Mein Kontrakt als Zeichner

Ab dem heutigen Montag werden die Schwäbin und ich für eine Woche zu Freunde- und Verwandtenbesuchen ins Rheinland reisen. Von Bonn, unserer letzten Station, werde ich dann alleine nach Aachen zurück fahren und dort für drei Wochen in eine hübsche Ferienwohnung in einem historischen Stadttor einziehen, nicht als Stadtschreiber, wie das Ambiente nahelegt, sondern zum analogen Zeichnen von Illustrationen. Abseits alltäglicher Ablenkung und ohne digitale Zerstreuung durch Blogs und Internet erhoffe ich mir die innere Sammlung zur Rückbesinnung und Wiedererweckung alter Fähigkeiten. Denn ich habe gut zwei Jahrzehnte kaum gezeichnet. Dabei war ich in den 1990-er Jahren guten Mutes.

Damals hatte die Titanic diesen Cartoon von mir veröffentlicht, worauf ich hoffte, das wäre der Auftakt für weitere Cartoons. Auf einem Titanic-Buchmessenfest sprach ich mit dem damaligen Chefredakteur Hans Zippert und sagte: „Ich würde gerne mehr für Titanic zeichnen.“ Zippert wies auf den nahebei stehenden Heribert Lenz und sagte: „Da musst du zuerst Greser und Lenz ermorden.“
„Oje. Sowas kann ich nicht. Außerdem ist Achim Greser gar nicht hier.““

Das waren schlechte Nachrichten und die Option außerhalb meiner Handlungsmöglichkeiten, zu denen weder sich hochzumorden noch sich hochzuschlafen gehört. Mir war sofort klar, wie aussichtslos es war, als Zeichner einen Fuß in die Titanic-Tür zu bekommen. Zipperts Rat: „Versuche es mal beim Eulenspiegel!“, wollte ich nicht befolgen.

Damit endete meine Karriere als Zeichner, und bald schrieb ich nur noch für die Rubrik „Briefe an die Leser“, bis zum Jahr 2007, als mich Bloggen und eigene Buchprojekte zu sehr in Anspruch nahmen. Nun hat meine liebste Schwäbin eine hübsche Kindergeschichte geschrieben. Ich habe versprochen, sie zu illustrieren und das ist Grund genug, in Klausur zu gehen und zu schauen, ob ich das noch hinbekomme. Im Teestübchen-Blog stehen also vier Wochen Pause an. Falls ich gut vorankomme, melde ich mich zwischendurch mal aus dem Off.

Bis dahin wünsche ich allen eine gute Zeit, Ihr und euer

NDR – Das Übel hat Metastasen

Der NDR hat über Jahre Beiträge im Sinne einer PR-Agentur gesendet, die der Tochter der NDR-Direktorin Sabine Rossbach gehört. Frau Rossbach habe die Anregungen der Agentur mit den Worten „Sollten wir haben“ oder „Mit der Bitte um Berichterstattung“ an die Redaktion des „Hamburg Journals“ weitergereicht. Im „Flurfunk“ sei das ein offenes Geheimnis gewesen, doch niemand habe den Mut gehabt, sich der mächtigen Direktorin zu widersetzen. Den Vorwürfen ging am 14. September 2022, um 22:45 Uhr das NDR-Medienmagazin Zapp nach. Sabine Rossbach ist beurlaubt, und der NDR verspricht Aufklärung.

