Forschungsreise mit dem Fahrrad – Gütersloh II

Gütersloh I
Die Skizze stimmt nicht. An einer Tierbedarfshandlung frage ich eine Frau, die gerade mit ihrer Tochter aus dem Auto gestiegen ist, nach dem Weg. Wir sind uns sogleich sympathisch, und sie hilft mir nach Kräften. Garantiert würde sie mich bei sich lesen lassen. Aber ich habe leider schon die Pension bezahlt und den Schlüssel in der Tasche. Ja, so ist das, wer mit Vorurteilen in eine Stadt fährt, hat die bitteren Konsequenzen zu tragen.

Das unansehnliche Haus steht auf der Ecke einer stark befahrenen Straße. Inzwischen hat es heftig zu regnen begonnen. Die schmutzige Haustür, das vernachlässigte Treppenhaus, das alles ist mir egal. Ich will nur noch ins Trockene und ein Bett. Die Zimmer sind auf der ersten Etage. Man kann sich nicht verlaufen, denn der Treppenabsatz der zweiten Etage hat eine Barriere aus riechenden Schuhen. Hinter einer Tür tut sich eine fensterlose Diele auf, die eine Küche und einen Wohnbereich beherbergt. Mein Zimmer liegt zur Straße hin. Es ist ziemlich geräumig, weshalb ich in den Keller gehe und mein Fahrrad hoch hole. Ich will es lieber bei mir haben. Im Keller läuft eine Waschmaschine, und vor ihr auf dem Boden … was ist das? Sind es nasse Lumpen? Ein Toter, der sich festgetreten hat? Zweifellos bin ich auf einer pataphysischen Forschungsreise, aber das zu erforschen, dazu bin ich einfach zu schwach. Beim erneuten Aufschließen der Tür habe ich die Klinke in der Hand, und ich beschließe, sie vorerst mit hinein zu nehmen. Einst hatte das Zimmer Wandleuchten, doch davon sind nur noch die Kabel da. Es gibt aber in die Decke eingelassene Spots, scheinbar wahllos angeordnet. Erst am späten Abend erkenne ich darin das Sternbild des großen Wagens. Ob seine Hinterachse aber genau zum Polarstern zeigt, kann ich nicht überprüfen, der Regenwolken wegen.
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Forschungsreise mit dem Fahrrad

Gestern sah ich im WDR-Fernsehen in einem Bericht über Gütersloh dessen Rathaus. Ich erinnerte mich, schon einmal da gewesen zu sein, und zwar im September 2010. Da habe ich mit dem Rad eine Forschungsreise von Hannover nach Aachen gemacht. Idee war, unterwegs mir sympathische Menschen anzusprechen und um ein Nachtlager zu bitten, abzugelten mit einer Wohnzimmerlesung meiner Texte. Leider regnete es fast ununterbrochen, so dass ich wenig Leute traf und oft in Pensionen übernachten musste. So war es auch in Gütersloh:

Tiefpunkt meiner Forschungsreise – in Gütersloh

Irgendwann Ende der 1960-er Jahre wusste der Bürgermeister von Gütersloh nicht wohin mit einer leeren Zigarettenpackung. Er hat sie kurz entschlossen mitten ins Zentrum des Stadtplans gestellt und gesagt: „Das wird unser neues Rathaus.“ Da nahm der Sparkassendirektor zwei Streichholzschachteln, stapelt sie quer daneben und sagte: „Und das wird die Sparkasse. Geld und Politik müssen zusammenhalten.“ Der Bürgermeister beauftragte die besten Leute aus dem Liegenschaftsamt, der gelungenen architektonischen Lösung den letzten Schliff zu geben, und die hängten eine Uhr und ein Glockenspiel an die fensterlose Stirnseite. Fertig war das Rathaus. Und nebenan stand die Sparkasse.

