Indem er als Computerpionier eine gewisse Virtuosität im Programmieren erlangt habe, sagte Jeremias Coster, der dubiose Professor für Pataphysik und Leiter des Instituts für Nachrichtengeräte an der Rheinisch-Westfälischen Technischen Hochschule (RWTH) zu Aachen, seien auch die von ihm erstellten Computerprogramme immer komplexer geworden, und nicht selten habe er gedacht, derweil er ein besonders diffiziles Programmelement in den Bauch des Computers hinab geschickt hätte, da habe er gedacht, es wäre kein Wunder, wenn der Computer sich auf irgendeine Weise beschweren würde, etwa ächzen oder stöhnen ob der komplizierten Programmzeilen, die er jetzt wieder abzuarbeiten habe, aber das wäre niemals geschehen, sondern wenn er Coster mit seinen Programmierkünsten die systeminhärenten Grenzen überschritten habe, dann habe der Computer einfach seine Mitarbeit eingestellt und sich aufgehängt, wie man landläufig zu sagen pflegt, und so würde er, Coster, sich fragen, wo wohl die Grenzen für das Überschriftfeld im WordPress-Blog zu finden wären, ob bei einer wirklich langen Überschrift etwa ein altes Weib erscheinen würde, das all die Wörter gebuckelt hätte und ächzen würde: „Jetzt ist’s aber genug, der Herr!“

Aber vermutlich würde rein gar nichts geschehen. Jedenfalls wäre seine Überschrift wohl noch nicht lang genug, da er aber noch etwas zu erledigen hätte, müsse er den Versuch jetzt abbrechen, werde ihn aber gleich fortsetzen, denn es ginge ja eigentlich um die Frage, wie und wo der Einflussbereich jedes Einzelnen begrenzt wäre und wer die emotionale Kraft hätte, die nur unscharf berechenbaren Randzonen des Lebens aufzusuchen. Auf die Idee, die Kapazität des Überschriftenfeldes auszuloten habe ihn jedenfalls die allseits bezaubernde Bloggerin Mitzi Irsaj gebracht, als sie titelte Ohne Titel scheint es bei Wortpress nicht zu gehen, wobei sich übrigens auch gezeigt hätte, dass man durch die eindeutschende Schreibweise „Wortpress“ verhindern könnte, dass der Editor eine Binnenmajuskel ins Wort pfuscht. Wenn sich ohne Überschrift kein Beitrag veröffentlichen ließe, die Untergrenze also vermutlich ein beliebiges Zeichen wäre, erhöbe sich die Frage nach der Obergrenze.

„Wenn sich keine Obergrenze finden lässt“, sagte ich, „ist das Feld so programmiert, dass es sich dynamisch erweitert. Demgemäß gibt es auch keine Obergrenze für die Textbeiträge, zumindest wäre sie von einem menschlichen Schreiber nicht zu erreichen, womit der Beweis erbracht wäre, dass in unserer Welt theoretisch unendlich große weitere Welten Platz haben.“ „Ja“, bekräftigte Coster. „Aus unserer Realität erweitern sich neue Realitätsbereiche wie Wurmfortsätze, und in einem dieser Wurmfortsätze sitzt der Blogger Trithemius und treibt ihn voran.“

Herb Lubalin, Upper and lower case und die Demokratisierung der Druckschrift

Seit in meinen Keller Wasser eíngedrungen ist, bin ich nicht mehr unten gewesen. Aber ich werde mich wohl überreden müssen, das zu tun. In den Regalen lagert hoffentlich noch gut verpackt ein Stapel einer Rarität, verschiedene Ausgaben, ganze Jahrgänge, der typografischen Fachpublikation U&lC (Upper and lower case) der International Type Face Corporation, erschienen ab 1974 in New York, herausgegeben von Herb Lubalin, einem genialen Typografen und Schriftschöpfer. Fachleute kennen seine Schrift Avant Garde, eine in den 60er Jahren berühmte serifenlose Linearantiqua, Laien kennen sein Adidas-Logo.