Zu hören war von „einem Klima der Angst“ im Umgang mit Sabine Rossbach, das besonders die freien Mitarbeitenden so empfunden hätten. Mit den Worten ihres Sprechers Joern Strehler-Pohl: „Es gibt die verbreitete Sorge, dass, wenn man den Mund aufmacht, der Rahmenvertrag nicht mehr verlängert wird und man sich tatsächlich einen neuen Job suchen muss (…)“ Im maßgeschneiderten weißen Hemd setzte sich der NDR-Chefjustitiar Michael Kühn vor die Zapp-Reporterin und sagte zur Sache nichts. Er wolle dem Ergebnis der Untersuchung nicht vorgreifen. Überhaupt scheint der Aufklärungswille nicht groß zu sein. Wenn die Sitten in einer Institution einmal verkommen sind, wenn der Hase schon eine Weile falsch gelaufen ist, haben sich alle darauf eingerichtet. Man ist ein Rädchen in einer Maschine, hat seinen Platz und weiß, wie man zu ticken hat, wer das große Rad dreht, dessen Lauf man nicht behindern darf. Wer sich da nicht reibungslos einfügt, wer sich querstellt, wird bald von der Maschine abgestoßen.

Verkommene Sitten zeigen sich dann auch anderswo. Folglich wunderte ich mich nicht, als am 15.9. in der Sendung „Hallo Niedersachsen“ ein PR-Beitrag über einen norddeutschen Freizeitpark lief. „Reporter“ Johannes Koch hatte sich in das Bärenkostüm des Maskottchens „Wumbo“ stecken lassen und war für einen ganzen langen Arbeitstag darin herumgelaufen. Sein schwitzendes Gesicht und seine Erschöpfung standen im Vordergrund der Berichterstattung. Der Kerl jammerte in den Pausen schier herzerweichend. Nur drängte sich mir die Frage auf: „Warum machst du das, du Depp?“ Geht es im Beitrag um die Situation der Billiglöhner in Maskottchenkostümen? Nein, kein Thema. Die ganze Aktion war schlicht Werbung für den Freizeitpark. Moderator Arne-Torben Voigts hatte den Beitrag angekündigt mit: „Der Johannes wollte nämlich mal ausprobieren, wie das ist als Maskottchen in einem Freizeitpark. Falls Sie jetzt schon schmunzeln müssen, dann viel Freude bei den kommenden fünf Minuten.“

Ich musste nicht schmunzeln und wollte leider brechen. Die journalistische Relevanz des Beitrags war gleich null. Dass Johannes Koch am eigenen Leib erfuhr, wie sich so ein stummes, winkendes Maskottchen fühlt, während es dem Gaudi der Freizeitparkbesucher dient, hätte auf einer überindividuellen Ebene Anlass zu Fragen gegeben: Wer übernimmt eine derart schweißtreibende Arbeit? Wie ist die Bezahlung? Werden solche Tätigkeiten über die Arbeitsagentur vermittelt? Welche Perspektive hat ein Maskottchen, winkt eventuell die Beförderung zum Ober-Wumbo? Es gibt 117 Freizeitparks in Deutschland. Wieviele Maskottchen gibt es? Sind sie gewerkschaftlich organisiert? Keine dieser Fragen wurde angerissen. Die Botschaft des Beitrags: Es gibt diesen Freizeitpark in Soltau, sein Maskottchen heißt Wumbo. Es darf nicht reden, sondern nur herumtappen und winken. Ein NDR-„Reporter“ hat in der Maskerade entsetzlich geschwitzt. Vielleicht sollte der Beitrag nebenher zeigen, dass ein freier Mitarbeiter beim NDR sich nicht zu schade sein darf, den Wumbo-Deppen zu machen.

Verantwortet haben den Mist: Thorsten Hapke (Leitung der Sendung), Susanne Wachhaus (Redaktionsleiterin) und Produktionsleiter/in Wolfgang Feist.
Glückwunsch! Ein journalistisches Meisterstück im Zirkus des schlechten Geschmacks.

Doppeldecker-IC 2435

Der Doppeldecker-IC von Emden nach Leipzig über Oldenburg, Bremen und Hannover ist überfüllt. Die Bahn hatte schon gewarnt: „Hohe Auslastung erwartet.“ Wie geht das? Wie kann die Bahn die Auslastung vorhersagen, obwohl sie nicht weiß, wer an diesem Tag, zu dieser Zeit in die Schuhe springt, Frau, Kind oder andere Lieben verlässt, um nach Leipzig oder sonst wo zu fahren? Der Doppeldecker-IC von Emden nach Leipzig über Oldenburg, Bremen und Hannover muss sonntags regelmäßig überfüllt sein. Schon oft müssen die ohne Sitzplatz dicht an dicht auf den Treppenstufen gesessen haben, so dass kein Durchsteigen ist, ohne den einen oder anderen mit dem Fuß in die Weichteile oder am Kopf zu treffen.

