Auf dem Gang

Zu sehen ist ein langer fensterloser Gang. Das Licht kommt von indirekt strahlenden andleuchten, die in unregelmäßigen Abständen angebracht sind, als wären die Elektriker beim Anbringen völlig planlos vorgegangen oder hätten weder Maßband noch Zollstock gehabt. Freilich müsste ihnen die Länge des Gangs bekannt gewesen sein, um sie durch die zur Verfügung stehenden Lampen zu teilen. Das ist allerdings nicht der Fall gewesen, da der Gang sich völlig eigenmächtig erstreckt. Er hat große Bodenfliesen aus blauem Balatum. Auf den Gang münden unzählige graue Türen. Sie machen den Eindruck, dass sie jeden Moment aufspringen könnten, um jemanden auszuspucken. Wohin der Gang führt, lässt sich nur ahnen. Wer aus einer der Türen auf den Gang tritt, scheint es aber zu wissen. Man schreitet hurtig und mit auf dem Balatum quietschenden Schuhsohlen voran.

„Huch!“, ruft Herr Steinchen, indem er aus seinem Büro tritt, „ich hatte gestern eine Lebensmittelvergiftung!“, und dann als ich überrascht stehen bleibe und ihm einen besorgten Blick zuwerfe, setzt er nach: „Vielmehr, es war dann doch keine, wie die Laborwerte nachher zeigten, sondern eine Gallenkolik. Ich hatte zu fetten Lachs gegessen. Nun ist Lachs ja sowieso fett, aber dieser muss besonders fett gewesen sein. Doch von Ihnen als Vegetarier kann ich wohl kein Mitgefühl erwarten.“

„Nein, sowieso nicht“, sage ich. Während wir gemeinsam den Gang hinunter gehen, denke ich trotzdem über Steinchens hypochondrische Natur nach: So ist das, wenn einer so lange in sich hineinhorcht, bis er die Körpersäfte brodeln und wallen fühlt. Da ist ihm sein Körper Ich und doch nicht Ich, weil rätselhaft sich selbst organisierend. Und er misstraut der Selbstorganisation, fürchtet ständig, dass sie aus den Fugen geraten könnte, dass einer der komplexen Körpervorgänge aus dem Gleis springen könnte wie ein Zug seiner Modelleisenbahn, wenn er versehentlich eine Weiche stellt, während der Zug sie gerade überquert. Er vermutet längst das totale Chaos in sich, das sich nur als Normalität tarnt, dem aber auf die Schliche zu kommen ist, wenn er Laborwerte feststellen lässt. Armer Steinchen. Da sitzt seine Leber fett und lauernd unter seinem Rippenbogen und ist jederzeit bereit, sein Blut mit giftiger Galle zu überschwemmen. Dabei hat er doch nur Lachs …“

Eine Tür öffnet sich und Friedrich Harm tritt auf den Gang, um sich uns anzuschließen. Ganz unvermittelt beginnt er zu reden, wie es Menschen tun, denen die Sozialfähigkeit abhanden gekommen ist, weil ihnen zu lange schon niemand mehr zuhört. Herr Harm schaut keinen von uns an, sondern fixiert einen Punkt weit vor sich, dass es wirkt, als würde ihm seine Rede auf die Innenseite der Stirn projiziert, so dass er sie ablesen kann:

„In meinem höchst verwirrenden Traum letzte Nacht kam eine völlig misslungene Theateraufführung vor, in der alle Akteure nackt waren, bis auf eine einzige Frau, die Strümpfe trug, vielmehr eine unzüchtig ausgeschnittene Strumpfhose. Meistens war die Bühne völlig kahl, man hing in Seilen. Nur einmal war ein laut wieherndes Pferd zu sehen. Kurz darauf lag ein fast skelettierter Pferdekadaver auf dem Rücken und einer im weißen Kittel zeigte am Hals des Tieres auf eine kurze rotbraune Knorpelstange, mit der das Pferd angeblich dieses Wiehern hervorbrachte. Darauf wollte ich mich mit einer Frau in einen Kellerraum zurückziehen. Dieser lange, schmale Raum stand voller Gerümpel. Über die Breitseite zogen sich Oberlichter aus trübem Glas. Dort tauchten nun just im störenden Moment drei freche Arbeiter auf, die dreckig lachend, unsere Absicht ahnend, immer wieder die Fenster aufstießen und zu uns hinunter sahen, wobei sie auch mit den Armen hereinfuchtelten.“

Deinen Kopf möchte ich ja lieber nicht haben, denke ich, und noch weniger dein Leben. Es ist bekannt, dass Harms Ehefrau sich von ihm abgewandt hat, ja nicht einmal mehr mit ihm redet, nur noch Anweisungen erteilt.

Fortsetzung

Besinnungsaufsatz – Meine erste große Liebe

Ich erinnere mich, schon früh in ein Mädchen verliebt gewesen zu sein. Als meine Freunde noch alle Mädchen doof fanden, hatte ich die schönsten Gefühle, wenn ein Mädchen namens Helen in der Nähe war. Allein ihre Stimme reichte, mich zu beglücken. Diese kaum bestimmbaren Gefühle hielten noch an, wenn ich Helen nur kurz gesehen oder gehört hatte und den Freunden bedauernd zu wichtigeren Aktivitäten folgen musste. Folglich wagte ich nicht zuzugeben, dass mich ein Mädchen interessierte.