ulc titelUpper and lower case, das sind zu deutsch die Groß – und Kleinbuchstaben. Sie heißen so nach der Lage der Buchstaben in den Setzkästen der Bleizeit. Im angelsächsischen Sprachraum und auch bei den Niederländern liegen die Großbuchstaben in Extrakästen, die im steileren Winkel oberhalb der Kästen für die Kleinbuchstaben aufgestellt wurden, weshalb die Groß- und Kleinbuchstaben im Niederländischen bovenkast und onderkast heißen, im Englischen Upper and lower case.
U&lC ist eine kostenlos versandte Fachzeitschrift für Typografen, im Format 28,5 x 38 cm, geheftet, gedruckt auf Zeitungspapier.

Ich gehöre wohl zu den letzten Jahrgängen, die noch das Schriftsetzerhandwerk gelernt haben, doch Anfang der 1970-er Jahre wurde mein Handwerk quasi über Nacht museal. Ich erinnere mich, als die Aachener Druckerei, in der ich arbeitete, im Jahr 1973 den ersten Satzcomputer anschaffte. Er hatte ein orangefarbenes Blechgehäuse und war so hoch wie ein Kühlschrank. Zu dem Blechtrottel gehörte ein Monteur, der eine ganze Arbeitswoche im Hotel übernachtete, weil es tagelang dauerte, den Satzcomputer überhaupt ans Laufen zu bringen und einzurichten. Ich weiß noch, dass wir oft feixend um das Gerät herumstanden, weil es einfach nicht machen wollte, was es sollte. Es war ein sogenanntes Fotosatzgerät, das Schrift in gewünschter Satzbreite auf einen Endlosstreifen Fotopapier belichtete. Die Streifen wurden zerschnitten und am Leuchttisch auf einen Montagebogen geklebt, aus dem wiederum reprotechnisch Druckplatten für den Offsetdruck belichtet wurden. Diese relativ preiswerte Technik der Druckplattenherstellung ermöglichte, dass man auch die Schreibmaschine zur Satzherstellung nutzen und sogar Überschriften mit der Hand lettern konnte wie hier bei Manfred Voita zu sehen.

Für den professionellen Einsatz gab es den Fotosatz oder sogenannte Anreibeschriften von Herstellern wie Letraset und eben der International Typeface Corporation (ITC). Herb Lubalin hatte sie mit anderen gegründet, um Schriften für den Fotosatz und für Anreibeschriften zugänglich zu machen, denn man hatte zwar Satzcomputer und die neuen Satztechniken, aber keine Schriften. Die Lizenzen für Drucklettern wurden nämlich von den Schriftgießereien gehalten.

Im Jahr 1974 war abzusehen, dass der Bleisatz aus den Druckereien verschwinden würde. Ich lernte noch die neuen Techniken der Satzherstellung, begann aber klugerweise mit dem Lehramtsstudium. Ich hatte mich ein Jahr in Abendkursen auf die sogenannte Begabtensonderprüfung vorbereitet, sie bestanden und so die Hochschulreife erlangt. Mein Studium musste ich aber durch Arbeit finanzieren, denn ich hatte schon Familie. Also blieb ich dem graphischen Gewerbe noch lange verbunden, gestaltete Drucksachen für den AStA und den Pressesprecher der RWTH, wo ich sogar ein eigenes Büro hatte, layoutete zwei Monatsmagazine für den belgischen Disc-Jockey-Verband, Union Professionelle des Disc-Jockeys de Belgique (UPDJ, je in Flämisch und Französisch, und im gesamten Hochschulviertel hingen von mir gestaltete Plakate.
ulc 005ulc 008ulc 006ulc 009Die wunderbare U&lC sah ich erstmals bei meinem Bruder, der Geschäftsführer einer Kölner Druckerei war, in der ich vor meiner Aachener Zeit gearbeitet hatte. Es dauerte Monate, bis ich in den Verteiler geriet und mir regelmäßig die neuste U&lC zugesandt wurde. Ich glaube, meine anhaltende Liebe zur Typografie, meine Begeisterung für das Thema Schrift geht maßgeblich auf diese wunderbare Hauszeitschrift zurück. „Nirgendwo wurde lebendiger über neue Schriften geschrieben, nirgendwo anders wurden neue Schriften spannender inszeniert“, schreibt die Seite Fontshop.de, das „PDF-Archiv des legendären magazin ulc“, das hoffentlich noch ausgebaut wird.