Seit längerem haben Zugbegleiter einer fernen Bahnzentrale gemeldet: „Puh! Der IC 2435 war wieder pickepackevoll.“ Die Bahn reagiert darauf mit Warnungen. Sie könnte natürlich einen zusätzlichen Waggon anhängen. Aber man gönnt den Leuten die Sonntagsunterhaltung, weil es gewiss welche gibt, die sich über diese drangvolle Enge nen Keks freuen. Sie können sich an anderen reiben, bekommen von unbeholfenen Fahrgästen den einen oder anderen Tritt, und wenn sich der extra für den IC 2435 ausgesuchte kugelrunde Zugbegleiter durchquetscht, werden sie schön an die Seite gepresst und jappen wie ein auf die Planken eines Krabbenkutters geworfener Beifangfisch. Manche wählen einen überfüllten Zug in freudiger Erwartung, wie es ja auch Leute gibt, die absichtlich in einen Stau fahren oder sich zu ihrer Befriedigung mit Ruten schlagen lassen.

Übrigens ist man bei der Bahn kein Fahrgast mehr; nach neuer Sprachregelung ist man nur noch Gast, vielleicht weil die Bahn manchmal steht statt zu fahren: „Verehrte Gäste, leider fehlt in unserem Zug der Wagen X. Gäste mit Reservierungen für diesen Wagen verteilen sich bitte auf die anderen Wagen!“ Also je nach Platz Füße in Wagen 12, Arme und Beine in Wagen 13, ach nein, der fehlt auch wegen der Triskaidekaphobie, in 14, den Hintern in 15 – weitere Teile nach Belieben.

Im IC 2435 saß hinter mir eine Frauenstimme. Also, ich nahm sie zunächst nur als Stimme wahr, vermutete allerdings, dass eine ganze Frau dazu gehörte. Indem sie sprach, wuchs in mir der Wunsch, sie unbedingt beim Aussteigen in Hannover anzuschauen, der Revolverschnauze wegen. Damit meine ich nichts Derbes, sondern, dass sie die Wörter in rascher Folge wie aus einem Trommelrevolver abfeuerte. Sie sprach etwa 10 mal schneller als die neben mir sitzende Schwäbin und 20 mal schneller als ich. Am anderen Ort zu anderer Zeit war ich schon vom munter dahin plätschernden Reden gleich einem sprudelnden Bächlein fasziniert gewesen. Die Stimme hinter mir war zwar ähnlich wohlklingend, doch eher wie ein dahin schießendes Schmelzwasser, das Menschen, Autos, Baumstämme und sogar Brücken mitreißt. Der Redefluss wurde von einem eilfertig zustimmenden Mann angetrieben. Es ging um Juristerei, Arbeit für ein Ministerium, juristische Prüfung von Gesetzesvorlagen, so dass ich mich wunderte, dass derlei wichtige Persönlichkeiten wie die Stimmenbesitzer in der 2. Klasse mitfuhren. Vermutlich fehlte der für sie reservierte 1.-Klasse-Wagen, so dass die beiden sich unters gemeine Volk hatten verteilen müssen.

Beim Aussteigen warf ich einen Blick auf die Stimmenbesitzerin und fand sie unscheinbar. Das einzig interessante an ihr war ihre Stimme, weshalb sie auch damit prunkte im vollbesetzten IC 2435.