Das erste Mädchen, in das ich richtig verliebt war, hieß Hilly. Da war ich etwa zwölf Jahre alt. Hilly war bei Nachbarn in den großen Ferien. Damals verdiente das Wort „Große Ferien“ noch seinen Namen. Man tauchte kopfüber in die Augusthitze ein und kam ewig nicht mehr hervor. Ich vermute, dass die Welt zu dieser Zeit stillstand, wie das schier endlose Zwitschern der Feldlerchen über den Stoppelfeldern.

Leider war der Sinn für Mädchen inzwischen auch bei meinen Freunden erwacht. Sie strichen um Hilly herum wie junge Hunde, waren mir jedenfalls dauernd im Weg. Noch immer traute ich mich nicht, mein Interesse an Hilly deutlich zu zeigen. Ich bin nicht sicher, ob es geholfen hätte, wenigsten die Nebenbuhler abzuschrecken. Der hartnäckigste war Adrian von Wallenburg. Adrian war ein Jahr älter als ich und weniger schüchtern. O, könnte ich nur meine Schüchternheit überwinden, dachte ich, dann würde ich jedes Mädchenherz erringen. Abends blätterte ich in den Ausgaben „Das Beste aus Readers Digest“, die zahlreich in einer Vitrine meines jüngsten Onkels standen, in dessen verwaisten Zimmer ich schlief. Da gab es Werbeanzeigen zur Entwicklung von Selbstbewusstsein, immer als Fallbeispiel beschrieben. Aber nie fand sich einen Hinweis, wie etwa der gehemmte John Weismuller seine Schüchternheit überwunden hatte und erfolgreicher Leuteverdummer oder Mädchenschwarm geworden war. Mein Freund Neuhaus hatte derlei Probleme nicht, obwohl er nicht besonders hübsch war. Neuhaus wusste Bescheid. Er hatte zwei ältere Schwestern und hatte uns alle aufgeklärt. Natürlich wusste Neuhaus auch, wie man mit Mädchen redet.

Wir radeln in großer Zahl durch die Felder nach Grevenbroich zum Freibad, meine Freunde und ich, einige Mädchen und natürlich Hilly. Über den Stoppelfeldern flimmert die Hitze. Die Lerchen zwitschern ihre eintöniges Lied in den blauen Himmel. Ich bin glücklich, obwohl ich mich fürchte vor dem Geschrei das immer über dem vollen Freibad hängt. Auch kann ich nicht schwimmen und bin ein wenig wasserscheu, traue mich aber trotzdem, ins Wasser zu köppen, um nicht hinten anzustehen.

Hilly sitzt im Badeanzug auf der Decke und will nicht in Wasser. Warum? „Muschi hat Nasenbluten?“, sagt der Neuhaus wissend und bleckt grinsend seine großen Zähne. Das ist ungehörig, aber scheint außer mir niemanden mehr zu stören. Wieso? Bis vor kurzem ist „Camelia“ noch ein Tabuwort gewesen. Wer es sagte, wurde rot dabei. Die Packungen mit „Damenbinden“ lagerten für Kinderaugen unsichtbar über dem Eingang unseres kleinen Edeka-Ladens.

Ich war sehr verliebt in Hilly aus Geilenkirchen, vermied aber jeden Verdacht, hielt mich deshalb eher abseits und musste mit ansehen, wie Adrian und Neuhaus um ihre Aufmerksamkeit wetteiferten. Als ich ein Jahr später in Neuss die Schriftsetzerlehre begann, gehörte zu meinen Tagträumen, sie werde eines Tages ebenfalls in Neuss auftauchen. Dieser Tagtraum bewahrheitete sich tatsächlich. Als hätte ich sie herbei gewünscht, traf ich Hilly auf der Oberstraße, wo sie die Handelsschule besuchte. Natürlich war ich immer noch viel zu schüchtern, ihr näher zu kommen. Nachdem ich Hilly dreimal vom Bahnhof abgeholt hatte und schweigend neben ihr hergetrottet war, sagte Hilly, ich solle das nicht mehr tun. So endete meine erste große Liebe, bevor sie begonnen hatte.

Die Dinge des Lebens – Die Mumie trägt Adidas

Auf einem Stadtmöbel sind sieben Bildbände über Flugzeuge ausgesetzt. Warum? Hat einer über Nacht die Begeisterung für Flugzeuge verloren wie manche einen Schlüssel verlieren? Oder hat die Partnerin vor dem übervollen Billy-Regal gekniet und gesagt: „Entweder die Flugzeugbilderbücher oder ich!“ Da hat er nur kurz gezögert, sich dann aber für sie entschieden. Das kurze Zögern kostete ihn die Beziehung. Jetzt stellt er die Zankapfel-Bücher demonstrativ an die Straße. Ein Sparwitz mit einem Homonym: „Für meinen Mann gibt es nichts Schöneres als Fliegen.“ Nachbarin: „Und ich kann die Biester nicht leiden.“