Mit oben erwähntem Fotosatzcomputer und der freien Schriftlizenzierung der ITC begann ein gewaltiger kultureller Umbruch, der noch nicht abgeschlossen ist. Wenn wir heute über die Fülle der Druckschriften frei verfügen können, verdanken wir das Vorkämpfern wie Herb Lubalin. Indem wir Bloggerinnen und Blogger die Druckschriften, typografische Gesetzmäßigkeiten und am Buchdruck entwickelte Stilformen benutzen, stehen wir mit einem Bein noch in der Buchkultur der Bleizeit und tasten mit dem anderen in die Unwägbarkeit der digitalen Publikation. Ich hoffe, meine kleine Rückbesinnung hilft zu verstehen, was wir hier eigentlich machen und in welcher Tradition wir stehen.

Abbildungen aus U&lC, 6/1978. Die letzte Abb. zeigt das bekannte Zeichensystem Dingbats des deutschen Schriftschöpfers Hermann Zapf; Fotos: Trithemius (größer: klicken).

Die alte Bleisatztechnik zeigt mein Film über das Buchdruckereimuseum Hannover-Linden:

Neues aus der Semiotik oder auch der Käseforschung

Wir wissen nicht, was im Namen der Wissenschaft alles angestellt wird. Da gibt es zum Teil höchst zweifelhafte Versuche, die einen erschaudern lassen. Aus der geheimen Welt der Labore und Forschungseinrichtungen wurde mir gestern ein erstaunliches Dokument zugespielt. Geht es um die Wissenschaft von den Zeichen, die Semiotik, oder schlicht um ein ethisch bedenkliches Experiment der Transformation von Digital- zu Analogkäse? Man will es lieber nicht wissen.

käse
(Quelle: Monika Thorwart. Die Künstlerin Monika Thorwart ist eine ehemalige Schülerin von mir. Ich habe bereits hier eine frühe Arbeit von ihr veröffentlicht, die damals in meinem Kunstunterricht entstanden ist. Derzeit ist auf Facebook ihr fabelhaftes Kunstprojekt „livre des visages“ zu sehen, das auf die dem System Facebook inhärente Freundesammelei abhebt. Wer einen Facebook-Account hat, findet es unter dem Namen projektlivredesvisages)

Wider die orthographische Päderastie bei WordPress

Es ist Montag, Zeit ein bisschen aufzuräumen. Seit Tagen spinnt mein Kommentar-Editor, schreibt einfach ein Doppel-f im Anlaut, also so: ffalsch. Wenn ich das überflüssig f lösche, fehlen nach der Veröffentlichung des Kommentars beide und man könnte denken, ich hätte „alsch“ geschrieben als wäre ich f-blind. Lasse ich das Doppel-f, wirkt es wie ein Sprachfehler.

Binnenmajuskel

So ein Editor ist ein kleines Programm, das alle unsere Eingaben überwacht. Es fischt beispielsweise unerlaubte HTML-Befehle heraus, wandelt bestimmte Satzzeichen in Smilies um (danke Nana vom See für den Hinweis) und verändert Schreibweisen. Vor einigen Tagen habe ich ziemlich gestaunt, dass der WordPress-Editor mir eine sogenannte Binnen-Majuskel ins Wort gepfuscht hat. Kollegin Text und Sinn hat hier auch schon darüber geschrieben. Wie sie fühle ich mich meiner orthographischen Selbstbestimmung beraubt, denn ich lehne die Binnen-Majuskel grundsätzlich ab. Zur Strafe gibt es jetzt einen Ausflug in die Schriftgeschichte. Wer die Aussicht deprimierend findet, möge nicht weiterlesen. Weil heute Blue Monday ist, übernehme ich keine Verantwortung.

