Alles durcheinander – findet Frau Nettesheim

Frau Nettesheim
Hier sieht es ja aus wie bei Hempels unterm Sofa.

Trithemius

Kein Lebender hat je unter das Sofa von Hempels geguckt, Frau Nettesheim, also trifft mich ihre Bemerkung nicht.

Frau Nettesheim

Wollen Sie mir eine sophistische Diskussion aufzwingen? Ich meine das Papierchaos hier.

Trithemius
Ja, mir sind die Dinge ein wenig entglitten, weil ich mit Schreiben beschäftigt war. Wenn das Durcheinander nicht mehr mit 30 Handgriffen zu beseitigen ist, kapituliere ich erst einmal und lasse es eine Weile zu, bis die mahnende Stimme mich zum Handeln veranlasst.

Frau Nettesheim
Dann ist ihre mahnende Stimme vermutlich heiser, weil sie seit Tagen auf taube Ohren stößt.

Trithemius
Hat sie sich deshalb Verstärkung durch Sie geholt, Frau Nettesheim?

Frau Nettesheim

Nein, das ist letztlich Ihre Sache. Meine Bemerkung war ein spontaner Ausruf des Schreckens. Wenn Sie sich in dem Durcheinander wohlfühlen …

Trithemius
Ich fühle mich nicht wohl darin. Und wenn ich auch noch nicht zur Tat geschritten bin, so mache ich mir seit gestern schon Gedanken darüber, was es damit auf sich hat und wie ich es am besten beseitige.

Frau Nettesheim

Und? Müssen Sie zuerst noch eine Zeichnung davon machen, bevor sie tätig werden?

Trithemius
Mich interessiert die Theorie des Unzulänglichen, Frau Nettesheim. Zum Unzulänglichen gehören verschiedene Erscheinungen, und sie alle unterliegen dem gleichen Prinzip, das ich zu Ihrer Erbauung „Hempel-Effekt“ nennen möchte. Jeder Zustand des Unzulänglichen im menschlichen Dasein zieht dem jeweils Betroffenen Energie ab, und zwar im Quadrat zur Belastung durch den als unzulänglich empfundenen Umstand. Wenn ein solcher Zustand nicht mehr mit 30 Handgriffen beseitigt werden kann, reicht die Energie des Menschen nur noch dazu, den augenblicklichen Zustand zu halten, nicht aber, ihn zu beseitigen.

Frau Nettesheim

Selten habe ich erlebt, dass einer sich auf so komplizierte Weise darum zu drücken versucht, in seinem Umfeld Ordnung zu machen. Jetzt brauche ich erst einmal einen Kaffee.

Trithemius

Leider ist keine Tasse mehr sauber, Frau Nettesheim.

Die Kulturgeschichte der Typografie in einer Nussschale 9) Von der Macht des gedruckten Wortes

An einem schönen Frühlingsmorgen hatte der Buchantiquar an der Limmerstraße Bücherkisten nach draußen gestellt. Auf dem Weg zum Georgengarten kam ich vorbei und stieg vom Rad, um in den Auslagen zu stöbern und etwas Lesestoff zu kaufen. Da lachte mich ein gut erhaltenes Insel-Taschenbüchlein an: “Lichtenbergs Funkenflug der Vernunft – eine Hommage zu seinem 250. Geburtstag“. Das Büchlein versammelte Texte von gut 30 bekannten Autoren, die jeweils über eine Sentenz von Georg Christoph Lichtenberg geschrieben hatten. Die Aussicht, mich damit im ergrünenden Georgengarten in die Sonne zu setzen, über mir ein makelloses Himmelsblau, das nur durchschossen wurde vom aufgeregten Tirilie, Pfeifen und Zwitschern der Vogelwelt, schien mir ein unschätzbarer Luxus zu sein. Er sollte mich nur drei Euro kosten.

Lichtenberg, * 1. Juli 1742 – † 24. Februar 1799 lehrte Physik in Göttingen. Der Nachwelt ist er bekannt durch die posthume Veröffentlichung seiner Sudelbücher. Über ihre Entstehung schreibt er: „Wenn jemand alle glücklichen Einfälle seines Lebens dicht zusammen sammelt, so würde ein gutes Werk daraus werden. Jedermann ist wenigstens einmal im Jahr ein Genie. Die eigentlichen so genannten Genies haben nur die guten Einfälle dichter. Man sieht also, wie viel darauf ankommt, alles aufzuschreiben.“ Lichtenberg fügt hinzu, er habe gesehen, dass die Kaufleute ein Sudelbuch hätten, worin sie alle ein- und ausgehenden Lieferungen vermerkten. Deshalb nannte er seine „Sammlung „glücklicher Einfälle“ so: „Schmierbuchmethode bestens zu empfehlen. Keine Wendung, keinen Ausdruck unaufgeschrieben lassen. Reichtum erwirbt man sich auch durch Ersparung der Pfennigs-Wahrheiten.”