Rätselhaftes in unserem Haus. Wer hat die schwarzen Adidas-Schuhe?
*
„Schönen Tag noch!“, wünscht die Supermarktkassiererin einem Mann.
„Dito“, sagt er. Ich mag solche Dito-Sager nicht. Warum eigentlich? Dito-Sager sind ichbezogene Knauser. In der wechselseitigen Kommunikation gilt ein „Schönen Tag noch!“ als dreifache Streicheleinheit. „Dito!“ wäre demnach eine. Da bleibt er ihr zwei Einheiten schuldig.
*
Im Treppenhaus roch es nach ungewaschenem altem Mann, der schon ewig in seinen Kleidern schläft und seit 50 Jahren Kettenraucher ist. Zuletzt habe ich neben einem solchen Stinker 1966 im Bus gesessen. Damals gab es viele von denen. Mit der Verbreitung von Waschmaschinen sind sie verschwunden. Wie verschlug es den einen ins Jahr 2020? Auf der 4. Etage sanieren des Hausbesitzers Lieblingshandwerker eine Wohnung und reißen dazu einige Wände ein. Vielleicht haben sie den Mann angelegentlich in einem Hohlraum gefunden, mumifiziert zwar, aber dann hat er versehentlich ein paar Tropfen Wasser abgekriegt und sich auf die Socken gemacht. Das erklärt auch die Sache mit den geklauten Schuhen.
*
Mein Jugendfreund Fritz hat viele Jahre für ein Fugen-s an der Scheune des Sinstedener Landwirtschaft[s]museums gekämpft. Seine Eingaben an den Beirat blieben lange ungehört, obwohl darin nicht nur Landwirte und des Schreibens kaum mächtige Bauern sitzen, sondern Akademiker und sogar Professoren. Die haben aber Besseres zu tun.

Forschungsreise (6) – Aachener Wasser und Datenschutz

Im völlig leeren Zug nach Rheydt erwischt mich die junge Zugbegleiterin zweimal mit herunter geschobener Mund-Nasen-Bedeckung und droht: „Beim nächsten Mal hole ich die Polizei!“
„Und was passiert dann?“
„Das kostet 25.000 Euro!“
Da werde ich wohl einen Kredit aufnehmen müssen. Die Überreaktion der Schaffnerin ist zu erklären, weil wir uns der besonders von Corona betroffenen Region Heinsberg nähern. Selber schuld, wird mancher denken. Wieso fährt einer auch ohne Not nach Rheydt? Ging nicht anders. Umsteigen in Rheydt ist die kürzeste Verbindung von Rommerskirchen-Eckum nach Aachen.

Wenigstens gibt es unterwegs etwas Kurioses zu sehen, ein hässliches gelettertes Graffito, dessen derbe Aussage noch durch die nicht minder derbe Orthographie unterstrichen wird. Einheit von Form und Inhalt. Der bedauerliche Sprühschriftverfall der Wandbeschriftung wirft jedenfalls ein bezeichnendes Licht auf die Region. Der Bützer soll uns trotzdem noch eine Weile erheitern, nicht zuletzt wegen der Darstellung eines schuldbewusst aus einem Gebüsch hervorlinsenden Mannes, der leider aus dieser Perspektive nicht gut zu sehen ist.

Foto: Susanne B.

Man könnte ja glauben, die Wendung „Alles rennet, rettet, flüchtet“ wäre von der legendären Donald-Duck-Übersetzerin Erika Fuchs, aber es war mal wieder Friedrich Schiller. Unser erster Abend in Aachen plagt uns mit einem heftigen Gewitter und Regen wie aus Eimern. Wir flüchten in die Wandelhalle des Elisenbrunnens. Das Wasser der 46 Grad heißen Kaiserquelle sprudelt aus zwei Löwenmäulern in Granitschalen. Einst kamen die gekrönten Häupter Europas her, um es zu trinken. Ihre Namen sind auf Steintafeln verweigt. Mir wurde einmal zugetragen, dass das Thermalwasser als Heilmittel gegen Syphilis galt. Demnach verrät die Tafel, wer davon befallen war. Heute warnt ein Schild: „Kein Trinkwasser.“ Wer trotzdem kostet, wird nicht mehr amtlich erfasst, schon aus Gründen des Datenschutzes.

Aachener Regen – Foto: JvdL


Die Bedeutung des Aachener Regens hat ultimativ der damalige Aachener Oberbürgermeister Jürgen Linden im Jahr 2008 kundgetan, als nämlich unsere geliebte Bundeskanzlin A. Merkel die begehrte Händlerkarte den begehrten Karlspreis an den Hals bekam. Derweil die illustre Gesellschaft geladener Ehrengäste auf die Bühne hinterm Rathaus trat, um sich bejubeln zu lassen, kam ein ordentlicher Guss von oben. Da gab der Aachener Oberbürgermeister Jürgen Linden ein Beispiel des Aachener Minderwertigkeitskomplexes und rief:

    „Ich kann Ihnen versichern, werte gekrönte Häupter, Staatspräsidenten, Wirtschaftskapitäne und geehelichte Büromiezen – äh – Kindermädchen, wenn es in Aachen regnet, dann ist es der schönste Regen überhaupt!“

Es war Hagel. Derweil sich die Köpfe staunend nach oben richteten in den durchaus heftig durchnässenden Hagelschauer, kam es beinah zu einem Eklat. Der spanische König Juan Carlos ließ dolmetschen, er wolle den besonderen Aachener Regen gern mit nach Spanien nehmen. Sogleich rückten aufmerksame Polizeikräfte zusammen, „Gruppe sechs hierher!“ wurde gerufen, und bald schloss Gruppe sechs den Kordon der Polizisten und Polizistinnen, und man sicherte Seit an Seit die Sperrgitter gegen die Begehrlichkeiten des spanischen Königs. Wasserdiebstahl ist ein beliebter Sport in Spanien.

