Über die zwei Richtungen einer Hand

kategorie Mensch & NaturKeine Hand dem Patienten! Mit einer ähnlich lautenden Empfehlung seiner Standesorganisation begründete letztens ein mir bis dato unbekannter Orthopäde, dass er mir den Handschlag verweigerte. Ich war so befremdet, dass ich beim Abschied nachfragte, weil ich nicht mehr wusste, ob er die Ärztekammer oder die Kassenärztliche Vereinigung als Quelle genannt hatte. „Ja, ja, lieber keine Hand geben“, wiederholte er. Gestern erzählte ich das meiner Hausärztin, nachdem sie mir wie gewohnt die Hand gereicht hatte. Sie sagte: „Die Hand des Arztes ist natürlich das perfekte Übertragungsmedium, aber nicht, wenn man sie regelmäßig desinfiziert.“

Sie hatte noch nichts von der Empfehlung gehört, würde sich auch nicht daran halten wollen, denn am Händedruck des Patienten könne sie einiges ablesen, sei er schwach oder fest, sei die Hand heiß oder kalt, feucht oder trocken. Für mich könnte die Hand meiner Ärztin ebenfalls ein nonverbales Kommunikationsmittel sein, aber erstens könnte ich sie nicht deuten und zweitens geht es mir primär um die vertrauliche Geste. Die Rollen sind in dieser Situation klar verteilt. Wenn ein Patient zum Arzt kommt, geht es um sein Befinden. Demgemäß fragte die Ärztin mich: „Wie geht’s Ihnen?“, aber ich fragte nicht zurück: „Und selbst?“ Derweil wir über mögliche Schmerzmittel gegen meinen Hexenschuss sprachen, stellte ich hingegen fest, dass sie diesmal einen überaus feschen Kittel trug, und es drängte mich, es ihr zu sagen, bevor ich ging. Dass ich wieder Lust hatte, meine attraktive Ärztin ein bisschen anzuflirten, sagte ebenfalls etwas über meine Befindlichkeit, dass ich nämlich auf dem Weg der Besserung bin. Ganz sicher hat sie das auch so verstanden, als sie sich fürs Kompliment bedankte. Es lag quasi auf der Hand.

Vergesslich

kategorie surrealer-AlltagMein lieber Herr Gesangsverein, bin ich manchmal in Gedanken! Ich stehe in der Bäckerei an der Ladentheke, kaufe mir Brötchen, bezahle und will hinaus, da ruft die Verkäuferin: „Ihr Wechselgeeeld!“
Es gab eine Zeit, da passierte mir derlei immer wieder. Eigentlich hätte ich damals eine Armbinde gebraucht, wie die Blinden eine haben. Doch statt der drei Punkte hätten drei Sätze darauf stehen müssen:

1. Bitte erinnern Sie mich an mein Wechselgeld!
2. Sagen Sie mir auch, was ich hier will!
3. Und was und wer bin ich?

Die Bäckerin läse meine Armbinde und würde sagen: „Bittschön, Herr Trithemius, Ihre Brötchen und Ihr Wechselgeld!“ Das wäre in jedem Fall ein schöner Satz. Schade, dass man heutzutage dafür eine Armbinde tragen müsste. Da stehen ja auch keine wohlgerundeten Bäckerinnen mehr hinter der Theke, sondern schmale Bäckereifachverkäuferinnen. Aber eigentlich will man ja Brot und und nicht gleich ein ganzes Bäckereifach kaufen, weshalb die Bäckereifachverkäuferin oft schon durch eine ausgemergelte 400-Euro-Hilfskraft vertreten wird, die manchmal vor der Tür steht und hastig raucht.