Rojin

„Wissen Sie, was „kontemplativ bedeutet?“, fragte ich die junge Friseurin, nachdem ich eine Weile fasziniert im Spiegel beobachtet hatte, wie sie überlegt und verhalten mit der Schere Haar um Haar kürzte.
„Nein.“
„Kontemplativ“ meint, in eine Arbeit versunken zu sein. So schneiden Sie mir die Haare, kontemplativ.“
„Aber positiv?“, fragte sie und sprach wie sie schnitt.
„Absolut. Es ist ein Erlebnis.“
„Danke.“
Im Augenblick war sie durch meine Bemerkung abgelenkt. Dann glitt sie in die Versenkung zurück und widmete sich schweigend meinen Haaren.

Irgendwann sagte sie: „Das lohnt sich heute.“
Während sie mir vorsichtig den Bart stutzte, sagte ich: „Der Bart ist eine Herausforderung?“
„Man braucht Geduld“, erwiderte sie gelassen.

Beim Bezahlen bat ich sie um ihren Namen, damit ich bei der nächsten Terminvereinbarung nach ihr fragen könnte. Sie schrieb ihn mir auf: „Rojin.“
„Sind Ihre Eltern Iraner?“
„Nein, wir sind Kurden“, sagte sie nicht ohne Stolz.
Später schaute ich nach und fand: „Rojin ist kurdisch und bedeutet der Tag, die Sonne oder der Sonnenaufgang.“

Aus dem Vollen der Wortschatzkiste

Zeitreise ins Jahr 1982. Ich war gerade Lehrer für Deutsch und Kunst an einem Aachener Gymnasium geworden. Obwohl die konkrete Erinnerung fehlt, muss ich mir in diesem Jahr den Duden „Das Fremdwörterbuch“, 4. Auflage, gekauft haben. Das Buch enthält 48.000 Fremdwörter.

Die im Jahr 1986 erschienene 19. Auflage des Duden „Die Rechtschreibung“ hat rund 110.000 Stichwörter. Der hochdeutsche Wortschatz umfasste demnach in den 1980-er Jahren etwa 150.000 Wörter. Da auch der Rechtschreibduden die gängigen Fremdwörter enthält, müssten etwa 10 Prozent Dubletten abgezogen werden.
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Vor einigen Tagen fand ich in der Nachbarschaft einen ausgesetzten Fremdwörterduden, genauer die 9. Auflage 2006, und nahm das Buch mit nach Hause. Ich bin bekanntlich stolzer Besitzer einer Duden-Sammlung. Sie hat einst manches Frauenherz hüpfen lassen, vor allem aber die Philatelisten mit ihren Briefmarkensammlungen allesamt ins Abseits gestellt. Meine Sammlung besteht aus 35 Bänden verschiedener Ausgaben der Duden, von 1905 an. Leider teilt sie das Schicksal mit Sammlungen abgestempelter Briefmarken. Da konnte manche Schönheit die Enttäuschung nicht verhehlen und sagte: „Die Duden-Ausgaben gelten ja alle nicht mehr, sind doch längst überholt.“ So wurde meine prächtige Duden-Sammlung schon oft schnöde entwertet. Ihren eigentlichen Forschungszweck erfüllt sie trotzdem:

Wortschatz laut Duden, 1980-er und 2000-er Jahre, Foto: JvdL

Der Fremdwörterduden 2006 ist um einiges umfangreicher als der 1982-er und enthält nun 55.000 Stichwörter. Der zeitgleiche Rechtschreibduden, 24. Auflage 2006, enthält 130.000 Stichwörter. Der deutsche Wortschatz wäre demnach in einem viertel Jahrhundert auf 185.000 Wörter angeschwollen. Natürlich hat sich in dieser Zeit das menschliche Wissen vervielfältigt; durch die Globalisierung sind fremde Kulturbereiche uns näher gerückt. Besonders die Digitalisierung hat eine Fülle neuer Begriffe hervorgebracht. Der erweiterte Wortschatz deutet darauf hin, dass unsere Sprache höchst lebendig auf veränderte Weltläufe reagiert.