Meine aufmerksame Begleiterin hat im Aachener Rathaus übrigens festgestellt, dass unter den 61 dort verewigten Karlspreisträgern nur fünf Frauen sind, wobei das Adverb „unter“ natürlich nicht wörtlich zu nehmen ist, da sei der schöne Hut der niederländischen Königin Königin Beatrix vor.

Forschungsreise (5) – Heimat im Tomatenglühen

Fritz, meine Begleiterin und ich stehen am Schulgebäude, wo meine Familie in den 1960-er Jahren zunächst die Dachwohnung, später auch die Lehrerwohnung auf der ersten Etage bewohnt hat. Mehr darüber findet sich in diesem Text. [Vorsicht, ist ein bisschen gruselig]. Fritzens [Name geändert] Elternhaus lag schräg gegenüber. Abends kam er gerne vorbei, setzte sich zu uns, sprach wenig und ging bald wieder. Indem wir gut 50 Jahre später vor dem Schulgebäude stehen, erinnere ich daran. Fritz weiß das kaum noch und erklärt, dass er sich damals wohl dessen gar nicht bewusst war. Vermutlich habe er als Einzelkind die Lebendigkeit einer größeren Familie genossen.

Wir fahren wieder zurück in den Ort, in die Straße, wo wir bei Fritz zu Gast sind. Unweit bin ich als Jugendlicher in der Nacht zum ersten Mai beschossen worden. In meiner Heimat ist diese Nacht eine Freinacht. Man darf dann allerhand Dinge, die man üblicherweise nicht darf, beispielsweise Fensterläden und Hoftüren aushängen und aufs Maifeuer legen und natürlich Maibäume setzen. Uns war gegen Morgen eingefallen, dass wir einem Mädchen in Rommerskirchen noch einen Maibaum setzen mussten. Fritz besaß damals einen VW-Käfer. Wir fuhren also im Morgengrauen nach Rommerskirchen. Dort versuchte ich im Vorgarten eines Hauses, ein Bäumchen zu besorgen. Der Baum war hartnäckig, ich bekam ihn nicht ab, da ich nur eine kleine Axt hatte. Da trat der Hausbesitzer im Schlafanzug auf den Balkon, in der Hand eine Flobert. Er legte wortlos sein Luftgewehr an und beschoss mich – aus heutiger Sicht mit einem gewissen Recht. Zum Glück hat er mich Flüchtenden in der Dämmerung nicht getroffen. Das Mädchen bekam dann leider keinen Maibaum. Das Setzen von Maibäumen ist ein altes Fruchtbarkeitsritual. Sie wird wohl kinderlos geblieben sein. (Foto oben: Susanne B.)

KW Neurath 2 vorne [Foto Wikipedia]
Das Land wir überragt von den neuen 172 Meter hohen Kühltürmen des Neurather Kraftwerks – oben auf der Hühnerberg heißenden Anhöhe. Dieses zweitgrößte Braunkohlekraftwerk Europas ist fast von überall her zu sehen, zumindest aber die Wolkenfahne aus den Kühltürmen. Wer gerne Kinder anlügt, könnte ihnen hier glaubhaft machen, dass mit diesen gewaltigen Maschinen unser Wetter gemacht wird. Je nach Wetterlage lässt der sorgsam auf Farb-Luft-Perspektive kalkulierte Anstrich die riesigen Kesselhäuser beinah mit dem Horizont verschmelzen. In Zeiten der massiven Kritik an der Braunkohleverstromung, macht der Betreiber RWE sich und seine Kraftwerkmonster lieber unsichtbar oder fördert nebenher ökologische Projekte. Unweit vom Kraftwerk liegen die Gewächshäuser der Neurather Gärtner.

Mit der Abwärme des Kraftwerks produziert man auf 16 Hektar jährlich 6000 Tonnen Tomaten für die Supermärkte der Region. Das Unvorstellbare einmal anschaulich gemacht, bitteschön: Der Mensch isst durchschnittlich 240 Kilogramm Tomaten jährlich, müsste also 525 Jahre leben, um 6000 Tonnen Tomaten mit einem Gewicht von je 200 Gramm zu verzehren. Aufeinandergestapelt reichen 6000 Tonnen Tomaten von hier bis zum Mond, wenn sie nicht unter ihrem Eigengewicht zu Mus werden. Dann schwappt der Tomatenbrei bis Timbuktu oder eben bis hier, falls Sie das hier in Timbuktu lesen. Noch stärker verzagt die Vorstellung vor den unmenschlichen Dimensionen des Braunkohleabbaus, was schon alleine ein guter Grund wäre, ihn ganz zu verbieten. Übrigens, im Hambacher Forst wurden von der Polizei wieder Baumhäuser geräumt. Sie hat ja sonst nichts zu tun.

Das geheimnisvolle Tomatenleuchten – Foto: Ulrike S.

Nachzutragen wäre das wundersame Tomatenleuchten, was angeblich vom Mond aus zu sehen war oder jedenfalls sogar bis Holland. Schuld waren Studenten einer Kölner Filmhochschule. Die wollten einfach ein bisschen Quatsch mit der Beleuchtung von Tomaten machen.

