Auf dem Sofa

Als ich aufbrechen musste, fiel ein wenig nasser Schnee, so dass ich das Rad stehen ließ und die Bahn nehmen wollte. Sie kam zuverlässig, als ich noch zu weit von der Haltestelle weg war, um sie zu erreichen. Selbst als junger Hüpfer hätte ich es nicht versucht, denn es ist doch zu blöd, Bus oder Bahn hinterherzuspurten und auf den letzten Metern zu scheitern. Also ließ ich mich von der heranrollenden Bahn überholen, ohne hinzuschauen, denn niemand sollte den Triumph verspüren, mir vor der Nase weggefahren zu sein. Wieder wunderte ich mich, dass es fast immer so ist, wenn ich die Straßenbahn nehmen will.

Ich breche stets zu einem ungefähren Zeitpunkt auf, weiß auch das Fahrplanintervall nicht, doch ich kann mich darauf verlassen, dass ich die Bahn schon in der Ferne sehe, wenn ich auf die Straße mit dem Bahngleis einbiege. Hat man etwa in der kosmischen Registratur einen der Beamten dazu abgestellt, dafür zu sorgen? Startet dieser Kerl die Bahn just, wenn ich vors Haus trete, so dass ich sie jedesmal ätschbätsch vorbeirollen sehe? Welch eine armselige Tätigkeit und eine Verschwendung von Ressourcen!

Es kommt vor, dass ich ein halbes Jahr nicht Bahn fahre, und nur für den seltenen Fall, dass ich es doch tue, jemanden abzustellen, ja, muss das denn sein? Hat man nichts Besseres zu tun? Offenbar herrscht in der galaktischen Behörde große Langeweile. Man hat einfach nicht genug Beschäftigung. Schließlich ist auch der beste Bleistift einmal bis auf seine klägliche Stummelexistenz runtergespitzt. Seitdem die Beschaffungsabteilung mit Recht das unmotivierte Bleistiftspitzen untersagt hat, trifft man sich zu völlig müßigen Diskussionen auf den langen Fluren. Da tritt einer vor seine Bürotür, um den auf dem Gang stehenden Kopierer zu nutzen, ein anderer begegnet ihm, und schon beginnen sie ein Schwätzchen. Man soll nicht glauben, die dunkel gebeizten Eichentüren zu den Büros wären schalldicht. Auch sitzen alle mit gespitzten Ohren. Sobald drinnen zu hören ist, dass auf dem Gang gesprochen wird, eilen die aus den angrenzenden Büros hinzu!

„Als er die Bahn verpasste, hat er keinerlei Regung gezeigt“, murrt Unterbeamter Fahrplan. „Wie soll man da noch mit Freude bei der Arbeit sein?“
„Er hätte eigentlich Glück haben müssen“, hub Herr Beckmesser an, „denn gestern erst war der Schornsteinfeger bei ihm.“
„Wir haben diesem Schornsteinfeger das glücksbringende Potential beschränken müssen, sagt Frau Abteilungsleiterin Füllhorn, „Wenn er weiterhin solche schludrig geschriebenen Ankündigungen in Hausflure hängt, wird er diese Kraft ganz einbüßen.“
„Ja, aber kommt da nicht manches Weltbild ins Schwanken?“, fragt Fahrplan.
Und so fort, die pure Langeweile verströmend.

Bei dichtem Schneetreiben am Nachmittag war es drinnen auf meinem Sofa kuschelig und recht schön. Schon als Junge habe ich gerne auf dem Sofa gelegen, der Welt den Rücken zugedreht und gelesen. Jedes Buch öffnete Türen zu imaginären Welten. Das Sofa ist ein besonderer Ort, auch ohne Buch ein durchlässiger Zugang zu Traumreichen. Glücklicherweise ist der Durchlass einseitig. Denn ich möchte nicht erleben, wie mir gelangweilte Beamte der kosmischen Registratur plötzlich entgegenpurzeln und Platz auf dem Sofa beanspruchen. Am Ende wollen die Deppen noch meine Bleistifte spitzen.