Ein großer Wortschatz erlaubt dem Einzelnen die differenzierte Erfassung der Welt; vorausgesetzt, die lexikalische Zunahme spiegelt sich in seiner Sprachkompetenz. Trotzdem fällt mir beim Anschwellen unseres Wortschatzes ein, worauf der Altertumsforscher Werner Ekschmitt schon 1968 hingewiesen hat. Er beschreibt die Bibliothek von Alexandria, die vor ihrer Zerstörung geschätzte 400.000 Papyrusrollen enthalten haben soll. Für Ekschmitt ist das Anwachsen der Textproduktion ein Zeichen für untergehende Kulturen. Die Menschen untergehender Kulturen könnten die Wörter nicht mehr bei sich behalten. Nicht nur anschwellende Textproduktion verweist auf Weltuntergangs-Logorrhoe, sondern auch die rasante Wortschatzerweiterung und der zunehmende Wortgebrauch am Telefon. Ungewollt hellsichtig visualisierte T-mobile das Phänomen schon 2007. Mit dem Flatrate-Quatschen verdünnt sich die fassbare Welt, weil die Wörter an Substanz verlieren.

Kurzes Behagen, Wirsing und eine überflüssige Faltung

Muss mich sehr wundern, dass die Fernsehanstalten sich sogenannte „Adelsexperten“ halten, in einem Land ohne Monarchie wohlgemerkt. Derzeit kriechen die Adelsexperten in Scharen aus ihren Löchern. Früher kannte ich nur Rolf Seelmann-Eggebert vom NDR, der ja glücklich im Ruhestand ist. „Adelsexperten“ berichten von einem Eiland, das „Aus-gut-unterrichteten-Kreisen“ heißt. Bei „Zeitung in der Schule“ wählten Schülerinnen „Gekrönte Häupter“ gerne als Langzeitthema. Sie schnitten Adelsberichte aus den Zeitungen aus und wurden im zarten Alter bereits durch Wörter wie „mutmaßlich“, „angeblich“, „anscheinend“, „aller Voraussicht nach“ verdorben.
Als ich letztens einen Wirsing aus nachbarschaftlichem Bioanbau aufschnitt, hatte er drei Bewohner, mir völlig unbekannte kleine dunkelbraune Käfer, deren Kosmos wohl dieser Wirsing war. Ich hätte gerne mehr über diese Welt erfahren und hoffe auf Nachricht aus gut unterrichteten Kreisen.
In Oldenburger Bussen des VBN muss man den Fahrschein längs falten, damit er in den Schlitz des Entwerterautomats passt. Was Oldenburger und Oldenburgerinnen wie selbstverständlich tun, entlarvt einen gleich als bloody tourist, denn mir musste das die Busfahrerin sagen. Eine Faltanweisung steht freilich auch auf der Vorderseite. Ohne Faltanweisung könnte das Ticket schmal genug für den Automaten sein. Es ließe sich die Hälfte des Papiers sparen.
Schopenhauer hat es schon beobachtet: „Wenn der ganze Leib gesund, aber irgend eine kleine Stelle wund ist, oder sonst schmerzt, so tritt die übrige Gesundheit des Leibes weiter nicht ins Bewusst sein, sondern die Aufmerksamkeit ist beständig auf den Schmerz der verletzten Stelle gerichtet, und das Behagen der gesammten Lebensempfindung ist aufgehoben. (…)“ [Orthografie und Zeichensetzung nach dem Original]
Ich habe mir, indem ich ausrutschte, das Schienbein an der Duschwanne aufgeschrammt, was auch nach zwei Tagen ziemlich schmerzhaft ist. Doch beim intensiven Schreiben gelingt es, das zu vergessen. Leider fallen mir derzeit nur kurze Texte ein und mein „Behagen“ ist flüchtig.