Forschungsreise Rheinland (4) – Am Gillbach

Fritz ist uns so weit wie möglich entgegen gefahren. Im Wolkenbruch geben meine Sneakers auf und lassen die Nässe durch, links und rechts, beide gleichzeitig. Ein Fall von Quantenmechanik? Vor nun 27 Jahren bin ich mit dem Rennrad hier gewesen und stand am Eingang des Hohlwegs, wo Fritz uns erwartet. Einmal im Sommer fuhr ich damals von Aachen die 85 Kilometer zur Zollfeste Zons am Rhein. Dazu wartete ich eine stabile Wetterlage mit Ostwind ab, damit ich bei der Heimfahrt Rückenwind hatte. Damals schrieb ich diese Notiz in mein Tagebuch, spekulierte auch, ob nach so langer Zeit noch ein Molekül aus der Vergangenheit von mir rumschwirrte, sammelte einen Holundertrieb auf, den ich unter Folie konservierte.

Ich habe im Sommer 1993 auch am Grab meiner Eltern gestanden. Nach so vielen Jahren ist es aufgehoben. Wo das Grab gewesen ist, zeigt der Friedhof heute eine Wiese. Ich bin betroffen, schelte mich, dass ich mich nie gekümmert und alles meinen Geschwistern überlassen habe. Im Zentrum des Dorfes fließt noch das künstliche Bächlein, das der Künstler Anatol Herzfeld gestaltet hat. Im Untergrund gurgelt der kräftige Gillbach, der einst Grenzbach zwischen den Dörfern Butzheim/Nettesheim war. Damals verband die Dörfer eine Brücke „Tollbrücke“ genannt, was gewiss „Zollbrücke“ bedeutet hat. Eventuell gehörten beide Dörfer einst verschiedenen Verwaltungsbezirken an, und es wurde Zoll erhoben.

Krankenhaus Maria-Hilf Nettesheim, gestiftet 1889, inzwischen abgerissen – von einer alten Ansichtskarte

Der Gillbach tritt erst weiter nördlich wieder ans Tageslicht. Gleich nebenan erhob sich früher das Nettesheimer Krankenhaus, in dem ich geboren bin. Meine Großmutter erzählte oftmals die Geschichte von einem verheerenden Hochwasser:

    Nach tagelangen Regenfällen hatte der Gillbach die ans Krankenhaus angrenzenden Wiesen überschwemmt. Nur ein kleine Insel ragte noch hervor. Darauf drängten sich die Kühe des Gutshofes von gegenüber. Die Kühe muhten gar jämmerlich, weil sie schon Tage nicht gemolken worden waren. Der Bauer hatte sie auf der Anhöhe im Stich gelassen. Im Nettesheimer Krankenhaus lag ein junger Mann, der gerade am Blinddarm operiert worden war. Er konnte in seinem Krankenbett das jammervolle Blöken nicht mehr mit anhören, stand auf, ging im Schlafanzug hinaus in den Regen, stieg in die Fluten und schwamm hinüber zu den Kühen. Dann führte er sie aufs Trockene. Der Gutsbesitzer soll ihn Tags darauf im Krankenhaus besucht haben und ihm mit einem Fünfmarkstück gedankt haben. Das wurde allgemein als schäbig angesehen.

Fortsetzung

Forschungsreise Rheinland (3) – Ein altes Heimatlied

Die Straße meiner Kindheit heißt jetzt Am Eichelberg. Die Umbenennung wurde nötig, weil mehrere Dörfer, auch das Doppeldorf Butzheim/Nettesheim zur Gemeinde Rommerskirchen zusammengefasst wurden. Einige Dörfer hatten eine „Bruchstraße“ gehabt. Fritz [Name geändert], mein Freund aus Kinder- und Jugendtagen fährt uns die Straße hoch zu der Stelle, wo sie in einen Hohlweg eintaucht. Er wird hier auf uns warten, denn der Hohlweg kann schon lange nicht mehr befahren werden. Die Natur ist dabei, ihn zurückzuerobern. Ich erinnere mich, dass einst die Gespanne der Bauern durch den Hohlweg schaukelten. Da war die Straße noch breit und festgefügt. Inzwischen ist die Bruchstraße sich selbst überlassen.

Die Bruchstraße ist ein langer Weg mit wechselnden Gesichtern. Sie beginnt an der Landstraße am Ortsrand und stößt genau nach Osten. In einem der Häuser nahe bei der Landstraße bin ich aufgewachsen. Am letzten Gehöft auf der linken Seite endete für mich der heimische Bereich. Es war Rufweite. Dahinter steigt die Straße leicht an, bis sie an der Wegkreuzung oben im Feld wieder abschüssig wird. Von dort konnte ich unser Haus noch sehen. Dann taucht die Straße zweimal in tiefe Gräben, deren Hänge dicht mit Holunder, Hasel und Brombeere bewachsen sind. Hier begann das kleine Abenteuer. Die Mutter eines Jungen hatte eine Trillerpfeife. Die konnten wir manchmal hören, und dann rannte er flugs nach Hause.

In den fernen Hohlweg trauten wir uns erst, als wir größer waren. Doch selten waren wir an seinem Ende, wo die Straße auf einem Damm ein altes Moor überquert, das im 19. Jahrhundert trocken gelegt wurde. Ein Kanal mit brackigem Wasser erinnert daran. Ein kurzes Stück durchzieht die Straße den schmalen Ausläufer eines alten Auwaldes. Er gehört zu einem verschwundenen Altarm des Rheins. Dann ein Gehöft. Wenige Meter hinter dessen Hauswiese stößt die Bruchstraße an ein Feld und ist einfach weg, als hätte man sie umgepflügt. Als Junge habe ich dort manchmal mit dem Fahrrad gestanden und bedauert, dass unsere Straße nach so vielen zielstrebigen Kilometern gen Osten ohne Sinn und Verstand ein sang- und klangloses Ende im Acker fand. Mir war, als wäre sie unter der Ackerkrume noch zu finden.