Gestern hatte ich mal wieder meine Gedanken nicht bei mir. Ich stand im Supermarkt in der Schlange und dachte mir den Text hier aus. Da schubste mir von hinten eine kleine alte Frau ihren Einkaufswagen in die Beine, eine kleine, hastige Frau, die nicht warten konnte. Ich sagte nichts, denn ich war an der Reihe. Zahlte dann in Ruhe meine Sachen, sagte Tschüss und wollte gehen. Da rief die Kassiererin: „Hallo, Ihre Sachen, die Sie bezahlt haben!“

Mist. Und die kleine hastige Frau lachte hämisch: „Hehehe!“

Vorsicht! Ganz dünnes Eis!“, dachte ich, „denn in meinem Text kann ich mich grausam rächen.“ Zu ihrem Glück hatte ich das draußen schon wieder vergessen.

Drei Versuche über Ärzte – alles frei erfunden

Beim Orthopäden
Es zwackte was an dem Gerüst, das lebenslang schon meines ist.
Der Arzt versteht’s mit einem Blick und lehnt zufrieden sich zurück.
„Sind Ihre Schmerzen noch so wild. Ich brauche erst ein Röntgenbild.
Und tut’s dann weiterhin so weh, dann machen wir ein MRT.“
„Ich finde beides nicht so toll und weiß nicht, wie das helfen soll.“
„Wer hat von helfen denn gesprochen? Ich will ein Bild von Ihren Knochen.
Drum steigen sie schon aus der Hose. Denn mein Geschäft ist Diagnose.
Was Sie so zwackt, ist wunderbar. Mir winkt ein fettes Honorar.“

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Herr Trittenheim sagt ab

ichAls ich Mitte der 1970-er Jahre zu studieren begann und ungefähr aussah wie auf dem Automatenbild, war an der Aachener Hochschule zu meinem Bedauern das Fach Psychologie völlig in Händen der Behavioristen. Diesen Reiz-Reaktions-Adepten war der menschliche Geist eine Blackbox. Sie bildeten mit den Verhaltensmodifizierern vom Fachbereich Pädagogik einen üblen Haufen, mit dem ich instinktiv nichts zu tun haben wollte. Denn wenn man das Verhalten von Schülern gezielt modifizieren will, muss man die Skrupellosigkeit haben, junge Menschen ohne ihr Wissen zu manipulieren. Das entsprach aber überhaupt nicht meinen Vorstellungen von einer emanzipatorischen Erziehung. Zur Verhaltensmodifikation ist die sogenannte Unterrichtsmitschau fast unerlässlich. Um Schüler im Unterricht beobachten zu können, hatte der Fachbereich Pädagogik ein komplett eingerichtetes Fernsehstudio mit Regie- und Schnittraum. Neben den festen Kameras im Studio gab es auch transportable Videokameras, zu einer Zeit, als die Videotechnik kaum verbreitet war. Etwa im Jahr 1977 fassten einige Kunststudenten, eine -studentin und ich den Entschluss, das Fernsehstudio und seine Geräte für etwas Anständiges zu nutzen, nämlich ein künstlerisches Video zu drehen. Es wurde daraus ein satirisches TV-Magazin. In einem Beitrag spiele ich mit, für zwei andere habe ich das Skript geschrieben.

Dieser Video ist kürzlich digitalisiert worden und soll zusammen mit anderen historischen Aufnahmen am 26. November in der Aachener Kultureinrichtung „Raststätte“ gezeigt werden. Natürlich hatte ich geplant, dabei zu sein. Denn wenn das Video wirklich 1977 entstanden ist, habe ich es 39 Jahre nicht gesehen, und von den Akteuren habe ich nur noch mit meinem Freund Nebenmann Kontakt, die anderen ebenso über 30 Jahre nicht getroffen. Ich war gespannt, was da noch an Wiedererkennen sein würde.

handschriftlicher Skriptentwurf (Auszug)

handschriftlicher Skriptentwurf (Auszug)