Die Nachricht des Schornsteinfegers

Aushang im Treppenhaus – Foto: JvdL – Größer: Klicken!

Zwei kuriose Aushänge in unserem Treppenhaus. Zuerst kündigte der Schornsteinfeger der Hausgemeinschaft handschriftlich sein Kommen an, wobei die jetzt nachgemalte Acht zuvor kaum eindeutig zu identifizieren war, dann tauchte Aushang zwei einer Nachbarin auf, die beim Schornsteinfeger nachgefragt hatte. Wie sich herausstellte, war das Misstrauen gegenüber der handschriftlich hingeschmierten Information berechtigt, denn der Schreiber hatte sich um einen Monat vertan, der Dienstag ist eine Falschinformation.

Beim Versuch den ursprünglichen Aushang zu lesen, habe ich gedacht, selten eine derart entgleiste Handschrift gesehen zu haben. Geht von ihr deshalb die nur schwammige Verbindlichkeit aus, oder zeigt sich an diesem Extrembeispiel ein Bedeutungsverlust der Handschriftlichkeit?

Der Handschrift widerführe dann das Gleiche wie dem gesprochenen Wort in mündlichen Kulturen. Mit dem Übergang von einer oralen in die literale Kultur sinkt die Wertschätzung des vorangegangenen Mediums, der Mündlichkeit. Ein gegebenes Wort gilt jetzt weniger als ein handschriftlicher Vertrag. Die schriftliche Vereinbarung ist die Urkunde (im Sinne der ersten Kunde), nicht das Gesagte.

Noch hat wenigstens die handschriftliche Unterschrift ihren Wert behalten, doch es mehrt sich die Kommunikation, im Geschäftsbrief, in Verwaltungsschreiben, die ohne Unterschrift gültig ist. Bei Online-Texten, etwa Bewerbungen, ist möglich, die Unterschrift durch eine elektronische Signatur zu ersetzen.

Wann kommt denn jetzt der Schornsteinfeger? Am Donnerstag, dem 28. Januar, gemäß der vorläufig noch bestehenden Macht des gedruckten Wortes.

Jüngling der Schwarzen Kunst – Aus zweiter Hand

„Ich habe mir die Filmplakate des neuen Hitchcock angesehen, Herr Ewald.“
„Du meinst ‚Psycho‘? So neu ist der nicht. Soviel ich weiß von 1960.“
„Aber das Kino auf der Oberstraße zeigt ihn gerade. Jedenfalls gehen mir die ausgehängten Fotos nicht aus dem Kopf. Ich muss dauernd rätseln, was es mit dem unheimlichen Haus auf sich hat.“
„Irgendwann wirst du es herausfinden.“
„Ein schwacher Trost für einen, der von allem immer nur die Außenbilder hat.“
„Geht’s wieder los mit der Leier: ‚Ich bin hier eingesperrt und erfahre so wenig von der Welt?‘ Wir alle haben von der Welt überwiegend Bilder, die im Aushangkasten hängen. Was wir unmittelbar mit unseren Sinnen erfassen können, ist minimal gemessen an dem, was uns aus zweiter Hand unter kommt.“
„Aus zweiter Hand?“ Weiterlesen

Fragen Sie mich ruhig nach Tomaten!

Vor langer Zeit, als die Frankfurter Rundschau (FR) noch eine große linksliberale Tageszeitung war, nahm ich teil an einem zeitungskundlichen Seminar für Lehrer im FR-Verlagsgebäude in Neu-Isenburg. An einem Samstagmorgen wurden wir per Bus zu einem Neu-Isenburger Einkaufszentrum gefahren, um dort jede/jeder für sich das Thema für eine Reportage zu finden. Neben mir im Bus saß eine flotte Kollegin aus Essen. Sie erzählte mir von einer Anmachstrategie in Supermärkten. Mann sieht eine ihn interessierende Frau und fragt: „Wissen Sie, wo hier das Öl ist?“
Sie: „Kochöl oder Körperöl?“
Er: „Körperöl.“