Es herrscht da ein ständiges Kommen und Gehen, als ich gut 50 Jahre später am Gütersloher Rathaus vorbeirolle. Ich weiß nicht, was es ist, ob es die Durchquerung von Bielefeld war, die heimtückische Remoulade auf dem Käsebrötchen oder der Anblick des Gütersloher Rathauses mit Uhr und Glockenspiel auf der fensterlosen Stirnseite – ich bin auf einmal sehr müde. Ach, denke ich, die Leute hier sehen ganz und gar nicht so aus, als würden Sie meine Texte hören wollen. Hier brauche ich erst gar nicht zu fragen. Das ist natürlich eine Unverschämtheit gegenüber den Güterslohern. Aber wie da ständig welche ins Rathaus rennen, das verheißt nichts Gutes. Vermutlich müssen die Gütersloher Bürger einmal im Monat hin und kriegen dann im zuständigen Amt was zwischen die Hörner, damit sie willfährig bleiben.

Das würde erklären, warum diese Stadt keine nennenswerten Persönlichkeiten hervorgebracht hat. Zwei Komiker stehen auf der Liste der berühmten Bürger und natürlich der Firmengründer Carl Bertelsmann, der im 19. Jahrhundert fromme Bücher gedruckt hat. An der Carl-Bertelsmann-Straße aber sitzt die Bertelsmannstiftung. Und das macht Gütersloh zur heimlichen Hauptstadt der Republik. Viele der Scheußlichkeiten, mit denen uns die neoliberalen Regierungen unserer Tage das Leben schwer machen, die hat man sich bei der Bertelsmannstiftung ausgedacht, die Eckpunkte von Schröders Agenda 2010 und mithin Hartz IV, die Studiengebühren, die neoliberale Ausrichtung der Hochschulen und des Arbeitsmarktes. Die Stiftung wächst beständig. Ihr gehören rund 77 Prozent des Medienriesen Bertelsmann, und weil die Stiftung weniger ausgibt als der Bertelsmannkonzern durch sie an Steuern spart, finanziert hier der Steuerzahler seinen eigenen Kriechgang in die Knechtschaft des Geldadels.

Bielefeld, das war Spaß, aber hier bin ich in feindseliger Stimmung. In Touristinformationszentralen legen sie keinen großen Wert auf durchreisende Radfahrer. Die geben kaum etwas aus in der Stadt, schlürfen abends nur eine 5-Minuten-Terrine, und am nächsten Morgen sind sie wieder weg. Wer mit dem Fahrrad unterwegs ist, sollte in der Touristinformation nicht nach einer Unterkunft fragen, das lerne ich in Gütersloh. Sie schicken mich jedenfalls zu einem nahen Hotel. Dessen Außenwerbung ist völlig verrottet, so dass ich zuerst gar nicht glaube, dass es noch besteht. Die Rezeption ist auf der ersten Etage, und wenn ich sage, der Teppich vor dem Aufzug war nicht sauber, dann ist das euphemistisch. Der Teppich ist ein lumpiges Bazillenmutterschiff. Seine Flecken beherbergen uralte Universen von Mikroben. Der Aufzug ächzt bedenklich. Er kann schon 20 Jahre nicht mehr. Aber der Tüv verweigert ihm böswillig die Verschrottung. Vermutlich sitzt da ein Schwager des Hoteliers.

Als ich den Hotelier an der Rezeption sehe, wird mir ein wenig mulmig, und seine Freundlichkeit ist mir nicht geheuer. Aber das ist ein Vorurteil, durch sein Umfeld hervorgerufen. Wenn ihm Novizen mit Weihrauchfässern vorweg laufen würden, könnte er gewiss auch als katholischer Bischof durchgehen. Nein, er habe in seinem Hotel kein Zimmer frei. Aber in seiner Pension könne er mich für 30 Euro Vorkasse unterbringen. Ich weiß, dass es ein Fehler war, den Aufzug zu betreten. Mit dieser Entscheidung habe ich mich ausgeliefert. Jetzt ist mir alles egal. Ich händige dem Mann willenlos 30 Euro aus, er gibt mir einen Schlüssel, skizziert mir, wie ich die Pension finde, und schon bin ich auf der Treppe nach unten. Den Teppich schaue ich nicht mehr an, denn wenn ich Ekelherpes möchte, zahle ich nicht auch noch 30 Euro dafür.