Textentwurf JvdL- zum Lesen bitte klicken

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Zu meinem großen Bedauern musste ich meine Aachenfahrt absagen, denn wie bereits mitgeteilt, habe ich Rückenprobleme und wage die Fahrt nicht, vor allem nicht, mit Gepäck zu hantieren, weil ich noch recht unbeweglich bin und einen Rückfall befürchte. Eventuell gibt es das Video demnächst bei YouTube zu sehen, also nicht das vom Rückfall, sondern „Kurzschluss“ mit dem schrägen Humor der 1970er Jahre. Die beiden im Bild zu sehenden Manuskripte habe ich eben im Papierarchiv gefunden. Wenn ich mich recht erinnere, haben wir den absurden Text im TV-Studio aufgenommen, und einer, den ich so gerne wiedergetroffen hätte, hat es gesprochen. Schadeschade – ich weine.

Die amüsante Kurzgeschichte – Der Mutant und sein Recht am Bild

Kategorie Humor neu„Schauen Sie sich das ruhig mal an“, sagte der Arzt und schob den Bildschirm herum, dass ich das Röntgenbild meiner Wirbelsäule sehen konnte, deutete hin, wo mir nichts weh tat, und fuhr fort: „Ich habe sowas noch nie gesehen und glaube, Sie sind ein Mutant.“
„Ein Mutant?! Was heißt das? Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte? Vorsorgliche Quarantäne, Isolationshaft, Standrechtliche Erschießung? Ihr Befund fällt hoffentlich unter die ärztliche Schweigepflicht.“
„Ja, aber …“
„Was aber?“
„Mir kam da gerade so ein Gedanke.“
„Das höre ich nicht gern. Was für ein Gedanke?“ Weiterlesen

Volontär Hanno P. Schmocks Rundumblick

Abendland: Jener Teil der Welt, der westlich (bzw. östlich) des Morgenlandes liegt. Größtenteils bewohnt von Christen, einem mächtigen Unterstamm der Hypokriten, dessen wichtigste Gewerbe Mord und Betrug sind, von ihnen gern ’Krieg’ und ’Handel’ genannt. Dies sind auch die wichtigsten Gewerbe des Morgenlands.
(Ambrose Bierce, The Devil’s Dictionary)

schmocks-rundumblickEin Arzt verweigerte mir den Handschlag, und sagte erläuternd: „Die Ärztekammer empfiehlt das.“ Der Mann war Orthopäde, kein Allgemeinmediziner, zu dem in dieser Jahreszeit Heerscharen von Verschnupften und Grippekranke kommen. Natürlich könnte ich theoretisch ein Zombie sein, und kaum hat er meine Hand geschüttelt, hat er auch schon meinen ganzen Unterarm in der Hand. Darum ist die Empfehlung der Ärztekammer zu begrüßen. Eine Geste zum Aufbau des Vertrauens zwischen Arzt und Patient ist verzichtbar. Man hat ja genug medizinische Apparate, um den Patienten durch die diagnostische Mühle zu drehen. Die Röntgenassistentin dagegen hustete sich die Seele raus, und ich dachte noch: Hoffentlich steckt sie mich nicht an. Ich will nicht jammern, aber seit ich beim Arzt war, geht’s mir schlimmer als zuvor. Jeder Buchstabe hier ist dem Schmerz abgetrotzt. Weiterlesen

postfaktisch – dümmste unter den prämierten Würsten

Kategorie zirkusMein in Leipzig lebender Sohn teilte mir am Telefon mit, „postfaktisch“ sei Internationales Wort des Jahres geworden. Ich hatte keinen Grund, an seinen Worten zu zweifeln. Trotzdem steht seine Aussage im Konjunktiv I, einer sogenannten „Distanzform.“ Es gibt im Deutschen deren vier insgesamt. Mit einer Distanzform zeigen wir an, dass wir die Aussage eines anderen zitieren. Da mein Sohn mir keine Quelle genannt hat, habe ich ein wenig recherchiert. Spiegel.de meldete hier: „Die britische Wörterbuchreihe Oxford Dictionaries hat am Mittwoch auf ihrer Webseite ihr internationales Wort des Jahres bekannt gegeben. Es handelt sich um den Begriff „post-truth“, auf Deutsch übersetzt mit ‚postfaktisch‘.“ Und weiter: „Oxford Dictionaries definieren den Begriff als Beschreibung von „Umständen, in denen objektive Fakten weniger Einfluss auf die Bildung der öffentlichen Meinung haben als Bezüge zu Gefühlen und persönlichem Glauben.“