Zunächst wäre zu klären, warum wir überhaupt zwei Alphabetreihen haben, also die der Großbuchstaben (Majuskeln) und der Kleinbuchstaben (Minuskeln). Bekanntlich ist unser Alphabet durch die Römer aus dem Griechischen übernommen worden, was wir noch an seinem Namen erkennen, der nach den ersten beiden Buchstaben des griechischen Alphabets „Alpha“, „Beta“ gebildet ist. Was die Römer aus dem griechischen Alphabet gemacht haben, kennen wir als Lateinschrift. Es war eine reine Großbuchstabenschrift, deren Form uns gemeißelt überliefert ist. Sie heißt Capitalis Monumentalis und beruht auf den Grundformen Kreis, Quadrat und Dreieck. In ihrer schönsten Form findet sie sich auf einer Ehrensäule für den römischen Kaiser Trajan aus den Jahren 112/113, genannt Trajan-Säule. Die heutigen Großbuchstaben entsprechen exakt den Formen der Capitalis. Weil die Capitalis Monumentalis gemeißelt wurde, ist sie ziemlich statisch. Viele Buchstaben wie A, H, I, M, O, T, V, X, Y haben keine Schreibrichtung, sondern sind achsenspiegelbildlich. (Die ebenfalls achsenspiegeligen Buchstaben U und W fehlen noch in der antiken Alphabetreihe.)

Durch das Schreiben mit der Hand veränderte sich die Form. Die Buchstaben rundeten sich und passten sich der Schreibrichtung an. Aber auch mehrere hundert Jahre später war die Lateinschrift noch immer eine reine Großbuchstabenschrift, genannt Unzialis. Sie wurde ohne Wortabstand geschrieben und musste laut buchstabierend gelesen werden.

Etwa Mitte des 8.Jahrhunderts ging von der Hofschule Kaiser Karls eine Schriftreform aus, mit dem Ziel einer Vereinheitlichung der Verkehrsschrift im ganzen Kaiserreich. Die neue Schrift hat jetzt Formen im Mittelband sowie welche mit Ober- und Unterlängen. Zusammen mit klaren Wortabständen erlaubt sie Wortbilderkennung und schnelles, leises Lesen. Diese klare Lateinschrift wird karolingische Minuskel genannt. Aus heutiger Sicht ist die karolingische Minuskel eine reine Kleinbuchstabenschrift, weitgehend identisch mit unseren heutigen Kleinbuchstaben. Nur der I-Punkt ist eine spätere Erfindung und das kleine t hatte noch nicht die Andeutung einer Oberlänge. Wollte man ein Wort durch Großschreibung hervorheben wie etwa den Namen Gottes, benutzte und verzierte man Buchstaben der älteren Unzialis.

Etwa 600 Jahre später begannen in Italien sich Wissenschaftler wieder für die antiken Texte zu interessieren. Was sich über die Jahrhunderte erhalten hatte, war in der karolingischen Minuskel geschrieben. Irrtümlich hielt man die karolingische Minuskel für die Schrift der antiken Römer, verband sie mit den Buchstaben der Capitalis Monumentalis und nannte die Vermengung von Großeltern und Enkeln Antiqua. Was wir heute schreiben, ist Antiqua oder beruht auf den Formen der Antiqua. Es wäre jetzt noch ein Abschnitt über Herkunft, Sinn und Unsinn der Groß- und Kleinschreibung fällig. Aber weil hier vermutlich schon einige in den Seilen hängen das Fazit:

Ich will nicht, dass der WordPress-Editor mir einen alten Kerl mitten unter die Kinder stellt. Nach unseren Rechtschreibregeln hat er da nichts verloren, wirkt da peinlich wie ein, mit Verlaub, Päderast auf dem Spielplatz.

Kaffeeplausch mit Frau Nettesheim – Blue Monday

Frau Nettesheim
Trithemius
Oje, oje, oje, Frau Nettesheim.

Frau Nettesheim

Wo drückt der Schuh?

Trithemius
Morgen ist Blue Monday, der deprimierendste Tag des Jahres.

Frau Nettesheim

Wer sagt das?

Trithemius

Der britische Psychologe Cliff Arnall. Er hat im Jahr 2005 berechnet, dass der deprimierendste Tag immer auf den Montag der letzten vollen Januarwoche fällt. Dann sind die guten Vorsätze schon missglückt, der nächste Urlaub ist noch fern, die Tage sind weiterhin zu dunkel, und Montag ist sowieso ein Scheißtag. Die Formel sieht so aus: W steht für das Wetter, D für die Schulden, d für das monatliches Einkommen, T dafür wie lange Weihnachten schon vorbei ist, Q dafür wie gut man die Vorsätze noch aufrecht erhalten hat, M für das Niveau der Motivation, N für die Bereitschaft, aktiv zu werden … Die Formel habe ich aus dem niederländischen Wikipedia Und denken Sie nur, Frau Nettesheim. In Deutschland ist der Blue Monday weitgehend unbekannt. Wie gefährlich.

Frau Nettesheim

Wieso? Das ist doch Quatsch, Trithemius.

Trithemius

Überhaupt nicht. Wenn morgen einer in ein tiefes Loch fällt, könnte es ihm helfen, wenn er wüsste, dass es gar nicht seine Schuld ist, sondern die von Cliff Arnall.

Frau Nettesheim

Dass Arnall den Tag ausgerechnet hat, macht ihn doch nicht zum Schuldigen.

Trithemius

Doch! In vielen Kulturen werden die Überbringer schlechter Nachrichten geschlagen. Warum wohl? Und überhaupt stecken hinter vielen Depressionen die Psychologen. Würden die keine Namen dafür erfinden und keine Unglücksformeln in die Welt setzen, wäre das Leben schon viel schöner.

Frau Nettesheim
Bevor Sie sich weiter aufregen, rechnen Sie mal nach. Der letzte Montag der vollen Januarwoche liegt schon eine Woche zurück. Wir haben also den Blue Monday längst heil überstanden.

Trithemius
ZOUNDS! Und ich habs nicht mal gemerkt.

Hauptsache händisch (2) – Einiges über Handschrift

Hauptsache händisch heißt ein Aufruf von Blogfreundin Tikerscherk, illustriert mit einem handschriftlichen Blogtext. Inzwischen haben sich einige Bloggerinnen und Blogger handschriftlich beteiligt. Ich will etwas zur Theorie der Handschrift beitragen.

ABC meiner Handschrift

Niemand wird den Wert einer flüssigen und schönen Handschrift bestreiten. Und vermutlich weiß jeder, der schreiben kann, anzugeben, welche Bedeutung die Handschrift noch für ihn hat. Gerne wird das Besondere des handschriftlichen Briefes betont. Mancher hat kalligraphische Meisterleistungen vor Augen, den schönen Brief, die Notiz in einem Moleskinbüchlein oder den kunstvollen Eintrag im Poesiealbum. Doch das Hochwertige, das wir gefühlsmäßig mit der Handschrift verbinden, ist ein Blick in die Vergangenheit, in die Zeit vor Computer und Internet. Und vor allem, es ist privat.

Privat wurde die Handschrift allerdings schon vor über hundert Jahren, als die Schreibmaschine ihre bisherigen Aufgaben übernahm. Bis dahin war sie Speicher- und Kommunikationsmedium der Verwaltungen gewesen und stand in Konkurrenz zum Buchdruck. Diese Konkurrenz hatte auch die uns bekannte Form der Handschrift geprägt. Sie enthält seit dem Barock die Übertreibungen kalligraphischer Elemente wie Schleifen und Girlanden, mit denen sie sich deutlich von den Buchdrucklettern unterscheiden sollte. Vorher hatten die Buchdrucker mit ihren Lettern die Handschrift nachgeahmt, möglichst genau und schön, denn ihre Drucke sollten wie Handschriften aussehen, damit sie akzeptiert wurden.

Der Buchdruck hat der Handschrift noch mehr aufgeladen. Von handschriftlichen Büchern konnte niemand erwarten, dass sie fehlerfrei wären. Im Gegenteil: Mittelalterliche Texte sind voller Fehler, weil Fehler nur schwer zu korrigieren waren. Man war daran gewöhnt, dass ein abgeschriebenes Buch sich von der Vorlage unterschied. Die Idee des Fehlers im heutigen Sinne, wo sogar ein Schreibfehler im Bewerbungsschreiben zum Scheitern einer Bewerbung führen kann, eine solche Unerbittlichkeit gegenüber dem Schreibfehler kannte man im Mittelalter nicht. Es hat sogar analphabetische Kopisten gegeben, die den gesamten Text der Bücher abmalten, ohne Sinn und Verstand, wodurch sich viele Schreibfehler erklären. Und wenn eine Buchseite gar komplett in Holz geschnitten worden war wie bei den mittelalterlichen Blockbüchern, blieb eine Korrektur naturgemäß aus. Erst der Buchdrucker entwickelte den handwerklichen Ehrgeiz nach Korrektheit der Schriften. Denn er machte es möglich, einen Fehler in der fertigen Buchseite spurlos zu korrigieren, indem er die fraglichen Buchstaben austauschte.

Im Zuge dieser technischen Entwicklung wurde der Handschrift der Anspruch auf orthographische Richtigkeit aufgeladen. Schreibfehler wurden zum Makel, an dem sich später Schulnoten oder persönliche Abwertung orientierten. Darunter leidet auch die Realität der Handschrift in der Gegenwart. Ihre Zukunft ist düster. Diese Kulturtechnik wird sich noch weiter in den privaten Lebensbereich zurückziehen. Schon jetzt geraten handschriftliche Äußerungen kaum noch in die Öffentlichkeit. Ein Kollege kündigte mir einmal an, er werde mir aus dem Urlaub schreiben und fügte hinzu: „Aber nicht mit der Hand. Du bist Graphologe!“

Nichts ist weniger wahr. Weil ich mich intensiv mit Handschrift beschäftigt habe, lehne ich die Graphologie ab, denn sie ist ein missbräuchliches Werkzeug der Schnüffelei. Ich bestreite nicht ihre Nützlichkeit in der forensischen Kriminaltechnik, aber im privaten und beruflichen Alltag hat sie nichts verloren. Populäre Zeitungsartikel oder Buchtitel wie „Handschrift, der Spiegel unserer Seele“ oder „Was Ihre Handschrift über Sie verrät“ faszinieren und erschrecken zugleich. Man fürchtet, von der Graphologie bei einem peinlichen Defizit ertappt zu werden, von dem man selbst noch gar nichts wusste, als würde man in einem Alptraum in einer hintenrum beschmutzten Unterhose über die Straße laufen, und alle würden drauf zeigen und lachen. Weil jeder Mensch gewisse Abgründe in sich kennt oder ahnt, ist es fatal befürchten zu müssen, dass die eigene Handschrift einen Schlüssel für diesen Keller bereitstellt.

Trotz dieser Gefahr lieben wir an der Handschrift das Persönliche. Im handschriftlichen Brief ist der Schreibende fast körperlich noch anwesend. Wer sich hinsetzt und mit der Hand schreibt, hat mit der aktuellen Form seiner Schrift sogleich auch die eigene Gefühlslage vor Augen. Ähnlich ahnen wir die Gefühlslage dessen, der uns mit der Hand geschrieben hat. Diese Ahnung reicht. Wir lassen einen persönlichen Brief nicht graphologisch untersuchen, wie wir einem geliebten Menschen in der Regel keinen Privatdetektiv hinterher schicken. Im pfleglichen Miteinander gehört es sich auch nicht, die Taschen des anderen zu untersuchen oder ihn zu stalken.

Ausgelöst durch neue didaktische Überlegungen ist die Handschrift in die öffentliche Aufmerksamkeit geraten. Lehrer beklagen, dass Handschriften immer schlechter würden, die aufgescheuchte Presse startet hilflose Versuche, die Bedeutung der Handschrift aufzuwerten, indem sie Zeitungen (Bildzeitung, Titelseite vom 27. Juni 2012 – größer: Bitte klicken) oder Magazine (Magazin des Kölner Stadtanzeigers vom 18./19.April 2015) in Handschrift erscheinen lässt. Diese Versuche zeigen eines: Die Handschrift lässt sich zwar fototechnisch an moderne Verbreitungsmedien anpassen, aber ist für heutige Lesegewohnheiten zu sperrig. Zudem zeigt die handschriftliche Ausgabe der BILD, dass Bildredakteure passend zum Charakter hässliche Handschriften haben. Um das zu erkennen brauchen wir keine Graphologen, denn wir wissen, welch moralisch verkommenes Pack in der Bildredaktion sitzt. Wenn Bild handschriftlich schreit: “Alarm! Handschrift stirbt aus!”, möchte man angesichts der kakographischen Katastrophe fast sagen: “Zum Glück!”

Als Deutschlehrer habe ich einen Heftstapel korrigiert, der höher als mein Haus war, wie ich damals in meinem Arbeitszimmer unterm Dach ausgerechnet habe. Bei den Korrekturen sind mir natürlich tausende Handschriften begegnet. Obwohl ich mich immer um Objektivität bemüht habe, kann ich nicht verhehlen, dass schon der erste Anblick eines Textes mein Urteil zu beeinflussen drohte. Satirisch habe ich diesen Umstand hier versucht zu fassen (Erstveröffentlichung im Jahrbuch meiner Schule). Es gibt schöne und weniger schöne Menschen. Schöne Menschen haben es im Leben leichter. Ebenso gibt es schöne und hässliche Handschriften. Natürlich liest man eine schöne Handschrift lieber und folgt ihren Spuren inhaltlich bereitwilliger. Aber der äußere Eindruck kann täuschen. Und so zwang ich mich, auch hässliche Handschriften aufmerksam zu lesen.

Der heutige, zweilen desolate Zustand unserer Handschriften hängt eng mit den erlernten Ausgangsschriften zusammen. Wenn diese Erstschriften mit ihren verzerrten Formen also geeignet sind, regelrechte Sauklauen hervorzubringen, sollten wir die Erstschriften ersetzen durch ein klares Alphabet. Trotzdem wird sich die kalligraphische Frage nicht erledigen, denn wenn unsere Gesellschaft schöne Handschriften will, muss sie dafür sorgen, dass im Unterricht viel Zeit darauf verwandt wird. Wie mir jüngst Marion Wolff von der Deutschen Welle schrieb:

„Ansonsten ist es mit dem Schönschreiben wohl genauso wie mit dem Klavierspielen – Fingerfertigkeit erreicht man vor allem durch üben, üben, üben.“

Weil sich die Unterichtsinhalte unserer Schulen aber immer an den Erfordernissen der Wirtschaft orientieren, werden wir den Niedergang der Handschrift nicht verhindern können. Das öffentliche Gejammer ist scheinheilig. Ästhetische Werte sind wohlfeil. Wir erleben ja gerade eine kulturelle Revolution, ausgelöst durch die digitalen Medien. Handwerkliche Fähigkeiten werden in der Massenproduktion von Kulturgütern nicht mehr gebraucht. So ist es logisch, dass die Handschrift ihre Bedeutung verliert und letztlich nur in elitären Nischen weiter bestehen wird.