Gütersloh II

Teestübchen intern – Verlagssignet, gespachtelt von einem unbekannten Kölner Druckergesellen

Anfang der 2000-er Jahre gestaltete ich für die Druckerei meines inzwischen verstorbenen Bruders einen Werbeprospekt. Mein Bruder hatte für seine Druckerei eine Reihe anderer Geschäftsfelder erschlossen. Es gab aber noch den klassischen Buchdruck. Dafür suchte ich nach einer zeitgemäßen Visualisierung. Ich bat seinen Buchdrucker um eine Spachtelarbeit auf seiner Arbeitsplatte mit den Grundfarben Rot, Gelb und Blau. Der Buchdruck hieß zwar einst „Schwarze Kunst.“ Die technische Entwicklung erlaubte aber seit den 1980-er Jahren, den einst teuren Farbdruck preiswert einzusetzen, abzulesen an den Farbfotos in heutigen Zeitungen. [links die freigestellte Spachtelarbeit]


Aus der expressiven Spachtelarbeit eines Kölner Buchdruckergesellen, dessen Name ich nicht mehr weiß, machte ich im Jahr 2016 das Verlagssignet, das fast alle Bücher aus der Edition Teestübchen Trithemius ziert, in Originalform beim ersten Buch, begradigt für ale weiteren, auch für die druckfrische Publikation „Alleweil wird irgendwas gesagt.“

Eine erste Rezension in CD: Alleweil lächelt der Grünspecht

Böse Zungen Lügen gestraft

Seit es das Internet gibt, gibt es auch mehr Erscheinungen. Vielmehr haben uns die Schmocks von der Presse eine Menge Erscheinungen vorenthalten. Sie sitzen ja auf Bergen von ungedruckten Texten, und wenn ein Bericht von einer Jesus- oder Marienerscheinungen reinflatterte, dann fegt sie spätesten der gottlose Chef vom Dienst bei der Redaktionskonferenz vom Tisch und sagt: „Nicht schon wieder eine verfluchte Erscheinung! Wir hatten doch erst letztes Jahr eine. Dafür ist jetzt kein Platz. Die heben wir nicht ins Blatt!“ Das sind nämlich alles Heiden oder Zyniker oder beides.

Dank Internet erfahren wir trotzdem von allen Marien- oder Jesuserscheinungen – auf Toastbroten, im Speiseeis und so fort. Der 38-jährigen Krankenschwester Alex Cotton aus Coventry (England) ist Jesus auf ihrer Regenrinne erschienen – als Rostfleck. Die Geschichte ihrer Jesuserscheinung gab den Anstoß für meine neue Anthologie „Alleweil wird irgendwas gesagt.“ Und Jesus ziert auch das Cover des sauber von mir selbst gestalteten Buches. Ich darf also weiter auf göttlichen Beistand hoffen.

Meine lieben Damen und Herren, bitte glauben Sie nicht, was bereits meine gute Mutter mir nachsagte, ich würde eintausend Projekte beginnen, aber nicht beenden. Mindestens die losen Enden eines Projektes habe ich am 20. September 2023 zusammengefiddelt und die bereits hier angekündigte neue Anthologie „Alleweil wird irgendwas gesagt“ veröffentlicht. Sie ist ab sofort unter der

    ISBN 978-3-758406-17-1

bei epubli zu kaufen. Amazon und Buchhandel brauchen etwas länger, um das feine Buch zu listen. Erstmalig ist das Buch den Leserinnen und Lesern des Teestübchen Trithemius gewidmet. Denn Ihrem und eurem Interesse verdanke ich einiges an Inspiration und manche Anregung. Herzlichen Dank.

U P D A T E
Eine erste Rezension in CD: Alleweil lächelt der Grünspecht

Mit der B-Rail an die belgische Küste und zurück

Das kleine Belgien ist mit seinen 30.688 Quadratkilomern etwa so groß wie Brandenburg und ein wahrhaft bescheidenes Land, das die meisten von uns nicht auf dem Schirm haben. Wenn bei uns über „Brüssel“ berichtet wird, sehen wir Frau Ursula von der Leyen, Präsidentin der Europäischen Kommission, und ihre „Wichtig-wichtig-Selbstinszenierungen.“ Da kann nur das 61 Zentimeter große Manneken Piss mithalten, was übrigens mal wirklich wichtig war, nämlich Bestandteil der Wassserversorgung. Bis die Verschwendung im Jahr 2019 unterbunden wurde, strullte das Manneken Trinkwasser in den Kanal, ab seiner Aufstellung im Jahr1619 täglich etwa 2000 Liter.