Das ist die hübsch einseitige Definition von „postfaktisch“, die sowohl unseren Medien gefällt als auch Politikern wie Frau Merkel. Um dahinter zu kommen, was daran grundsätzlich zu kritisieren ist, sehen wir uns an, was „faktisch“ bedeutet oder genauer, was ein Faktum ist. Das aus dem Lateinischen entlehnte Wort meint „etwas Tatsächliches, Verifiziertes.“ Verifizierung (von lat. veritas ‚Wahrheit‘) ist der Nachweis, dass ein vermuteter oder behaupteter Sachverhalt wahr ist.

Wir kennen aus dem Alltag Tatsachen unserer physikalischen Wirklichkeit. Ans Fenster prasselt der Regen. Ich öffne es, sehe hinaus, werde nass, und habe die audiovisuellen Wahrnehmungen um eine haptische ergänzt, womit die Beobachtung mit allen Sinnen überprüft wäre und somit die faktische Feststellung ist, dass es regnet. Angenommen, mein Sohn teilt mir am Telefon mit, dass es in Leipzig stark regnet, und ich traue ihm, obwohl ich nicht selbst verifizieren kann, ist auch seine Mitteilung für mich faktisch. Wenn am nächsten Tag in der Zeitung stünde, dass für Leipzig weiterer Starkregen angekündigt sei, dann würde ich für eine geplante Reise nach Leipzig einen Schirm mitnehmen, denn der Wetterbericht ist eine Nachricht im etymologischen Wortsinne: Nachricht = „Wonach man sich zu richten hat.“

Der Mensch richtet sich nach dem selbst Erlebten und nach den Berichten, denen ein hohes Maß an Glaubwürdigkeit zukommt. Wer den Wetterbericht verwerfen würde und deshalb ohne Schirm in einen Starkregen geriete, verhielte sich im oben definierten Wortsinne postfaktisch. Aber wer tut das? Wohl kaum jemand.

Aber in der Definition heißt es „objektive Fakten“ hätten weniger Einfluss auf die Bildung der öffentlichen Meinung. „Objektive Fakten“ sind jene, die man durch eigenes Erleben oder durch Nachrichten vertrauenswürdiger Personen gewinnt. Ob es regnet oder nicht, ist ein einfacher Sachverhalt. Was aber beispielsweise auf einem entfernten Kriegsschauplatz geschieht, und wie das Geschehen zu bewerten ist, ist hochkomplex. Dem kalifornischen Senator (von 1917-1945) Hiram Warren Johnson wird das geflügelte Wort zugeschrieben: „Das erste Opfer eines jeden Krieges ist die Wahrheit.“ Es ist also klug, allen Berichten, die uns medial aus einem Kriegsgebiet erreichen, zu misstrauen. Dieses Misstrauen hat sich ausgedehnt auf viele Bereiche, nicht zuletzt, weil uns durch das Internet inzwischen andere Quellen als die TV-Nachrichten oder Zeitungen zur Verfügung stehen, etwa Augenzeugenberichte aus aller Welt. Die klingen manchmal anders als das, was in der Zeitung steht. Doch die Skepsis gegenüber Zeitungen ist keine junge Erscheinung. Der amerikanische Journalist und Schriftsteller Ambrose Bierce (1842 – 1914) höhnte schon Anfang des 20. Jahrhunderts in seinem sarkastischen Wörterbuch: The Devil’s Dictionary