Natürlich funktioniere das auch mit Rollentausch, sagte die Kollegin. Wichtig sei das Signal, die Aufmerksamkeit vom Kochen auf den Körper zu lenken. Ich hatte derlei noch nie gehört, kam auch nicht auf die Idee, eine derartige Recherche im Neu-Isenburger Einkaufszentrum zu beginnen, sondern schrieb lieber über einen alten Duden aus dem Schaufenster einer Buchhandlung. Die Seelenruhe ist ein hohes Gut.

Heute vormittag war ich einkaufen. In der Gemüseabteilung fragte mich eine ältere Dame:
„Darf ich Sie mal ansprechen?“
„Ja?“
„Ich suche die preiswertesten Tomaten.“
„Da kann ich Ihnen leider nicht helfen.“
Sie wandte sich ab und fand abgepackte Tomaten zu 1,29 Euro.

Auf dem Heimweg rätselte ich über ihr Begehr. Ich trug einen Mantel. Sie konnte mich also nicht mit einem Marktmitarbeiter verwechselt haben. Es ging nicht um Öle, also hatte sie kein weitergehendes Interesse. Sie hatte nach den preiswertesten, nicht nach den billigsten Tomaten gefragt. Beides ist nicht verlockend. Vielleicht wollte sie nur mal wieder die Stimme gegen wen erheben, wahrgenommen werden und für ein Sekündchen der lockdown-bedingten Isolation entkommen.

Schlechter Witz über weißes Zeug

Auf allem lastet dicke Schicht;
Was mag das sein? Man weiß es nicht.
Vermutlich wurden über Nacht,
Rasierschaumdosen leer gemacht.

Und ist erst alles eingeschmiert,
Dann wird das ganze Land rasiert.
Sein Zustand macht die Götter krank,
Drum hobeln sie den Erdball blank.

Entschuldigung, hab’ Spaß gemacht
Und hoffe sehr, dass einer lacht.
Man trinke ruhig einen Tee,
Das weiße Zeug, das ist nur Schnee.

(Trithemius.twoday.net Januar 2010)

Jüngling der Schwarzen Kunst – Erste Küsse

Hannes und Pesch gingen von der Berufsschule zu Fuß zurück in die Stadt. Sie unterhielten sich über ihren Wunsch, nach Abschluss der Lehre, Grafiker zu werden. Pesch sagte: „Ein guter Grafiker kann einen Trauerbrief sogar in Rot gestalten.“
„Vielleicht, aber vergiss nicht, dass alle Farben was bedeuten“, meinte Hannes. „Schwarz ist die Farbe der Trauer, Rot die Farbe der Liebe.“
„Woher willst du das wissen?“
„Gelesen.“
„Liebe! Hast du schon eine Freundin?“
„Ja.“
„Und wie heißt sie?“
„Erika.“
„Erzähl!“
„Ich treffe sie jeden Morgen im Bus. Wir fahren zusammen nach Neuß.“
„Ihr fahrt nur zusammen Bus? So eine Freundin meine ich nicht, sondern eine, die man küsst. Hast du schon mal?“ Weiterlesen

Jüngling der Schwarzen Kunst – Herr Ewald ist zu dick

„Sie, Sie und Sie, Sie sind entlassen!“ Hof zeigte weitausholend in die Runde der Setzerkollegen und schmiss alle raus. „Holt euch die Papiere, Ihr faulen Säcke!“
Der Junior hatte verdeckt in seiner Gasse gesessen. Jetzt erhob er sich und trat Hof entgegen: „Was soll das, Herr Hof?“
Hof stammelte: „Entschuldigung, war nur ein Scherz, Herr Eupen.“
„Unterlassen Sie das!“
„So ein Depp!“, brummelte Ewald.
„Der ist sicher sauer, weil der Brief bei ihm angekommen ist“, sagte Hannes.
„Wann hast du ihn abgeschickt?“
„Vorgestern in den Briefkasten gesteckt.“
„Doch hoffentlich nicht in eurem Dorf?“
„Ne, Herr Ewald, so blöd bin ich nicht, dass ich mich mit dem Poststempel von Nettesheim verdächtig mache. Ich habe ihn von hier abgeschickt, als ich mittags einkaufen war.“
„Dann dürfte Hof den Brief schon haben.“
„So richtig freuen kann ich mich über unseren Streich nicht“, sagte Hannes.
„Was ist los?“ Weiterlesen