Die beiden lassen vergessen, dass Brüssel auch die Hauptstadt Belgiens ist. Fährst du mit dem Zug durch Brüssel mit seinen fünf Bahnhöfen, kommen die Durchsagen zweisprachig aus den Lautsprechern, nämlich in Flämisch und Französisch. Östlich von Brüssel, in der Wallonie, wird Französisch gesprochen, westlich, in Flandern, Flämisch, was sich nur in der Aussprache vom Niederländischen unterscheidet. Deutsch, die dritte Amtssprache, hört man nur im kleinen Bahnhof von Eupen, der Hauptstadt der Deutschsprachigen Gemeinschaft Ostbelgien. Die sonst so unaufgeregten Belgier nehmen es bei den Sprachgrenzen genau.

In Eupen stiegen wir in einen Zug der Nationale Maatschappij der Belgische Spoorwegen (NMBS) und ließen uns zunächst nach Brugge bringen, wo wir umstiegen zur pünktlichen Weiterfahrt zum Badeort Knokke an der belgischen Nordseeküste. Die ganze Strecke von 256 Kilometer für ermäßigte 7,80 Euro Hin- und Rückfahrkarte.

Das B im Logo der NMBS, auch B-Rail genannt, ist übrigens ein Entwurf des belgischen Jugendstil-Architekten und Designers Henry van de Velde. Bekannt sind seine Entwürfe von Wohnhäusern, als Gesamtkunstwerk durchgestaltet bis in die Besteckschubladen. Gemäß seinem Traum von der Einheit von Kunst und Leben, gab es für die Wohnräume jeweils Bekleidungsvorschriften.

65 Kilometer feiner Sandstrand ist die belgische Küste lang, und 67 Kilometer lang ist die längste Straßenbahnlinie der Welt, die Kusttram, die alle Orte der belgischen Küste verbindet, von Knokke nahe der holländischen Grenze bis De Panne, unweit von Frankreich.

In Seebruggge stieg ein Paar aus Lüneburg zu, das gerade mit einem Kreuzfahrschiff im Hafen von Seebrugge eingetroffen war. Der Mann beschwerte sich, dass man bei der Kreuzfahrt in europäische Häfen immer so weit draußen ankern würde. Er wäre lieber bis in die Grachten von Brugge vorgedrungen. Aber die Kreuzfahrt sei so billig „da konnte man nicht Nein sagen.“

Musiktipp
Noordkaap; Ik Hou Van U/Je t’Aime Tu Sais

Einen Spanier sehen

Teil 1 – Dieses höllische Gebälk
Teil 2 – Umherziehende Schmerzen
Teil 3 – Windige Treppenhäuser
Im Dachgeschoss war niemand mehr. Ich fand aber einen aufgegebenen Aufenthaltsraum für Patienten, wo Regale mit Büchern und Spielen standen. Auf einem Tisch lag das Gästebuch. Da hatte sich mancher launig verewigt, launiger als ein Patientendasein vermuten lässt. Jahre zurück müssen hier fröhliche Feste gefeiert worden sein, auch viel Alkohol war geflossen. Ich weiß noch, dass ich mich auf dieser menschenleeren Dachetage, wo einmal so viel Trubel gewesen war, plötzlich allein fühlte. Das Gebäude war wie ausgestorben, nachdem es die Jacobson-Therapeutin verschluckt hatte. Um wieder Menschen zu sehen, stieß ich eines der halbrunden Dachgaubenfenster auf und blickte hinunter in die Fußgängerzone.

Dort entdeckte ich einen mir bekannten Patienten, einen in Köln lebenden Spanier. Dieser kleine, agile Mann hatte, wie er berichtete, als junger Mann wegen einer OP im Krankenhaus gelegen. Da habe ihm seine Mutter ein Paket mit Salami vom Esel geschickt. Nachdem er die gegessen hatte, sei sein Glied zur Überdimension angeschwollen und gar nicht mehr kleiner geworden, so dass Ärzte und Krankenschwestern staunend um dieses Wunder herumgestanden hätten.