„Erfrischend: Einen Menschen treffen, der alles glaubt, was in den Zeitungen steht.“

Derart erfrischend naive Menschen sind selten geworden. Doch verleugnen die weniger Naiven die Fakten? Laufen sie vor den Bus, weil der Automobilverkehr nicht in ihr Weltbild passt? Natürlich gibt es Eiferer, die sogar das Offensichtliche leugnen.

postfaktisch im Duden - Scan und Schriftmontage JVDL (größer: Bitte klicken)

postfaktisch im Duden – Scan und Schriftmontage JVDL (größer: Bitte klicken)

Doch in der Regel ist Misstrauen gegenüber jeder Information aus zweiter und dritter Hand angebracht, sogar vernünftig. Das Modewort „postfaktisch“ stellt die Verhältnisse auf den Kopf. Medien und Politik schieben ihren Glaubwürdigkeitsverlust den Leuten in die Schuhe. Spiegel.de wundert sich, dass der Duden das Wort noch nicht in die Wortliste aufgenommen hat. Abgesehen davon, dass ein Wort nicht wichtig ist, weil es prämiert wurde wie eine Thüringer Wurst, hätte ich einen Vorschlag, wie der Duden das Wort verzeichnen und erklären sollte. Zu sehen links – ein fake, denn der Duden verzeichnet kein Dummdeutsch.

Verschüttete Milch und ein kaiserlicher Goldtaler

Kategorie Kopfkino
In vielen Texten zum Erzählprojekt „Die Läden meiner Kindheit“ ist die Rede vom Milchholen, mal beim Milchmann im Laden, mal beim Bauern. Ein etwa zehnjähriges Mädchen erzählte mir einmal im Deutschunterricht eine absolut erstaunliche Geschichte aus dem Leben ihres Großvaters, der Milch holen sollte und einen kaiserlichen Goldtaler bekam. Ich habe sie aus der Erinnerung möglichst getreu nacherzählt.

Dieser Goldtaler befindet sich im Besitz der Familie. Man hat ihn vom Großvater geerbt. Er lebte als kleiner Junge in einem Dorf in den Österreichischen Alpen. Das Elternhaus lag abseits des Dorfes. Jeden Abend musste der Junge ins Dorf laufen, um beim Bauern Milch zu holen.

Einmal hörte er vom Marktplatz her Marschmusik. Er lief hin und staunte die Militärkapelle an. Erst nach einer Weile konnte er sich losreißen und ließ sich beim Bauern die Milchkanne füllen. Jetzt musste er sich beeilen. Auf dem Weg stolperte er und stürzte mit dem Knie in einen rostigen Nagel. Zu Hause schimpfte der Vater, denn der Junge kam viel zu spät zurück und hatte auch noch Milch verschüttet. Deshalb wagte er nicht, von seinem Unglück zu erzählen und legte sich mit seinem wunden Knie ins Bett.

Am nächsten Morgen hatte der Junge hohes Fieber. Das Knie war dick angeschwollen. Man brachte ihn in die Stadt ins Krankenhaus. Dort lag er zusammen mit gut 20 Verwundeten des ersten Weltkriegs in einem Krankensaal. Eines Tages erwartete man Besuch vom Kaiser. Es muss wohl Karl I. gewesen sein. Das Krankenhaus war in heller Aufregung; alles wurde herausgeputzt. Der Direktor des Krankenhauses wollte nicht, dass der Kaiser die vielen Kriegsverletzten zu sehen bekam. So ließ er sie alle in den Keller bringen.

Als der Kaiser mit seinem Gefolge den Krankensaal betrat, fand er nur den Jungen in seinem Bett. Er begrüßte den Jungen, sprach mit ihm, und als er sich abwenden wollte, rief der Junge ihn zurück. Er sagte leise:
„Willst du wissen, wo die anderen sind?“
„Ja, gibt es denn noch andere?“
„Schau einmal im Keller nach.“

Da war der Kaiser so gerührt, dass er dem Jungen einen Goldtaler schenkte. Es ist nicht überliefert, wie der Kaiser auf die Kriegsverletzten im Keller reagiert hat.