Rübendarwinismus

Die junge Witwe erhebt sich im Morgengrauen und geht hinab in die Wohnküche. Sie stellt eine Zinkschüssel in den Spülstein und lässt Wasser einlaufen für eine eilige Katzenwäsche. Dann zieht sie sich an, holt Brot, Butter, Milch und Marmelade von einem Ablagebrett über der Kellertreppe. Ein erdiger, kühler Hauch weht ihr aus der Kellerschwärze entgegen. Er hält die Lebensmittel frisch und verleiht ihnen Würze. Sie deckt den Tisch für die drei Kinder und isst zwischendurch ein Brot. Dann geht sie hinauf ins Schlafzimmer, wo die Kleinen noch im halbverwaisten Ehebett schlafen. Wie winzig sie in den großen Betten wirken, zusammengerollte kleine Körper unter der Bettdecke. Beide lutschen noch am Daumen. Sie weckt die Kinder, trägt das kleine Mädchen auf dem Arm hinab, und der Junge torkelt verschlafen hinter ihr her. In der Wohnküche fährt sie ihnen mit einem nassen Waschlappen durchs Gesicht und hilft beim Anziehen. Die beiden müssen sich beim Essen beeilen. Wie langsam kaut der Junge. Kein Wunder, dass er nicht richtig wächst. Während er noch dasitzt und lustlos mahlt, trägt sie seine Schwester hinüber in die andere Straße, wo die Großeltern wohnen. Wie sie zurück ist, weckt sie den Großen und sagt ihm, dass er am Mittag bei der Großmutter essen soll. Sie geht wieder hinunter, zwingt den Kleinen, sein Milchglas zu leeren, zieht ihm die Joppe an und die verhasste Wollmütze über die Ohren.

Der Morgen ist noch frisch. Sie gehen zum Gehöft auf der anderen Straßenseite. Auf dem Hof stehen andere Frauen wartend beieinander. Bauer und Knecht spannen den Anhänger an den Traktor. Der Bauer legt den Rückwärtsgang ein, lässt die Kupplung kommen und ruckelt auf die schwere Deichsel zu, bis sie mit dem Zapfenloch in der Anhängerkupplung liegt und der Knecht den Zapfen einstecken kann. Dann lässt der Knecht die hintere Klappe des Anhängers herunterfallen. Es liegen Strohballen auf der Pritsche, damit die Frauen bequem sitzen können. Sie klettern der Reihe nach hinauf. Der Bauer packt den Jungen und hebt ihn hinterher. Wortlos. Noch nie hat er ein Wort an dieses Kind gerichtet. Wozu auch.

Aus dem Haus kommt die Bäuerin mit der Magd. Sie schleppen eine große Milchkanne mit heißem Milchkaffee, einen Korb mit eingewickelten Butterbroten und stemmen den Proviant hoch zu ausgestreckten Händen. Dann schwingt sich der Bauer in die Sitzschale seines Traktors und steuert das Gespann durch das Hoftor auf die Straße. Der Knecht sitzt neben ihm auf dem Radkasten.
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Vorsicht klebrig!

Dem Menschen sind in seinem Leben mancherlei Orte, Dinge, Sachverhalte und Personen geläufig. Doch gelegentlich endet eine Geläufigkeit, mal geplant, mal ungeplant. Gerade das ungeplante Enden einer Geläufigkeit beschäftigt mich. Im jeweils gegenwärtigen Augenblick weiß man nicht, dass man dies oder jenes zum letzten Mal tut oder erlebt. Da läutet keine Handglocke und zeigt das Ende einer Ära an. Folglich rückt das Ende einem kaum oder gar nicht ins Bewusstsein. So muss ich beispielsweise vor mehr als einem halben Jahrhundert das letzte Mal Rübenkraut gegessen haben, ohne zu ahnen, dass es für lange Zeit aus meinem Leben verschwinden wird.

Kürzlich bekam ich ein Glas Rübenkraut geschenkt, und heute habe ich Rübenkraut auf ein Milchbrötchen getan. Ich war gespannt auf den Geschmack und ob er eine Erinnerung wachrütteln würde.