Mein innerer Blockwart und ich

Ich war zu spät. Deshalb mied ich die großen Schleifen des Radwegs auf der Vennbahntrasse und wählte einen direkten Weg in den ländlichen Aachener Süden. Das war keine gute Idee, denn just vor mir sperrte ein Bauer die Straße mit einem Elektrodraht und trieb seine Kühe auf die Wiese. Er hatte deren zwei, getrennt durch einen Weg. Einige Kühe trotteten versehentlich auf die falsche Wiese. Als die Kühe der Herde das bemerkten, brüllten sie zu den Abweichlerinnen hinüber. Ich hatte Zeit, mir das unterwürfige Muhen und Blöken zu übersetzen: „He! Ihr seid falsch gegangen, kommt hierher! Der Bauer wird gleich sauer, und dann gibt’s was mit dem Knüppel auf den Arsch!“ Die Abweichlerinnen wandten sich nun um und trotteten zurück, um die falsche Wiese durch das Gatter zu verlassen. Dabei mussten sie gegen die Richtung des Herdenzugs laufen, was mir eine Verstandesleistung zu sein schien. Abweichler zu ermahnen, entspricht wohl eher dem ererbten Verhaltensmuster von Herdenvieh.

Wegen der Corona-Hygienemaßnahmen verlangt der Real-Supermarkt von Kunden, einen Einkaufswagen zu benutzen. Paare müssen laut Ansage je einen Wagen nehmen. Ich kaufe dort ungern ein, denn der Markt ist zu groß, und es ist mühsam, einen der überdimensionierten Wägen hindurchzuschieben. Ein mittelaltes Paar mit nur einem Einkaufswagen fällt mir auf. Sie lädt Produkte aus den Regalen in den Wagen, er steht teilnahmslos mit hinterm Rücken verschränkten Armen im Weg. Da steigen unangenehme Regungen in mir auf. Müssten die nicht beide einen Wagen haben?, fragt ein innerer Blockwart. Ich hätte nicht gedacht, dass so ein Kleingeist bei mir zu Untermiete wohnt. Die Logik wendet ein, dass ein träge herumstehender Kerl mit zusätzlichem Einkaufswagen erst recht den Weg versperren würde. Den inneren Blockwart stört das nicht. Er hat ältere Rechte als Madame Logik, stammt wohl aus der Frühzeit, als der Mensch noch näher am Tier war.

Damit auch einen Einkaufswagen nutzen kann, wer keine passende Münze bei sich hat, sind alle Wägen frei verfügbar. Das führt dazu, dass sie nicht mehr sauber zusammengeschoben werden. Manche nehmen ihren Einkaufswagen mit zum Auto, laden aus und lassen ihn einfach herumstehen. Auf dem Bürgersteig hat eine Frau ihren Einkauf aus dem Einkaufswagen in die Tasche geladen und strebt jetzt ihrem am Straßenrand parkenden Auto zu. Da setzt sich der Wagen auf dem leicht abschüssigen Bürgersteig in Bewegung. Ich rufe: „Vorsicht, Ihr Wagen!“
Sie dreht sich um und ruft fröhlich lachend:
„Der läuft mir hinterher. Wenn der Mann das doch auch machen würde.“
Dann schenkt sie mir ein Lächeln und sagt: „Schönen Tag noch!“
Das weist den Blockwart locker in die Schranken.