Druckerei Eupen – „Sie wollen nicht widersprechen!“

kategorie Mensch & NaturBlogfreund Manfred Voita definiert in seinem Text Fußweg zum Rock’n Roll Kindheit als Freiheit von beruflicher Arbeit. Damit kann ich nicht dienen, denn als ich nach acht Jahren Volksschule meine Lehre begann, war ich in vielerlei Hinsicht noch Kind. Doch es hatte auch den Vorteil, dass ich mit 16 schon Geselle war. Die folgende Szene spielte sich ein Jahr zuvor ab – in meinem 3. Lehrjahr, und ich bin da nicht Kunde, sondern muss Kundschaft bedienen:

Das Haustelefon in der Setzerei klingelte. Ich nahm den Hörer ab. Der Alte war dran.
„Du willst mal herunterkommen!“, sagte er.
Ich legte den Winkelhaken auf den Rand des Setzkastens, wusch mir den Bleidreck von den Fingern und ging die Treppe hinunter in den Laden der Druckerei.
„Ha! Sie wollen mir nicht widersprechen!“, hörte ich den Alten gerade sagen. Dann sah ich, wer diese Ungeheuerlichkeit gewagt hatte. Im Laden standen ein junger Mann und eine junge Frau und schauten sehr unglücklich drein. Die beiden hatten Pech, denn es war kurz nach 14 Uhr, und die freundliche junge Frau, die die Laufkundschaft bediente, war noch nicht aus der Pause zurück, so dass der Alte bedienen musste. Er hatte ein Musterbuch auf den Tisch gelegt, aus dem die beiden sich eine Vermählungsanzeige aussuchen sollten. Offenbar hatten sie sich eine andere Schrift gewünscht als vorgesehen war. Denn Verlobungs- und Vermählungsanzeigen setzen wir aus der Forelle, der „Charme“ oder der „Delphin“. Zu allen waren Beispiele ins Musterbuch eingeklebt.

Der Alte brummte: „Sie wollen den Lehrling fragen“, knurrte mir irgendwas zu und ließ mich mit den beiden allein. Ich fragte höflich nach ihrem Begehr. Sie waren froh, es mit mir zu tun zu haben, obwohl meinen linken Handrücken und meinen grauen Kittel Flower-Power-Motive schmückten, die ich aus Übermut mit dem Kuli draufgemalt hatte. Auch trug ich eine bunte Kugelschreibersammlung aufgereiht in der oberen Kitteltasche. Da klemmten so viele, wie gerade nebeneinander passten.

Ja, sie wollten heiraten, verlobt waren sie schon. Ich sah es an den Ringen. Sie waren sich wegen der Schrift nicht schlüssig. Die formelhafte sprachliche Vorlage akzeptierten sie klaglos. Es war zu jener Zeit nicht schicklich, groß von der Norm abzuweichen. Zudem waren Sonderwünsche teuer. Und ich habe dem Verlobungspaar, glaube ich, die Sonderwünsche auch ausgeredet.

Übrigens leitete der Alte alle seine Anweisungen mit „du willst!“ ein. Er hatte diese Weise, mit Untergebenen zu sprechen, offenbar aus der Kaiserzeit von seinem Vater übernommen und sie in die sechziger Jahre gerettet. Dass er mit den Kunden auch so sprach, fanden wir damals witzig. Doch Ende der sechziger Jahre war das Druckerhandwerk noch in einer unangefochtenen Machtposition. Das änderte sich dann rapide Mitte der 70er, als die Fotosatzgeräte eingeführt wurden.