Da wusste ich nicht, dass ich auf einer alten Römerstraße stand. Dort wo ich zu Hause war, zweigte sie von der römischen Fernstraße ab, die von den südlichen Provinzen zur Nordsee führte. Die Bruchstraße war die Verbindung zu einem römischen Kastell am Rhein gewesen. Vielleicht rührte daher ihr seltsamer Zauber, den ich immer gespürt habe, und der wuchs, je weiter ich von zu Hause fort war. Dass es eine Heeresstraße war, erklärt auch ihr seltsames Ende. Nachdem der letzte römische Legionär durchgezogen war, hatten die Leute dort den Weg verlegt, und später untergepflügt. Sie hatten einfach das Tor geschlossen, wie es sich gehört, wenn der letzte Gast gegangen ist.

Was ich als Kind nicht wusste – Infotafel zum Vergrößern klicken – Foto Susanne B.

An den Hängen der Hohlwege steht der Mergel an, auch Löß genannt, wie die Informationstafel ausweist. Da und dort leuchtet er gelb zwischen Holunderbüschen, Brennnesseln und Brombeerranken. Im Mergel kann man prächtig graben und Höhlen ausschachten. Dachs und Fuchs hatten es uns vorgemacht. Doch wir schachteten rechteckige Kammern. Darin saßen wir und bewachten den Hohlweg. Pfeil und Bogen hielten wir bereit. Nur die ahnungslosen Legionäre in leichter Marschordnung kamen nicht.

Ich möchte meiner Begleiterin das Tal zeigen, das die beiden Hohlwege trennt. Ein alter Rheinarm hat es ausgeschwemmt, als der Rhein noch nicht gebändigt war. An seinen Ufern hatte eine Siedlung gelegen, die längst versunken ist und deren Namen niemand recht weiß. Nur Scherben pflügen die Bauern dort aus dem Boden.

Es ist ein bekanntes Phänomen, dass dem erwachsenen Besucher die Straßen und Häuser der Kindheit klein vorkommen. Die Bruchstraße trotzt dem. Sie streckt und längt sich, dass wir eilen müssen, denn am Himmel hinter uns ballt sich eine tiefgraue Gewitterformation. Als wir das Tal erreichen, brennt uns die Sonne noch heiß in den Nacken, doch mit einem Mal ist die Formation über uns und verfinstert das Land. Wir erblicken das Tal und den fernen Einschnitt des zweiten Hohlwegs, da geht auch schon ein heftiger Schauer nieder. Meine Begleiterin ist eine geschwinde Geherin. Obwohl ich hinter ihr her jogge, bleibe ich bald zurück. Na, macht nichts, ist ja meine Bruchstraße und vertrauter Regen.

Fortsetzung

Forschungsreise Rheinland (2) – Bonner Geschichte

„Man glaubt es nicht“, sagt die Frau hinter mir, “wenn das alles stimmt, was in dem Buch steht, dann ist die ganze Politik eine einzige Korruption, bis hinauf zum Bundesverfassungsgericht. Wenn da ein Staatsanwalt anfängt zu ermitteln, wird der sofort von seinem Fall abgezogen.“ (Entschuldigung, kleine Panne: Falscher Notizzettel. Die Worte hörte ich nicht im Bonner Haus der deutschen Geschichte, sondern irgendwann in einem Café. Und nochmals Pardon: Die Erklärung ist so ausführlich geraten, damit der Text so hoch ist wie das Kategoriebild, was natürlich nur auf einem Computerbildschirm passt, nicht auf Tablet oder Smartphone. Als Typograf ignoriere ich gern die Ortlosigkeit der digitalen Schrift.)

Obwohl wir natürlich nicht wissen, was da alles im ungenannten Buch enthüllt worden ist, Buch und Frau schon längst im Orkus des Vergessens verschwunden sind, geben ihre Worte auf dem falschen Notizzettel einen wichtigen Fingerzeig zur Beurteilung einer positivistischen Ausstellung, wie sie im Bonner „Haus der deutschen Geschichte“ präsentiert wird. Zu sehen ist die Oberfläche: der Salonwagen auf einem Abstellgleis, mit dem die Bundeskanzler von Adenauer bis Brand durch die Republik geschaukelt sind und natürlich ein schwarzes Bakelit-Telefon mit Wählscheibe zur Hand hatten.

Ich setze mich auch in eine enge Hinterbank des Bonner Plenarsaals, quetsche mir beim Hinsetzen den Oberschenkel und spüre genau, dass der sprichwörtliche Hinterbänkler ein hartes Los hatte, auch wenn er sich geschickter in die Bank gedrückt hat als ich. Wenigstens das sollte er gekonnt haben. Im Pult vor sich hatte er wie alle Abgeordnete vier Tasten für Abstimmungen, doch wie und warum abgestimmt wurde, von den Vorgängen hinter den Kulissen, der Kungelei in den Fraktionen, den inzwischen aktenkundigen Bestechungen wie etwa beim gescheiterten Misstrauensvotum gegen Willy Brandt, von den Einflüssen durch Lobbyisten auf politische Entscheidungen erfährt der staunende Betrachter nichts, wie uns ja auch heute nur die offizielle Lesart präsentiert wird und unsere Medien sich brav zu regierungsamtlichen Verlautbarungsorganen herabgestuft haben.