Über Wasserkocher, Hirsebrei und Zauberbesen

Vor einiger Zeit kaufte ich einen Wasserkocher, der das Wasser blau beleuchtet, was besonders ansprechend ist, derweil das Wasser kocht, blubbert und wallt.

Neben dieser hübschen, doch unnötigen Funktion entwickelte der Kocher bald zwei Macken: Der Kippschalter rastet nicht mehr zuverlässig ein; die Kochfunktion, erkennbar am blauen Licht, lässt sich nicht immer aktivieren. Diese Macken verschlimmern sich. Als ich heute das Gerät durch allerlei diffizile Verrichtungen zum Arbeiten bringen wollte und nicht direkt erfolgreich war, fiel mir ein Spruch aus meiner Heimat ein: „Do muss me jet bej sare“ (Dabei muss man etwas sagen), was bedeutet, dass hier eine Beschwörungsformel erforderlich ist. Manche Dinge funktionieren nur, wenn man etwas dabei sagt. „Jet“ oder „etwas“ verschleiert die damit verbundene magische Vorstellung. Vielleicht ist mir die sprachmagische Idee dahinter deshalb eben erst aufgefallen.

Dass keine Formel genannt wird, dafür sehe ich drei mögliche Gründe:

    – sie ist in Vergessenheit geraten;
    – es gibt keine Formel, die für alle Zwecke gültig ist;
    – sie wird nicht verraten, damit sie kein Unheil anrichtet.

Letzteres finde ich besonders plausibel. Zu einer Beschwörungsformel gehört auch die Kenntnis, wie sie zu lösen ist. Im Märchen „Der süße Brei“ fehlt der Mutter die Formel, um das einmal in Kochgang gesetzte Töpfchen zu stoppen; Goethes „Zauberlehrling“ weiß die Besen nicht zu bändigen.

Gemeinhin reicht es, eine Zauberformel rückwärts zu lesen. Demgemäß schreibt der Theologe Gottfried Holtz: “in den Sagen wimmelt es von Berichten, dass der Zauber nicht wieder gelöst werden konnte, weil ein Lehrling, ein halber Könner nichts vom Rückwärtslesen der Formel wusste.” Selbst dieses Wissen reicht nicht, wenn die Beschwörungsformel die Form eines Palindroms hat.

Meinen Wasserkocher werde ich wohl bald ersetzen müssen, denn was man dazu sagen muss, wurde mir nicht mitgeteilt – trotz Anleitung in allen Weltsprachen.

Einauge sei wachsam – Le Cyclop von Jean Tinguely

Es war vieles schlecht im Jahr 2020, aber nicht alles, zumindest für mich nicht. Im Juli waren meine Liebste und ich zu Gast bei Freunden in Fontainebleau. Unser Gastgeber fuhr mit uns in einen Wald bei Milly-la-Forêt, um uns die gewaltige Plastik „le Cyclop“ von Jean Tinguely zu zeigen. Hier eine Beschreibung:

Im Jahr 1971 erschien im Berner Tagblatt eine Anzeige: «Jean Tinguely sucht Bauschlosser oder Schlosser (Deutschschweizer), vielseitig und schwindelfrei, Autofahrer (Jasskenntnisse erwünscht), f.d. Konstruktion einer Riesenplastik in der Nähe von Paris für die Dauer von ca. 6 Monaten.»

Es meldete sich der Berner Maschinenschlosser Seppi Imhof. Er blieb 20 Jahre, bis zu Jean Tinguelys Tod (1991) dessen Assistent. Im Gespräch mit der Baseler Wochenzeitung TagesWoche berichtet Seppi Imhof von den Anfängen der Plastik:

    „Als ich das erste Mal in den Wald bei Milly-la-Forêt kam, standen ein paar Eisenstangen herum, eine Notstromgruppe, etwas Werkzeug und ein Schweissgerät – viel mehr war noch nicht vorhanden. Rico Weber und Paul Wiedmer hatten bereits damit begonnen, im Wald an diesem Werk zu bricolieren. Es zeigte sich aber, dass sie alleine nicht zurande kamen. Also fing ich an, und aus dem halben wurde ein ganzes Jahr, wurden zwei, drei und noch mehr Jahre. Schliesslich arbeiteten wir 20 Jahre an diesem Kopf. […]“