Er sei damals schon verlobt gewesen, berichtete er weiter. Vor seiner Heirat habe seine angehende Schwiegermutter gewehklagt, dass ihre Tochter „einen solchen Zigeuner“ heiraten wolle. Da sei er zum Entsetzen der guten Frau auf den Tisch gesprungen und habe Flamenco getanzt. Diesen nicht ungefährlichen Mann rief ich, aber er schaute, Eselsalami-Priapismus hin oder her, nicht hoch genug, um mich zu entdecken.

Das waren meine Ernnerungen an das Rheumabad. Mehr kann ich mir beim besten Willen nicht entlocken. Ihr Leute von der Kotzmühle, wenns unbedingt sein muss, rupft alles auseinander!

Umherziehende Schmerzen

Ein Mann ersteigerte einst das Gemälde einer britischen Steilküste an aufgewühlter See und hängte das Bild über sein Bett. Bald wurde er allnächtlich von zehrenden Schmerzattacken geplagt, deren Ursache sein Zahnarzt nicht finden konnte, auch nicht, nachdem er ihm alle Zähne gezogen hatte. Eines Tages erfuhr der Mann, dass das Gemälde Jahrzehnte im Wartezimmer eines Kieferchirurgen gehangen hatte. Es hatte all die Angst und Pein der Wartenden gespeichert. Von seinem Platz über dem Bett des Mannes verströmte es jetzt bei Gelegenheit die aufgenommenen Schmerzen. Nachdem der geplagte Mann das Bild entsorgt hatte, hörten seine Schmerzattacken auf.

Diese Geschichte habe ich gelesen – oder ich habe sie mir ausgedacht. Sie ist jedenfalls wahr wie die Vorstellung, dass auch die Schmerzen der vielen Rheumapatienten im Gemäuer hängen oder sich verstofflicht haben und als jammernde, stöhnende Rheumageister durch die Treppenhäuser ziehen. Wer dort einmal wohnen und arbeiten will, sollte das bedenken.

In der 4. Etage steht ein Fenster offen. Dort lasse ich einen Gedanken eindringen. Ich sende ihn los, auf der Suche nach Erinnerungen. Ich weiß noch von einem Wartebereich, in dem stattliche Zimmerpalmen standen. Dorthin war ich zum Ballspiel bestellt. Eine junge ranke Patientin hatte schon früh meine Aufmerksamkeit geweckt. Sie hatte weder eine Krücke noch sonst einen erkennbaren Makel, hielt sich im Gegenteil so königlich gerade, dass sie zu sehen eine Augenlust war. Ich hatte sie bei mir „Miss Schwertbad“ getauft. Miss Schwertbad saß mit mir im Wartebereich, und später spielten wir Ball in einer kleinen Turnhalle. Ich konnte den linken Arm nicht gut strecken und ärgerte mich, so flügellahm zu sein.

Eine alte Ergotherapeutin ließ mich lange auf dem zugigen Flur warten, und dann sollte ich die Hände in eine Schüssel trockener Erbsen tauchen und damit spielen. Auch ließ sie mich Schaumgummistreifen rollen. Derweil ging mein Blick hinunter auf die Passanten der Fußgängerzone, und ich war sicher, dass keiner sich dachte, dass einer über ihren Köpfen Erbsen quält und Schaumgummi rollt.

In einem Therapieraum standen schwarze Ledersessel, die sich über einen Motor zu Liegen herunterfahren ließen. Eine Therapeutin lehrte Entspannung nach Edmund Jacobson. Ich fand die Entspannung wohltuend, aber nach der ersten Stunde tauchte die Therapeutin nie mehr auf, als hätte sie sich im Gebäude verlaufen, wäre in ein Treppenhaus geraten, das in vergessene Gebäudeteile führte, aus denen es kein Entkommen gab. Eventuell geschah zu dieser Gelegenheit, da ich vergeblich auf die junge Frau gewartet hatte und vom Windzug verlockt wurde, durch das zyklopenhafte Treppenhaus in die verlassene Dachetage zu steigen.

Folge vier und Schluss

Windige Treppenhäuser

Mich kennt hier niemand mehr. Obwohl ich vor gut fünfundzwanzig Jahren eine Weile in Burtscheid gelebt habe, behandeln mich alle wie einen Fremden. Gegenüber erhebt sich die Klippe des alten Rheumabads der Versicherungsanstalt Rheinprovinz. Meine Erinnerung an diese Rheumaklinik ist untrennbar verbunden mit dem Bild von Männern, die ihre Krücken wie verlängerte Zeigfinger benutzten, wenn sie an den Wochenenden ihren Besuch durch Burtscheid führten. Das gigantische Klinikgebäude steht seit vielen Jahren leer. Investoren wollen es umbauen. Eine große Tafel verspricht Wohn-, Büro- und Praxisräume, aber bislang sieht man nur kleine Baumaßnahmen.