Zeitsprung
Vor einigen Jahren rief mich die Freundin eines Freundes an. Sie wusste, dass ich mich mit Kalligraphie beschäftigt hatte und auch gelegentlich Layouts gestaltete, weil mich diese Arbeit noch immer fasziniert. Eine ihrer Freundinnen wolle heiraten, und sie wünsche sich für die Vorderseite der Vermählungskarte einen kalligraphischen Spruch. Ob ich das machen könne. Ich sagte zu, denn so hätte ich einen Grund, mich mal wieder in Kalligraphie zu üben.

Dann bekam ich Besuch von zwei jungen Frauen. Zuerst dachte ich mir nichts dabei. Die eine war vielleicht nur mitgekommen. Doch als meine Kundin an meinem Tisch ihr Manuskript entfaltete, sah ich zwei Frauennamen. Da begriff ich endlich, dass diese beiden Frauen bald heiraten würden. Ich ließ mir nichts anmerken und tat, als würde ich alle Tage für gleichgeschlechtliche zukünftige Ehepaare Vermählungsanzeigen gestalten. Ich fand sogar prima, dass die beiden sich trauten, sich trauen zu lassen. Auch war die Besprechung mit ihnen wirklich nett.

Man schaue sich aber einmal den Unterschied der beiden Situationen an, die ich hier geschildert habe. Es liegen nur wenige Jahrzehnte dazwischen. Doch die haben es verdammt in sich.

laeden-alltagskultur

Zum Erzählprojekt „Die Läden meiner Kindheit“ sind außer diesem hier wieder neue Beiträge erschienen. Ich bitte um Beachtung und wünsche viel Vergnügen beim Lesen. Bitte klicke aufs Bild!

Die Jungfrauenhasser oder Warum die Jungfrauen immer seltener wurden

Kategorie MedienZu den schönen Momenten während meiner Arbeit als Schriftsetzerlehrling zählte, von einem fertigen Bleisatz den ersten Korrekturabzug zu machen. So ein Text im Bleisatz ist grau in grau. Die druckenden Teile, Schrift und Linien stehen zwar um weniges erhaben hervor, aber ist Spiegelschrift. Deshalb wird im Kopfstand gesetzt. Der Bequemlichkeit halber steht nicht der Schriftsetzer auf dem Kopf, sondern der Satz. Das hat den Vorteil, dass auch Spiegelschrift von links nach rechts gelesen und gesetzt werden kann. „Ausbinden, Abziehen!“, befahlen mir die Gesellen im Anfang meiner Lehrzeit, als ich noch nicht viel anderes konnte. „Ausgebunden“ wird die fertige Satzform durch Umwickelung mit einer festen Schnur, um zu verhindern, dass alles auseinanderfällt. Die ausgebundene Form lässt sich transportieren und für den Korrekturabzug in die Abzugspresse schieben.

Die einfachste Handabzugpresse bestand aus einem festen Metalltisch, mit Schienen an den seitlichen Rändern, über die kleine Eisenräder liefen, die wiederum eine Gummiwalze antrieben, wenn die Einrichtung von Hand vor und zurück bewegt wurde. Zum Abziehen wurden die Gesichter der Buchstaben mittels Handwalze satt eingefärbt mit schwarzer Druckfarbe, dann wurde ein Bogen Papier aufgelegt und die Druckwalze einmal darüber gezogen. Den jetzt bedruckten Bogen abzuheben und erstmals einen Druck zu sehen, wie er schwarz auf dem weißen Papier stand, war für mich der schönste Augenblick. Anschließend heftete ich den Abzug mit einer Büroklammer ans Manuskript und trug ihn zum Korrektor.