Das aus dem Französischen stammende Verb „bricolieren“ [franz. bricoler = herumbasteln] meint das Verfahren, Dinge ihrem angestammten Kontext zu entnehmen und in neue Zusammenhänge zu bringen. Bezogen auf die Materialkunst zeigt sich hier die Nähe zu den Dada-Assemblagen, besonders zu Kurt Schwitters‘ Merzbauten und zu Tatlins Maschinenkunst.

Fotografisch kaum zu fassen: Le cyclop – Foto: JvdL


Das enorme Fundament des Cyclops lässt vermuten, dass Tinguely bereits in den Anfängen eine Vorstellung von der späteren Größe seines Cyclops gehabt haben muss. Heute erhebt sich zwischen den Baumwipfeln eine 22 Meter hohe Eisen- und Stahlkonstruktion mit einem Gewicht von etwa 300 Tonnen.

Das Gesicht des Cyclopen – Foto: Susanne Braun – zum Vergrößern bitte klicken!

Das verspiegelte Gesicht des Cyclopen wurde von der Malerin und Bildhauerin Niki de Saint Phalle gestaltet. Einzelheiten seines Innenlebens waren von Zufallsfunden bestimmt. Man verbaute, was der örtliche Schrotthändler bereitstellen konnte und schreckte auch nicht vor Diebstahl zurück. Den in 20 Metern Höhe montierten Güterwaggon, zum Gedenken an die im Nationalsozialismus deportierten und ermordeten Juden, schleppte man ungehindert von einem Abstellgleis der nationalen Eisenbahngesellschaft Société nationale des chemins de fer français (SNCF), derweil die Bahnbeamten gerade streikten. Für den Waggon hat die Materialkünstlerin Eva Aeppli 28 Puppen mit eindrucksvollen Gesichtsmasken und in langen braunen Gewändern geschaffen und damit ein Denkmal der Trauer gesetzt.

So hat Tinguelys zweite Ehefrau Niki de Saint Phalle dem Cyclopen sein heiteres Gesicht gegeben, während das Werk seiner ersten Ehefrau Eva Aeppli ihm Bedeutungsschwere verleiht. Als Betrachter rätselt man über das Innenleben des Cyclopen wie die frühen Menschen, als sie sich staunend über das erstmals freigelegte Innere ihres Mitmenschen gebeugt haben. Und wie aus dem Gedärm des Menschen bisweilen rätselhafte Geräusche tönen, scheppert, quietscht, knallt und kracht es gelegentlich aus dem Inneren des Cyclopen. Polierte Metallkugeln werden von einem Transportsystem nach oben befördert, um dann lärmend durch eine roh verschweißte Kugelbahnkonstruktion nach unten zu stürzen. Ein gigantisches Räderwerk setzt sich und andere Bauteile in Bewegung, um letztlich nichts als Getöse hervorzubringen.

Die kinetische Gewalt der Konstruktion im Zusammenwirken mit Rost und Korrosion bringt Verschleiß mit sich. Tinguely hat keine Anweisung für die Restaurierung seines Werks hinterlassen, so dass die öffentlich bestellten Restauratoren (die Plastik gehört inzwischen dem französischen Staat) vor der Frage stehen, wie sie Bauteile ersetzen können, ohne die Einheit des Gesamtkunstwerks zu zerstören. Was einst durch Materialfunde und spontane Eingebung willkürlich entstand, wird auf diese Weise zum buchhalterlich konservierten Gedöns.

Normalerweise ist der Cyclop begehbar, enthält in seinem Inneren Objekte und Plastiken verschiedener Künstler. Coronabedingt darf das Innere leider derzeit nicht betreten werden.