Hauptsache händisch (1) … Bloggen mit Handschrift

stukHauptsache händisch heißt ein Aufruf von Blogfreundin Tikerscherk. Manchmal, wenn ich mich mit einem Stift in der Hand erwische, frage ich mich: Was, zum Teufel, tue ich da? Dann ist mir das händische Schreiben fremd. Die Auseinandersetzung zwischen Ausdrucks- und Formwillen, Beschreibstoff und Schreibgerät kommt mir anachronistisch vor, gehört in die Vorzeit des Computers. Der niederländische Kabarettist und Autor Wim de Bie veröffentlichte schon in den 1980-er Jahren in einer Tageszeitung eine Glosse, worin er das Schreiben mit dem Computer ironisch lobte. Er hat den Text mit der Hand geschrieben, weil sein Computer kaputtgegangen war. Und was stellt er fest? Seine regelmäßige, geläufige, männliche Handschrift, mit der er früher manches Mädchen betört hat, ist verschwunden.

Mein hier abgebildeter Brief an die Leser meines Blogs „Teppichhaus Trithemius“ entstand im Rahmen eines Seminars über Handschrift, das ich vor ziemlich genau fünf Jahren im Twoday-Teppichhaus durchgeführt habe. Inzwischen schreibe ich immer seltener mit der Hand.

brief
Wir sehen, dass es nicht um die Perfektion oder Schönheit der Handschrift geht. Doch worin besteht dann die Qualität? Was hat die Handschrift, was ein Maschinentext nicht hat? Ich möchte mich Tikerscherks Aufruf anschließen. Wer sich nicht so exhibitionieren will, kann auch eine Übung wie die unten links machen. Es ist ein Wuttext. Er besteht aus lauter Beschimpfungen, ist bei Drehung des Blattes so oft übereinander geschrieben, dass die Wut nun hermetisch in den Text eingeschlossen ist.
Tagebuch wuttext
Wuttext: Trithemius/Tagebuch – (größer: bitte klicken)

Im Papierkorb legen – Prima Sprachberatung mit Huhn

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WordPress-Screenshot – Gif-Animation: Trithemius

Jedesmal, wenn ich eigentlich nur einen meiner Kommentare korrigieren will, muss ich das redaktionseigene Huhn aufscheuchen, damit es tut, was Hühner am besten können, nämlich legen – und wo? „Im Papierkorb“ natürlich. „Natürlich, natürlich, was hat denn das Huhn mit deinen Tippfehlern zu tun?“, fragt mein besseres Ich und mahnt, es wäre darauf zu achten, dass die unliebsame Textpassage nicht zu groß ist, denn ein solch faules Ei würde das Korrekturhuhn vermutlich zerreißen. Ich weiß nicht, ob jeder deutschsprachige WordPress-Blog-Editor „Im Papierkorb legen“ befiehlt. Es hätte doch längst auffallen müssen. Ich jedenfalls hätte nichts gegen eine kleine grammatische Korrektur, damit ich mein Korrekturhuhn endlich zur Ruhe legen kann. Wohin? In den Papierkorb natürlich.

Nur noch ein bisschen Asche – Erinnerung an meinen guten Freund Thomas Haendly †

thomas
Du liebe Zeit! Zwei Jahre sind schon vergangen, da mein guter Aachener Freund Thomas sich erschossen hat. Geblieben ist mir etwas von seiner Asche in dem Filmdöschen des kleinen Altars auf meiner Kommode.
Gestern jährte sich der Todestag meines Freundes zum 2. Mal. Tags zuvor hatten wir noch telefoniert und zusammen gelacht. Thomas war in Aachen immer mein sicherer Hafen gewesen. Wir hatten uns erst kennen gelernt, ein Jahr bevor ich nach Hannover gezogen bin. Ich war bei einem befreundeten Ehepaar eingeladen gewesen. Bei meinen Gastgebern traf ich diesen freundlichen Mann, einen Freund der Familie, der beständig etwas in ein Moleskine-Büchlein notierte, Buchtitel, meine Blog-Adresse, Wörter, Wortwendungen und Ideen, die ihm gefielen … – er kartographierte seine Eindrücke. Diese Form der Aneignung von Welt habe ich schon immer geschätzt. Wenn man auf diese Weise Notizen macht, verbinden sich manche von ihnen synästhetisch mit dem Ort des Geschehens und eventuell mit der gesamten Situation. So bekommt jede Notiz eine Bedeutungstiefe, die einer nachträglichen fehlt. Weiterlesen