Zu sehen ist ein langer fensterloser Gang. Das Licht kommt von indirekt strahlenden andleuchten, die in unregelmäßigen Abständen angebracht sind, als wären die Elektriker beim Anbringen völlig planlos vorgegangen oder hätten weder Maßband noch Zollstock gehabt. Freilich müsste ihnen die Länge des Gangs bekannt gewesen sein, um sie durch die zur Verfügung stehenden Lampen zu teilen. Das ist allerdings nicht der Fall gewesen, da der Gang sich völlig eigenmächtig erstreckt. Er hat große Bodenfliesen aus blauem Balatum. Auf den Gang münden unzählige graue Türen. Sie machen den Eindruck, dass sie jeden Moment aufspringen könnten, um jemanden auszuspucken. Wohin der Gang führt, lässt sich nur ahnen. Wer aus einer der Türen auf den Gang tritt, scheint es aber zu wissen. Man schreitet hurtig und mit auf dem Balatum quietschenden Schuhsohlen voran.
„Huch!“, ruft Herr Steinchen, indem er aus seinem Büro tritt, „ich hatte gestern eine Lebensmittelvergiftung!“, und dann als ich überrascht stehen bleibe und ihm einen besorgten Blick zuwerfe, setzt er nach: „Vielmehr, es war dann doch keine, wie die Laborwerte nachher zeigten, sondern eine Gallenkolik. Ich hatte zu fetten Lachs gegessen. Nun ist Lachs ja sowieso fett, aber dieser muss besonders fett gewesen sein. Doch von Ihnen als Vegetarier kann ich wohl kein Mitgefühl erwarten.“
„Nein, sowieso nicht“, sage ich. Während wir gemeinsam den Gang hinunter gehen, denke ich trotzdem über Steinchens hypochondrische Natur nach: So ist das, wenn einer so lange in sich hineinhorcht, bis er die Körpersäfte brodeln und wallen fühlt. Da ist ihm sein Körper Ich und doch nicht Ich, weil rätselhaft sich selbst organisierend. Und er misstraut der Selbstorganisation, fürchtet ständig, dass sie aus den Fugen geraten könnte, dass einer der komplexen Körpervorgänge aus dem Gleis springen könnte wie ein Zug seiner Modelleisenbahn, wenn er versehentlich eine Weiche stellt, während der Zug sie gerade überquert. Er vermutet längst das totale Chaos in sich, das sich nur als Normalität tarnt, dem aber auf die Schliche zu kommen ist, wenn er Laborwerte feststellen lässt. Armer Steinchen. Da sitzt seine Leber fett und lauernd unter seinem Rippenbogen und ist jederzeit bereit, sein Blut mit giftiger Galle zu überschwemmen. Dabei hat er doch nur Lachs …“
Eine Tür öffnet sich und Friedrich Harm tritt auf den Gang, um sich uns anzuschließen. Ganz unvermittelt beginnt er zu reden, wie es Menschen tun, denen die Sozialfähigkeit abhanden gekommen ist, weil ihnen zu lange schon niemand mehr zuhört. Herr Harm schaut keinen von uns an, sondern fixiert einen Punkt weit vor sich, dass es wirkt, als würde ihm seine Rede auf die Innenseite der Stirn projiziert, so dass er sie ablesen kann:
„In meinem höchst verwirrenden Traum letzte Nacht kam eine völlig misslungene Theateraufführung vor, in der alle Akteure nackt waren, bis auf eine einzige Frau, die Strümpfe trug, vielmehr eine unzüchtig ausgeschnittene Strumpfhose. Meistens war die Bühne völlig kahl, man hing in Seilen. Nur einmal war ein laut wieherndes Pferd zu sehen. Kurz darauf lag ein fast skelettierter Pferdekadaver auf dem Rücken und einer im weißen Kittel zeigte am Hals des Tieres auf eine kurze rotbraune Knorpelstange, mit der das Pferd angeblich dieses Wiehern hervorbrachte. Darauf wollte ich mich mit einer Frau in einen Kellerraum zurückziehen. Dieser lange, schmale Raum stand voller Gerümpel. Über die Breitseite zogen sich Oberlichter aus trübem Glas. Dort tauchten nun just im störenden Moment drei freche Arbeiter auf, die dreckig lachend, unsere Absicht ahnend, immer wieder die Fenster aufstießen und zu uns hinunter sahen, wobei sie auch mit den Armen hereinfuchtelten.“
Deinen Kopf möchte ich ja lieber nicht haben, denke ich, und noch weniger dein Leben. Es ist bekannt, dass Harms Ehefrau sich von ihm abgewandt hat, ja nicht einmal mehr mit ihm redet, nur noch Anweisungen erteilt.
Fortsetzung