Die Jungfrauenhasser bei der Arbeit - (aus: Graphisches ABC 1964)

Die Jungfrauenhasser bei der Arbeit – (aus: Graphisches ABC 1964)

„Wie schön, wenns eine Jungfrau wäre“, habe ich oft gedacht und mir gewünscht, der Korrektor werde keinen Fehler finden. Doch meistens bekam ich meinen Korrekturabzug zurück und er war mit roten Korrekturvermerken beschmiert wie die Fahnen chinesischer Räuberbanden. Damals lernte ich: „Deshalb heißt ein fehlerloser Erstabzug ja auch ‚Jungfrau.‘ Weil er so selten wie eine Jungfrau ist!“ Da ich erst 13 Jahre war, als ich meine Schriftsetzerlehre antrat, verstand ich den Zusammenhang nicht zwischen dem Begriff aus der bilderreichen Druckersprache und der alltäglichen Bedeutung von Jungfrau.

Warum waren Jungfrauen so selten? Die meisten Korrektoren waren gelernte Schriftsetzer. Im vorgerückten Alter hatten sie Rückenprobleme, konnten sie die schweren Setzkästen nicht mehr heben und wurden in die Korrektorenstube versetzt. Dort war es ihre Aufgabe, Fehler zu finden. Da wollte der Korrektor seine Nützlichkeit beweisen. Gab es keine Setzfehler und war auch das Manuskript orthografisch einwandfrei gewesen, gab es noch immer die Zweifelsfälle, die nicht im Duden geregelt waren. Beispielsweise war der gesamte Bereich der Zusammen- und Getrenntschreibung im Jahr 1901 in den amtlichen Regeln nicht festgelegt worden, sondern konnte nach Gutdünken gehandhabt werden. Das galt auch für die sogenannten Doppelformen, bei denen verschiedene Schreibweisen erlaubt waren. Für Korrektoren waren nicht geregelte Schreibweisen „Zweifelsfälle.“ Sie waren Meister im Auffinden solcher Zweifelsfälle, teilten sie ihrem Verband mit, und der wandte sich an die Dudenredaktion mit der Bitte um Regelung. Der Duden bedankte sich regelmäßig bei ihnen in den Vorworten. In der Neuauflage des Duden war der Zweifelsfall dann geregelt. Es kamen Spitzfindigkeiten dabei heraus wie „Auto fahren“ aber „radfahren“ und ein immer komplizierteres Regelwerk der Groß- und Kleinschreibung.

Aus dem Vorwort des Dudens, 16. Auflage, 1967 - Scan und Markierung: JvdL (größer: bitte klicken)

Aus dem Vorwort des Dudens, 16. Auflage, 1967 – Scan und Markierung: JvdL (größer: bitte klicken)

Schon in den 1920-er Jahren hatte der Realschullehrer Josef Lammertz mit dem „Testament einer Mutter“, dem berüchtigten „Kosogschen Diktat“ , den Nachweis angetreten, dass niemand diese Regeln beherrschte. Im Jahr 1964 klagt der Germanist Leo Weisgerber:
„Dem Buchdruck (…) von orthographischer Toleranz zu predigen, ist ein aussichtsloses Beginnen. Die Drucker sind noch heute auf die Beseitigung der letzten Doppel- und Zweifelsformen aus.“

Auf diese Weise wurde unsere Rechtschreibung immer komplizierter. Sie hatte sich dem ordnenden Zugriff der Sprachwissenschaft entzogen. Der Dudenverlag hatte kein Interesse, die Regeln einfach zu halten, denn die Unsicherheit der schreibenden Deutschen sicherte Millionenauflagen. Das allein hat die Rechtschreibreform von 1994 nötig gemacht. Letztlich, um den Bestand an Jungfrauen zu sichern. Folgerichtig verlor der Dudenverlag mit der Orthographiereform das Monopol, die amtlichen Richtlinien herauszubringen und mithin das Prädikat „maßgebend in allen Zweifelsfällen.“

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Wie bekomme ich jetzt den Dreh zum Erzählprojekt „Die Läden meiner Kindheit? Sind wieder Beiträge erschienen. Und allesamt jungfräulich. Ich bitte um Beachtung und wünsche viel Vergnügen beim Lesen. Bitte klicke aufs Bild!