschreitet? Wählen Sie fertige Produkte aus dem Angebot anderer Bäcker bzw. Backwarenfabriken? Oder ist etwa die Papiertüte gemeint? Fragen über Fragen.Bitte klären Sie mich auf!
Freundliche Grüße,
Jules van der Ley
Von der ausführlichen Antwort gebe ich die wesentliche Aussage wieder. Sie erklärt den ganzen industriellen Produktionsprozess zum ausgewählten Liebesbereich.
Sehr geehrter Herr van der Ley,
Ihre Fragestellung zum Aufdruck „Mit Liebe ausgewählt“ auf unserer Tüten beantworten wir gern. Die Formulierung „Mit Liebe ausgewählt“ bezieht sich auf unseren gesamten Produktionsprozess.
Mit freundlichen Grüßen
Vermutlich hat man gemerkt, dass es Quatsch ist. Seit kurzem heißt es auf den Tüten nur noch: