Gestern sah ich im WDR-Fernsehen in einem Bericht über Gütersloh dessen Rathaus. Ich erinnerte mich, schon einmal da gewesen zu sein, und zwar im September 2010. Da habe ich mit dem Rad eine Forschungsreise von Hannover nach Aachen gemacht. Idee war, unterwegs mir sympathische Menschen anzusprechen und um ein Nachtlager zu bitten, abzugelten mit einer Wohnzimmerlesung meiner Texte. Leider regnete es fast ununterbrochen, so dass ich wenig Leute traf und oft in Pensionen übernachten musste. So war es auch in Gütersloh:
Tiefpunkt meiner Forschungsreise – in Gütersloh
Irgendwann Ende der 1960-er Jahre wusste der Bürgermeister von Gütersloh nicht wohin mit einer leeren Zigarettenpackung. Er hat sie kurz entschlossen mitten ins Zentrum des Stadtplans gestellt und gesagt: „Das wird unser neues Rathaus.“ Da nahm der Sparkassendirektor zwei Streichholzschachteln, stapelt sie quer daneben und sagte: „Und das wird die Sparkasse. Geld und Politik müssen zusammenhalten.“ Der Bürgermeister beauftragte die besten Leute aus dem Liegenschaftsamt, der gelungenen architektonischen Lösung den letzten Schliff zu geben, und die hängten eine Uhr und ein Glockenspiel an die fensterlose Stirnseite. Fertig war das Rathaus. Und nebenan stand die Sparkasse.
Es herrscht da ein ständiges Kommen und Gehen, als ich gut 50 Jahre später am Gütersloher Rathaus vorbeirolle. Ich weiß nicht, was es ist, ob es die Durchquerung von Bielefeld war, die heimtückische Remoulade auf dem Käsebrötchen oder der Anblick des Gütersloher Rathauses mit Uhr und Glockenspiel auf der fensterlosen Stirnseite – ich bin auf einmal sehr müde. Ach, denke ich, die Leute hier sehen ganz und gar nicht so aus, als würden Sie meine Texte hören wollen. Hier brauche ich erst gar nicht zu fragen. Das ist natürlich eine Unverschämtheit gegenüber den Güterslohern. Aber wie da ständig welche ins Rathaus rennen, das verheißt nichts Gutes. Vermutlich müssen die Gütersloher Bürger einmal im Monat hin und kriegen dann im zuständigen Amt was zwischen die Hörner, damit sie willfährig bleiben.
Das würde erklären, warum diese Stadt keine nennenswerten Persönlichkeiten hervorgebracht hat. Zwei Komiker stehen auf der Liste der berühmten Bürger und natürlich der Firmengründer Carl Bertelsmann, der im 19. Jahrhundert fromme Bücher gedruckt hat. An der Carl-Bertelsmann-Straße aber sitzt die Bertelsmannstiftung. Und das macht Gütersloh zur heimlichen Hauptstadt der Republik. Viele der Scheußlichkeiten, mit denen uns die neoliberalen Regierungen unserer Tage das Leben schwer machen, die hat man sich bei der Bertelsmannstiftung ausgedacht, die Eckpunkte von Schröders Agenda 2010 und mithin Hartz IV, die Studiengebühren, die neoliberale Ausrichtung der Hochschulen und des Arbeitsmarktes. Die Stiftung wächst beständig. Ihr gehören rund 77 Prozent des Medienriesen Bertelsmann, und weil die Stiftung weniger ausgibt als der Bertelsmannkonzern durch sie an Steuern spart, finanziert hier der Steuerzahler seinen eigenen Kriechgang in die Knechtschaft des Geldadels.
Bielefeld, das war Spaß, aber hier bin ich in feindseliger Stimmung. In Touristinformationszentralen legen sie keinen großen Wert auf durchreisende Radfahrer. Die geben kaum etwas aus in der Stadt, schlürfen abends nur eine 5-Minuten-Terrine, und am nächsten Morgen sind sie wieder weg. Wer mit dem Fahrrad unterwegs ist, sollte in der Touristinformation nicht nach einer Unterkunft fragen, das lerne ich in Gütersloh. Sie schicken mich jedenfalls zu einem nahen Hotel. Dessen Außenwerbung ist völlig verrottet, so dass ich zuerst gar nicht glaube, dass es noch besteht. Die Rezeption ist auf der ersten Etage, und wenn ich sage, der Teppich vor dem Aufzug war nicht sauber, dann ist das euphemistisch. Der Teppich ist ein lumpiges Bazillenmutterschiff. Seine Flecken beherbergen uralte Universen von Mikroben. Der Aufzug ächzt bedenklich. Er kann schon 20 Jahre nicht mehr. Aber der Tüv verweigert ihm böswillig die Verschrottung. Vermutlich sitzt da ein Schwager des Hoteliers.
Als ich den Hotelier an der Rezeption sehe, wird mir ein wenig mulmig, und seine Freundlichkeit ist mir nicht geheuer. Aber das ist ein Vorurteil, durch sein Umfeld hervorgerufen. Wenn ihm Novizen mit Weihrauchfässern vorweg laufen würden, könnte er gewiss auch als katholischer Bischof durchgehen. Nein, er habe in seinem Hotel kein Zimmer frei. Aber in seiner Pension könne er mich für 30 Euro Vorkasse unterbringen. Ich weiß, dass es ein Fehler war, den Aufzug zu betreten. Mit dieser Entscheidung habe ich mich ausgeliefert. Jetzt ist mir alles egal. Ich händige dem Mann willenlos 30 Euro aus, er gibt mir einen Schlüssel, skizziert mir, wie ich die Pension finde, und schon bin ich auf der Treppe nach unten. Den Teppich schaue ich nicht mehr an, denn wenn ich Ekelherpes möchte, zahle ich nicht auch noch 30 Euro dafür.
Gütersloh II