Trotzdem lohnt sich der Besuch, der Fülle von Artefakten wegen, die Auskunft geben darüber, was mal ganz nomales Leben war. Die Rückschau zeigt die Plastizität des Normalen, dass nämlich das scheinbar alltäglich Festgefügte im ständigen Wandel ist, der sich an den Ecken und Rändern vollzieht und deshalb kaum wahrgenommen wird. Es gehörten zu diesen versunkenen Zeiten andere Menschen. Noch in den 1980-er Jahren wollten sie sich nicht zählen lassen und hätten die medial gefeierte Corona-Tracking-App unserer fürsorglichen Bundesregierung in die Tonne getreten.

Nebenher: Wer sich über die Rechten und Neonazis in deutschen Parlamenten beunruhigt, die eine solche App hoffentlich nie in die Hände bekommen, damals saßen unsere Parlamente voller Altnazis. Mit Kurt Georg Kiesinger war sogar ein Blockwart der NSDAP Bundeskanzler, vom KZ-Bauten-Planer Heinrich Bundespräsident Lübke ganz zu schweigen. Dass die alten Nazis inzwischen glücklich verröchelt sind, beruhigt natürlich nicht wirklich, denn Seilschaften und Netzwerke sind beständiger als die Personen. Ehemalige Nazis saßen auch in den Redaktionen der Zeitungen.

In der Ausstellung halte ich die erste Ausgabe der Aachner Nachrichten in Händen. Sie hat vier Seiten. Aachen als westlichste deutsche Großstadt hatte mit den Aachener Nachrichten am 24. Januar 1945 das erste freie Publikationsorgan, lizensiert von den Allierten. Nach dem endgültigen Zusammenbruch des 3. Reiches schufen die westlichen Alliierten in ihrem Einflussbereich eine Presselandschaft, mit der sie ein Mindestmaß an Meinungsvielfalt sichern wollten, indem sie in den Städten und Regionen je eine rechtskonservative und eine linksliberale Zeitung ins Leben riefen. So wurde den von der Nazi-Propaganda geistig und moralisch paralysierten Deutschen eine Ahnung von Meinungsvielfalt beigebracht. Leider ist das Konzept in unserer Zeit durch Verlagsfusionen, Blatteinstellungen und Redaktionsnetzwerke verloren gegangen. Mehr zum Wesen und Unwesen unserer Medien bietet folgender Auszug aus meinem Buch Buchkultur im Abendrot:

Exkurs Medien von der frühen Bundesrepublik bis heute Weiterlesen

Forschungsreise Rheinland (1) – Pommes in Bonn

Niemand fährt nach Bonn, um Pommes Frites zu essen. Trotzdem befällt mich dort ein unbändiger Pommeshunger. Leider finden wir nur McDonalds, wo ein junger Mann, Typ „Hauptschulabschluss nicht geschafft“, in seinem Element ist. Er darf die Masken kontrollieren, Meldezettel ausgeben und Plätze zuweisen. Mit geschultem Blick erkennt er mein Befremden angesichts dreier Bestellbildschirme und befindet: „Ältere Herrschaften mögen ja nicht am Tuch-Screen bestellen. Sie dürfen durchgehen zur Bestelltheke.“ Anschließend weist er uns großzügig einen Platz „in der Spiele-Ecke“ zu, wo „ältere Herrschaften“ wohl am besten hinpassen. Die Spielgeräte sind vorsorglich gesperrt.

Seit wann es Fastfood gebe, will beim Abendessen unser junger Gastgeber wissen. Staunend erfahren die jungen Leute, dass es in der Republik tatsächlich mal eine Zeit ohne Fastfood gegeben hat. Ich erinnere mich, wie im Jahr 1961 erstmals von einer Pommes-Bude am Freibad unserer Kreisstadt geredet wurde. Damals hat sich mir unbefangenem Kind nicht erschlossen, was damit gewonnen wäre, Bratkartoffeln für unterwegs zu kaufen. Nach dem ersten Kauf war ich enttäuscht vom laffen Geschmack, der erst durch den Klacks Majonäse aufgehübscht wurde. Anfang der 1970-er Jahre tauchte in den Städten erstmals die Hamburger-Kette „Wimpy“ auf. Sie wurde aber bald von anderen Ketten mit besser konfektionierten Hamburgern verdrängt. Aus McDonalds verdrängt man offenbar das Verkaufspersonal. Kunden dürfen sich zukünftig mit frigiden Automaten herumschlagen. Trotzdem ein hoffnungsfroher Anfang. Dann müssen die nur noch Automaten bauen, die den Fastfood-Dreck unbeschadet fressen können.

Aachener Automatenschicksal: „cabot“ (kaputt) – Foto: JvdL – größer: Klicken

Dass auch Automaten ein Alterungsproblem haben, erfahren wir Tage später in Aachen. Die Bildschirme der Fahrschein-Automaten der Aachener Verkehrsbetriebe (ASEAG) sind allesamt tot. Wir halten das für eine der widersinnigen Corona-Schutz-Maßnahmen, wie ja auch am Vatertag nur Bollerwagen erlaubt waren, denen man das vierte Rad blockiert hat. Eine Frau in der ASEAG-Fahrkarten-Verkaufsstelle teilt uns mit, dass die Automaten schon vor Corona abgestellt worden sind:
„Die sind esu alt, dafür jibt et keine Ersatzteile mehr.“ Doch in Aachen sind wir noch lange nicht.
Fazit Bonn: Wäre ich König von Deutschland, würde ich im schönen Bonn residieren, nicht im überschätzten Berlin.