In meiner Kindheit war Rübenkraut, schlicht „Kraut“, ein preiswerter Brotaufstrich. Man aß es auch auf Reibekuchen. Zunächst wundere ich mich über das Wort Kraut, denn es wird ja nicht aus den krautigen Blättern der Zuckerrüben gewonnen, sondern aus der Zuckerrübe selbst. Zuckerrüben hatten für mich in meiner Kindheit schon Bedeutung. Nach dem frühen Tod meines Vaters arbeitete meine Mutter gelegentlich beim Bauern. Ich musste sie oft aufs Feld begleiteten, beispielsweise zum Rübeneinzeln. Dabei rutschten die Frauen auf Knien durch die Planzreihen und fuhren mit der Hacke durch die sich gerade aus der Ackerkrume reckenden Pflänzchen, um nur das größte stehenzulassen.

Ich kenne die Zuckerrübe von klein auf, sah die Knollen gehäuft am Feldrand, erinnere mich an die Rübenkampagne im Herbst, wenn die Traktorgespanne den Schlamm der Felder auf den Straßen verteilten, kenne den schwach süßen Geschmack der rohen Rübe, weiß, wie ihre ausgepressten, getrockneten Schnitzel schmecken, die wir Kinder zu essen versuchten, obwohl sie eigentlich Viehfutter waren. (Foto: JvdL)

Heute Morgen aß ich nach langer Zeit wieder Rübenkraut. Man muss sich dabei mehr vorsehen als beim Honig, sonst klebt einem der zuckersüße Sirup überall. Natürlich erkannte ich den Geschmack wieder, glaubte aber, dass der leicht bittere Unterton von einst fehlte.

Die Digitalisierung der Vorahnung

Als hätte ich nie Vorahnungen gehabt. In den 1980-er Jahren schrieben zwei Freundinnen und ich uns rege hin und her. Die eine hieß Christine, die andere Susanne und waren ihrerseits befreundet. Christine studierte in Wien, Susanne in Berlin. Wir schrieben uns lange, mehrseitige Briefe mit der Hand über Themen, also keinen Beziehungskram. Meine Frau nahm das locker. Sie pflegte meine Post auf die Küchenfensterbank zu legen. Wenn ich von der Schule nach Hause radelte, ahnte ich, dass da Post für mich liegen würde.

Zu jener Zeit drängte es mich, Cartoons oder Texte an diverse Redaktionen zu schicken, nach Frankfurt zur TITANIC, nach Hamburg zur ZEIT. Man sandte mir anfangs freundlich formulierte Formblätter, von ungenannten Redaktionsmitarbeiterinnen in einen Umschlag gesteckt. Ich brauchte viel Frustrationstoleranz, bis ich in die Liga aufstieg, dass mir Redakteure frei formulierte Briefe schickten, woraus sich ergab, warum man die Einsendung nicht drucken wollte, später dass, wann und wie man sie ins Heft heben würde. Auch diese Briefe ahnte ich voraus. Wie das funktioniert, kann ich nicht erklären. Sehnlichst erwartete Ereignisse wie eine Briefantwort kündigten sich mir aus der nahen Zukunft an.

Nur einmal versagte meine Ahnung. Ich hatte eine ganzseitige kalligrafische Arbeit an die Zeit geschickt und fand eines Tages eine Antwort der Redaktion vor. Da frohlockte ich ob der Tatsache, dass ich nicht die Arbeit zurückbekam, sondern ein Brief auf der Fensterbank lag. Es war trotzdem eine Ablehnung. Die Versandrolle mit meiner Arbeit hatte der Postbote bei meiner Nachbarin abgegeben. Getrennte Sendungen zu einem Sachverhalt unter Einbeziehung der Nachbarin waren wohl zu kompliziert für meine Vorahnung.

