Vom Norden Hannovers kommend – im Stadtteil List fährt die Stadtbahn der Linie 9 in den Untergrund. Ich gucke gegen die Tunnelwand und halte Ausschau nach Bauvorleistungen. Bauvorleistungen – ein wunderbares Wort, das auch Wundersames bedeutet. Beim Bau der U-Bahn in den 1960-er Jahren hat man zusätzliche Bauwerke für spätere Erweiterungen des U-Bahnnetzes errichtet, Tunnelabschnitte und Geisterbahnhöfe. Ein solcher Geisterbahnhof liegt beispielsweise unter der Station Hauptbahnhof. Gelegentlich erweitert sich die Tunnelröhre und gibt den Blick frei auf einen toten Abschnitt, aber dann rasen die Wände wieder heran und flitzen dicht vor meiner Nase vorbei.
Die meisten Fahrgäste schauen nicht hin, sondern stieren sich lieber ein Loch ins Knie oder sprechen in ihr Mobiltelefon wie der Mann schräg gegenüber: „Richtig, hehehehe! Genau! Hehehehe! Ja, hehehehe! Dann grüß mir mal schön deinen kalt werdenden Kartoffelbrei, Tschau!“ Kartoffelbrei grüßen? Ist der Mobilfunk dafür erfunden worden? Kriechen kongolesische Kinder in ungesicherte Bergwerke und graben mit bloßen Händen nach Seltenen Erden, damit in Hannover ein Volldepp kalt werdenden Kartoffelbrei grüßen kann? Schon deshalb könnte ich auf Mobilfunk gerne verzichten.
Was mir wirklich in öffentlichen Verkehrsmitteln fehlt ist, Gesichter zu betrachten. Schon Lichtenberg sagt: „Die unterhaltendste Fläche auf der Erde für uns ist die vom menschlichen Gesicht.“ Diese wunderbare Menschenunterhaltung wird ja nun durch ffp2-Masken gestört, die bei jedem Gesicht einen entstellenden Schweinerüssel vermuten lassen. Nur deshalb starre ich gegen vorbeiflitzende Tunnelwände.
Ab Station Markthalle/Landtag bin ich besonders gespannt, denn irgendwo muss ein Gleis abzweigen, so dass die folgende Station Waterloo plötzlich vier Gleistrassen hat. Auf dem Bahnsteig am außen liegenden Gleis warten niemals Fahrgäste. Einmal sah ich eine Bahn dort vorbei fahren und im scheinbaren Nirgendwo verschwinden. Die Linie 9, in der ich gerade sitze, nutzt die beiden inneren Gleise und verlässt nach wenigen hundert Metern den Untergrund. Wohin das äußere Gleis führt, ist mir ein Rätsel. Es kommt nicht parallel zu denen der Linie 9 ans Tageslicht. Es gibt in Fahrtrichtung keine U-Bahnstation mehr. Kürzlich bin ich ausgestiegen, um das Rätsel zu lösen. Ich wollte vor allem sehen, was auf der Anzeigetafel zu lesen ist.