Fortsetzung

Technikmuseum – Abgesang auf den Bleistift

Es gab Zeiten, da habe ich Bleistifte gehortet. Am liebsten hatte ich die dunkelgrünen mit goldenem Aufdruck, deren Härtegrad invers in einem Feld mit runden Ecken steht. Ich besitze noch eine Blechdose mit Bleistiften aller Härtegrade von 9H bis 9B. Ein Bleistift enthält keine Mine aus Blei, obwohl man schon in der Antike mit Blei geschrieben hat. Bezeichnungen von Schreibutensilien konservieren oft ältere Technikzustände, wie etwa die Schreibfeder – (ehemals Gänsefeder), das niederländische vel (Fell) für Briefpapier (ehemals Pergament/Haut) [Finde mehr!]. Ein Bleistift hat demgemäß überhaupt kein Blei, sondern eine Mine aus einem gebrannten Graphit- und Tongemisch. Je mehr Ton die Mine enthält, desto härter ist der Bleistift. Einst hat die NASA für eine Million Dollar einen Kugelschreiber entwickeln lassen, der auch in der Schwerelosigkeit funktioniert. Russische Astronauten nehmen statt Kugelschreiber den Bleistift.

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Als Referendar in einem Aachener Mädchengymnasium fand ich in der Kunstetage einen sorgsam geordneten Schrank mit Materialien. Einmal nahm ich aus dem Materialschrank einen Bleistift und legte ihn nach Benutzung einfach in den Schrank zurück. Danach platzte die penible Kunstlehrerin und Chefin der Abteilung in meinen Unterricht und verlangte, dass ich den Bleistift in der richtigen Abfolge an seinen Platz legte.

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Zu Bleistiften gehört ein guter Spitzer. Es gab welche, die man an der Tischkante festschrauben konnte. Bleistift hineinstecken und kurbeln. Das war eine Lust, deretwegen mancher meiner Bleistifte zum Stummel wurde. Für derlei Stummel gab es wiederum Halter. Mit einem Stummelhalter konnte man auch abgespitzte Bleistifte gut fassen und bis zu ihrem Ende benutzen. Zur Not lässt sich ein Bleistiftstummel in die leere Hälfte eines Kugelschreibers klemmen. Um nicht ständig spitzen zu müssen, sollte man den Bleift regelmäßig über seine sechseckige Kante drehen.
[Im Bild: Bloggen mit Bleistift – etwa 2007 für das Teppichhaus Trithemius – größer: Klicken]

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In den letzten Jahren benutze ich einen Druckbleistift, dessen Minen austauschbar sind. Da müssen für die Hülle keine Bäume mehr gefällt werden (Pinie, Zeder, Ahorn, Linde). Wir brauchen die ja für Klopapier.

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Ein Meskalin-Esser hat während des Rauschs stets wundersame Visionen. Sie gipfeln in einem Satz, in dem alle Weisheit der Welt beschlossen scheint. Doch so sehr er sich den Satz einprägen will, ist der Rauschzustand verflogen, hat er den Satz vergessen. Da beschließt er, den Satz aufzuschreiben. legt Papier und Bleistift zurecht und bietet seine ganze Willenskraft auf, um im berauschten Zustand den wunderbaren Satz aufzuschreiben. Wie er aus dem Meskalinrausch erwacht, sucht er den Zettel hervor, worauf mit krakeligen Zügen der Satz aufgeschrieben steht, der alle Weisheit der Welt in sich beschließt. Dort steht:

    „Die Banane ist gelb!“

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Im Februar 1994, als gerade das Internet aufkam, schickte der Verleger Bill Henderson an die Los Angeles Times das Manifest eines „Lead Pencil Clubs.“ Der von dem gegründete „Bleistiftclub“ sah sich als ein antitechnisches Gegengewicht zu der aufbrandenden Begeisterung an elektronischer Kommunikation:

    „Wir empfangen keine E-Mail und wir verschicken keine. Wir unterhalten uns von Angesicht zu Angesicht. Wenn direkter Kontakt zwischen Menschen nicht möglich ist, werden wir Briefe von Hand schreiben, denn die Handschrift ist ein Ausdruck unserer Persönlichkeit.“

Der Bleistiftclub sollte „ein Schlagloch auf dem Informations-Superhighway sein.“ (Futurezone.at) Naturgemäß findet sich zum Lead Pencil Club nicht viel im Internet, aber den Nachweis dieser Buchveröffentlichung: Sogar der technikfeindliche Bill Hendersen hat inzwischen eine Internetseite. Der Lead Pencil Club ist nicht mehr erwähnt. Eventuell wurden seine Mitglieder abtrünnig, nachdem auch Hendersen vor der Macht der digitalen Medien kapituliert hatte.

Der Bleistift eignet sich nicht nur zum Notieren, Schreiben und Skizzieren, sondern ist auch ein ideales Zeichengerät [Zeichnung und Gif-Animation für das Teppichhaus Trithemius aus dem Jahr 2012 von mir].

Etwa zur Zeit der Buchveröffentlichung des Lead Pecil Clubs besuchte ich Schülerinnen /Schüler der Jahrgangsstufe 11 an ihrem Praktikumsplatz, eine davon in einer großen Werbeagentur. Der Besitzer führte mich herum und sagte stolz: „Sie finden im ganzen Haus keinen einzigen Bleistift mehr:“