Zwei Tage lag ein fein Büchlein unbeachtet auf einer Fensterbank, war schnöde ausgesetzt worden, obwohl es sich dünn gemacht und in keinem Bücherregal für drangvolle Enge verantwortlich gewesen war, im Gegenteil, es könnte gar leicht zwischen dickbäuchigen Bänden verschwinden, dass man es suchen müsst und suchen, hier hat es doch mal gestanden? Warum finde ich es nicht?
Warum wohl? Du habt es ausgesetzt, du Depp. Ich schäme mich zuzugeben, dass ich mal und mal vorbeigelaufen bin und mich nicht überreden konnt, es mitzunehmen, obwohl ich Büchlein jederzeit einem protzigen Buch vorziehe. Yo!
Einst war ich fleißiger Nutzer von Bibliotheken und Büchereien und habe am liebsten die kleinen, schmalen Bändchen ausgeliehen; ich dachte, wer ein dickes Buch schreiben kann, sollte erst recht ein Büchlein schreiben können. Das ist die größere Kunst. Zudem waren dünne Bücher einfach schonender für meinen Rücken, denn ich musste, was ich lesen wollte, wie ein Esel auf dem Buckel transportieren und das, obwohl das bekannte Palindrom lautet: „EIN ESEL LESE NIE.“ So sehr war ich auf dünne Bücher aus, dass ich sogar von einem träumte. Am 7. Dezember 1994 notierte ich ins Tagebuch:

Es wird Zeit, den Titel des Büchleins zu verraten. Sonst macht sich DeStijl hier breit, wiewohl das eine feine niederländische Künstlervereinigung ist, deren Mitbegründer Theo von Doesburg mit Kurt Schwitters befreundet war und Dada mit einem „Dada-Feldzug“ in den Niederlanden bekannt machte. Die Tour der beiden startete mit einem Dada-Abend in Den Haag und endete im friesischen Städtchen Drachten, wo Schwitters bei den Schustern Thijs und Evert Rinsema ein- und ausging, aber nicht durch die Haustür, sondern lieber durchs Fenster stieg.
Bevor wir uns den Hals brechen, zurück zum Fensterbankfund. Vorsicht mit dem Hosenbein, Herr Schwitters! Da liegt das Büchlein von Bettina von Arnim; Die Frau Rat erzählt von der Fahrt ins Kirschenwäldchen.
Wer ein solches Buch einfach so auf die Fensterbank legt und den Wetterunbilden aussetzt, na, dessen Kopf möchte ich ja lieber nicht haben. Ich gebe zu, ich habe es nur mit genommen, weil ich dachte, dass die vortreffliche Bettina von Arnim im Schatten ihres Mannes Achim von Arnim gestanden hat, was meinem Gerechtigkeitsgefühl widerstrebt. Beim ersten Durchblättern ihres Büchleins und nur gebremst durch die herabsinkende Dämmrung fand ich die treffende Wendung: „Der Erinnerung abgelauscht“, was auf den Punkt bringt, dass Erinnerung eine Erzählung ist, der man im eigenen Kopf zuhört, und ich will hinzufügen, dass derlei Erzählungen immer fiktionale Elemente enthalten. So, und jetzt, schon 18:04 Uhr, muss ich kochen. Die Frau Rat ist übrigens Goethes Mutter.
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