Im Jahr 2015 war ich nach einer Schulteroperation zur Reha im angrenzenden Schwertbad. Zu dieser Zeit wurden einige Räume des Rheumabads noch für Therapien genutzt. Ich bedauere, dass sich das Management des Schwertbads nicht mit dem Besitzer des Rheumabads einigen konnte, so dass der Wert der alten Einrichtung verloren ging.

Die Rheumaklinik Aachen-Burtscheid – Foto: JvdL (2022)


Im frühen Dämmer des tropischen Abends fällt aus dem Weltall die Nachtkälte herab. Der Murmelteppich vor der Eckkneipe wird eingeholt. Die ungezählten Fenster des Rheumabads starren blind auf den sich leerenden Platz. Sie haben hinter sich schier endlose Fluchten fünf Meter hoher Räume und gigantische Treppenhäuser, durch die immer ein leiser Wind zieht. Ach, wie bedauerlich, dass Investoren sich über die imposante bauliche Infrastruktur des Heilens und der Schmerzlinderung hermachen können und lukrative Möglichkeiten einer Fremdnutzung erwägen, weshalb naseweise Architekten hier einreißen wollen, dort eine Mauer ziehen und was ihnen noch einfällt, wenn sie vor ihren CAD-Programmen sitzen.

Wie der Schlachter gleichmütig ein Rind in essbare Portionen zerhaut, muss auch der Architekt herzlose Veränderungen einer solchen Großstruktur planen können. Er darf nicht beachten, dass da einst Leben war, Menschen gelitten haben, behandelt und sogar geheilt wurden. Ach, wie lustig wurde einst im Thermalbad geplanscht, wie wohltuend war das Thermalwasser, das schon die Römer geschätzt hatten, wie herrlich wars, im Auftrieb des Wassers die Erdenschwere nicht zu spüren. Gewiss könnte man im leeren Becken einige Büros ansiedeln. „Oder wir ziehen eine Empore drüber für den Gastrobereich und nutzen das Becken als Lager“, schwärmt der Architekt. Derlei Architektenschnack denke ich mir, indem ich hinüber zur Fassade schaue. Dabei hoffe ich, dass irgendwo ein Licht sich zeigt, wenigstens der Schein einer Kerze, die von einem alten Hausgeist herumgetragen wird.

Teil 3

Dieses höllische Gebälk

Dieses höllische Gebälk. Ich verstehe, dass die Anordnung der Stützbalken und Streben einen Sinn ergibt, wenn sie einer mit den Augen eines Zimmermanns betrachtet. Das Gebälk muss ein Dach halten, es muss auch diese Räume des Dachgeschosses umfassen, in denen ich untergekommen bin. Allein ich sehe in der Ordnung nur Unordnung, die mein ästhetisches Gefühl belastet. Leise Furcht erfasst mich auf dem Podest vor der Tür. Es bildet den oberen Abschluss einer bei jedem Tritt knarrenden Wendeltreppe, und wann immer ich den Schritt über die Türschwelle aufs ächzende Podest mache, denke ich an das romantische englische Fräulein, das auf eigene Faust zu einer Rheininsel gerudert war, wo eine Ruine lockte.