Gestern erreichte mich ungeahnt eine E-Mail von GMX:

    „haben Sie schon die Briefankündigung aktiviert? Indem Sie kostenlos über Briefe, die Ihnen gerade zugestellt werden, informiert werden, bleiben Sie stets auf dem Laufenden über Ihre Post. Noch mehr Online-Infos über Ihre Post erhalten Sie mit der ebenfalls kostenlosen Zusatzfunktion „Digitale Kopie“, die es ermöglicht verfügbare Briefinhalte auch als PDF-Anhang zu bekommen.“

Nanu? Wie soll das gehen? GMX erklärt:

    „Ganz einfach: Heutzutage werden einige Briefe, z. B. von Banken oder Versicherungen bereits digital bei der Post eingeliefert, dort gedruckt und verschickt. Diese digitale Version können Sie jetzt als „Digitale Kopie“ anfordern. Dann erhalten Sie zusätzlich zum Umschlagbild eines Briefes auch den Inhalt als PDF.“

Gut zu wissen wie die Digitalisierung der Vorahnung funktioniert. Wo aber bleibt das Postgeheimnis, wenn Anbieter wie GMX in die Geschäftspost schauen? Offenbar gilt das erst, sobald ein Brief in einem geschlossenen Umschlag steckt. Vorher darf die Post Inhalte von Geschäftsbriefen an GMX verkaufen. Eigentlich skandalös. Ich möchte das nicht. Meine rein private Vorahnung reicht mir.

Ein finsterer Charakter lässt sich kaum verbergen

Ein Fahrer des Bäckereikette rollt einen Palettenstapel mit Backwarenrohlingen vom Lieferwagen zur Bäckerei. Aus dem Laden kommen drei junge Frauen, vermutlich Schülerinnen des benachbarten Gymnasiums und steigen die Stufen hinab an den Paletten vorbei. Eine wirft einen Blick in die obere offene Palette und fragt: „Was ist das?“
„Das ist Eis, tiefgefroren,“ sagt der Fahrer grinsend, und dann im Laden zur Verkäuferin: „Das hat sie mir nicht geglaubt, Beate.“
„Du hättest ihr welche hinterherwerfen sollen, dann glaubt sie es“, antwortet Beate. Erwischt, denke ich und muss trotz ihrer Bosheit lachen. Diese Verkäuferin ist mir monatelang unangenehm gewesen, weil sie stets unfreundlich war. Offenbar hat man sich über sie beschwert, denn seit Wochen staune ich darüber, wie sie sich die freundlichen Floskeln „danke, bitte“, sogar „Schönen Tag!“ herausquetscht, ohne dass man eine innere Beteiligung hätte spüren können. Ebensogut könnte ein dressierter Papagei derlei Floskeln sagen, nur nicht so deutlich.

Ich hatte spekuliert, die Arbeit wäre der Frau unangenehm und vermutlich zu schlecht bezahlt. Aber wenn sie darauf angewiesen ist, wäre Freundlichkeit ihr Kapital, das die Kunden anlockt und somit ihren Arbeitsplatz sichert. Erst kürzlich war im Lokalblatt die Klage eines Bäckereikettenbesitzers zu lesen, wie schlecht es dem Handwerk ginge, weil die Kunden wegblieben und sich lieber beim Discounter versorgen würden. Um die gestiegenen Kosten und wegbleibende Kundschaft zu kompensieren, müsste ein Brot regulär 10 Euro kosten, was er aber nicht verlangen könnte, um die Spirale nicht weiter nach unten zu drehen.

Vielleicht liegt es auch daran, dass Bäckereiketten das „Handwerk“ des Bäckers zu sehr automatisiert haben und nicht mehr selbst backen, sondern nur noch Rohlinge von ungelernten und schlecht bezahlten Arbeitskräften aufbacken lassen. Das können Discounter genausogut und billiger, weil sie größere Mengen abnehmen. Ich habe mal gehört, die ganzen Rohlinge kämen aus China, also, es geht um Backwaren. Menschliche Rohlinge brauchen wir nicht zu importieren, die haben wir selbst. Eine hegt die finstere Phantasie, Kundinnen mit tiefgefrorenen Brötchen zu bewerfen.