Es erklomm den verfallenen Turm, und kaum war es oben, brach die hölzerne Treppe unter ihm zusammen. Da saß es fest. Auf dem Fluss vorbeigleitende Rheinschiffer winkten zurück oder bekreuzigten sich. Jahrzehnte später beim Abriss der Ruine, fand man ein Skelett.
Nun, man weiß hier von meiner Anwesenheit. Allerdings bin ich der einzige Feriengast im Abteitor. Alle anderen Wohnungen werden renoviert. Schaue ich aus dem Fenster, liegt unten der belebte Markt, besonders beliebt bei Kindern, weil dort eine anschiebbare Drehscheibe mit Geländer lockt. Bis in den Abend lachen, rufen und quieken dort die Kinder. In meiner Kindheit hieß so ein Gerät „Kotzmühlchen. Aber Burtscheider Kinder müssen nicht kotzen. Die Mütter und Väter, die alles auf schattigen Bänken bewachen, haben sich selbst noch auf dem Kotzmühlchen gedreht und gedreht. Generationen von Burtscheider trainieren sich auf dem Kotzmühlchen die nötige Kotzhärte an, um sie zu vererben. An den Tischen vor der Eckkneipe mag einer noch so klug die Welt erklären, aus der Entfernung versinkt sein Gerede in einem Klangteppich aus Gemurmel.

Teil 2

Brief von der Insel der Seligen

Im Aachener Ortsteil Burtscheid begegnet dir überwiegend die gesellschaftliche Klasse der Gutsituierten. Junge und alte Müßiggänger sitzen schlemmend vor Restaurants und Cafés, sind gerade von einer Reise zurückgekehrt oder reden von einer bevorstehenden Reise. Fernab sind die Quälereien ungeordneter Verhältnisse.

Ich sitze vor der angesagten Konditorei Lammerskötter und löffle ein Eis mit Beeren. Es heißt laut Karte „Miserable“, vermutlich, weil es auf einem schwarzen Teller serviert wird. Die Beeren sind rings um die Eiskugeln verteilt. Es sind auch Erdbeeren dabei.
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Im Fernsehen war kürzlich ein Bericht über gigantische Erdbeerfarmen in Spanien zu sehen. Es ging um illegale Brunnenbohrungen, Wasserdiebstahl und Ausbeutung der meist illegal sich im Land befindlichen Erdbeerpflücker. Sie vegetieren in selbstgebauten Hüttensiedlungen, bar jeder Versorgung mit Medizin, Wasser oder Elektrizität. Die hygienischen Verhältnisse sind katastrophal. Wer möchte da noch Erdbeeren auf seinem schwarzen Teller? Was kann einen mit diesem krassen Missverhältnis versöhnen? Die Frau am Nebentisch redet von einem Frühstück für Obdachlose, für das sie sich eine Weile engagiert hat. Es gibt, belehrt mich die Suchmaschine „Das Aachener Sonntagsfrühstück für Menschen in Not und Obdachlose.“

Ist alles Okay, wenn man ein Sonntagsfrühstück für Obdachlose ausrichtet? Wer weiter nichts erwartet, kann froh sein, dass es die dankbaren Obdachlosen gibt. Die Obdachlosen bleiben trotz Sonntagsfrühstück Obdachlose. Und es wird den Erdbeerpflückern nicht helfen, wenn du und ich keine Erdbeeren vom Discounter oder beim Supermarkt kaufen. Aber es ist nötig, nach den Gründen für krasse gesellschaftliche Unterschiede zu fragen.

„Jeder ist seines Glückes Schmied“, sagt die blonde Frau am Nebentisch. Sie hat vielleicht Recht. Das hebt ab auf das antike Konzept der verantwortlichen Selbstsorge und setzt voraus, man hat wenigstens ein Quäntchen Glück, das sich schmieden lässt. Man braucht gesunde Hände, Werkzeug und einen sicheren Ort, an dem sich Glück entfalten kann. Es gibt weltweit sicher mehr Menschen, denen dieses soziale Kapital fehlt. Ihnen derlei zu sagen, wäre zynisch.

Bezüglich Klimawandel äußerte jüngst ein Kollege einen interessanten Gedanken: „Angenommen man könnte den abwenden, wenn man 50.000 Euro zahlt. 50.000 Euro sind viel Geld, aber gewiss wären trotzdem viele Menschen bereit, diese Summe zu zahlen.“ Das gälte auch für die himmelschreienden Unterschiede der Lebensverhältnisse. 50.000 Euro zu zahlen, würden mir schwerfallen. Ich müsste einen Kredit aufnehmen. Trotzdem wäre ich bereit dazu. Leiderleider steht uns dieser Hebel nicht zur Verfügung. Man braucht Ambiguitätstoleranz, um das auszuhalten. Anders entscheidet der gleichgültige Affe in uns irgendwann, dass mit Gottes Segen alle das bekommen, was ihnen zusteht.