Doppelseite aus: Lichtenberg, Funkenflug der Vernunft, Frankfurt am Main und Leipzig 1992 (größer: Klicken)

Lichtenberg sudelte seine Einfälle in Hefte. Im Büchlein sind Heftseiten abgedruckt. Es gibt Leute, die solche Manuskriptseiten, „Autographe“ genannt, sammeln. Was nicht in privaten Sammlungen verschwindet, wird in Bibliotheken und Archiven aufbewahrt. Für die meisten von uns wäre Lichtenbergs Funkenflug schlicht unzugänglich, weil Autographe ja einmalig sind und weil es der Übersetzungsleistung aus der Handschrift in die überindividuelle Druckschrift bedarf, damit Texte allgemein zugänglich werden. Um ein Buch herzustellen, ist ein gewaltiger technischer Apparat nötig und die Arbeit vieler Spezialisten – in Lichtenbergs Fall haben Literaturwissenschaftler den Nachlass gesichtet und die Manuskripte einem Verleger angetragen. Der hat Lektoren beauftragt zu entscheiden, was vom Manuskript die Schriftsetzer absetzen und somit lesbar machen, Korrektoren haben den Satz mit dem Manuskript verglichen und Fehler getilgt. Damit ein Buch entstand und in viele Hände geraten konnte, waren außerdem beteiligt: Schriftgestalter, Typografen, Drucker, Buchbinder und Leute im Vertrieb bis hin zum Buchhändler. Ein riesiger technischer Apparat und ein Heer von Spezialisten machten die hin gekritzelten Gedanken eines Menschen allgemein zugänglich und verliehen ihnen Wucht und Wirkung. Das alles begründet die sprichwörtliche „Macht des gedruckten Wortes.“

Ähnliche Machtfaktoren begründen den Einfluss von Zeitungen. In der Buchkultur besaßen die Buch- und Zeitungsverlage als einzige diese Produktionsmittel. Sie sicherten ihre Herrschaft über die Köpfe der lesenden Menschheit. Buch- und Zeitungsverlage bestimmten, was gedacht und worüber diskutiert wurde. Wenn man bedenkt, dass die Verlage meistens im Besitz von wenigen reichen Familien sind, müssen wir in ihnen die Elite sehen, die das kulturelle Leben prägt. Ein Autor oder Journalist, der in ihrem Auftrag etwas schreibt und in Druck gibt, fühlt sich ebenfalls zur Elite gehörig. Wer schon einmal eine der gewaltigen Rotationsmaschinen beim Druck einer Zeitung erlebt hat, gesehen, wie sich von dicken Papierwalzen eine straff gespannte Papierbahn abrollt und um Druck- und Gegendruckzylinder gewunden durch so ein haushohes Wunderwerk der Maschinenbaukunst rast, wer einmal ihrem Getöse gelauscht hat, wer die vibrierenden Erschütterungen des Fundaments gespürt hat, kann sich vielleicht das erhebende Gefühl vorstellen, dass den Autor erfasst, dessen Gedanken da millionenfach gedruckt werden.

Die Leser der Buchkultur brachten dem gedruckten Wort ein fast blindes Vertrauen entgegen. (Dazu eine ulkige Episode am Schluss des Eintrags.) Gedrucktes war geadelt durch den immensen Aufwand an Menschen, Material, Produktionsmittel und Kapital. Das alles signalisieren die Druckbuchstaben. Auch meine Gedanken hier sind mit solchen Druckbuchstaben allgemein lesbar gemacht. Sie profitieren vom gewaltigen kulturellen Hintergrund, den ich oben und in der gesamten Reihe über Typografie skizziert habe. Indem sich der Druckbuchstabe völlig vom Material gelöst hat und nur noch Form ist, wurde er allgemein verfügbar. Von dieser Demokratisierung der Druckschrift profitiert jeder, der im Internet publiziert. Es ist nachvollziehbar, dass die alten Alleinherrscher über die Druckschrift nicht erfreut sind über die leichtgewichtige, weil immaterielle Konkurrenz durch digitale Schreiber.

Fehlendes Material geht einher mit fehlender Kontrolle. Ein kultureller Sprengsatz.
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Die Kulturgeschichte der Typografie in einer Nussschale 8) Typografisches Messen

Folge 1 Antikes Geschrei
Folge 2 Lesen wie Bienensummen
Folge 3 Faustischer Buchdruck
Folge 4 Fraktur versus Antiqua
Folge 5 Aufstieg und Abschaffung der Fraktur
Folge 6 Die unendliche Setzerei
Folge 7 Kanonen der Form

Wenn ich mir Entfernungen räumlich vorstellen will, greife ich zurück auf frühe Erfahrungen. Zwischen unserem Dorf und dem Bahnhof des Nachbardorfes lagen zwei Kilometer. Die Strecke bin ich gegangen, wann immer ich mit dem Zug fahren wollte. Die Entfernung nach Köln betrug 20 Kilometer. Bei klarer Sicht konnte man über die Felder hinweg ganz schemenhaft den Kölner Dom sehen. Die Kreisstadt Grevenbroich war zwölf Kilometer entfernt. Da war das Freibad, und ich bin mehrmals mit dem Fahrrad hingefahren. Zum Kloster Knechtsteden mit seiner Klosterschule radelte man sechs Kilometer.

Noch heute breche ich Entfernungsangaben auf diese vier Koordinationspunkte herunter. Das korrespondiert natürlich überhaupt nicht mit Erfahrungen, die man bei einer Reise mit modernen Verkehrsmitteln macht. Eine Weile fuhr ich mit dem ICE von Hannover nach München und zurück. Interessanter Weise ließ die Aufmerksamkeit für die Strecke in der Weise nach, in der sie die mit Sinnen erfassbaren Bereiche überstieg. Letztlich hatte ich jedes Mal etwa viereinhalb Stunden im Zug gesessen, konnte mir aber die zurückgelegte Entfernung nicht vorstellen. Das scheint einer menschlichen Konstante zu entsprechen, dem Tagesmarsch. Mehr als 50 Kilometer kann sich auch der heutige Mensch nicht vorstellen. Was das mit Typografie zu tun hat?

Auch kleine Dimensionen stelle ich mir bezogen auf frühe Erfahrungen vor. Dabei hilft mir das typographische Maßsystem, Abstände unterhalb eines Zentimeters einzuschätzen, das ich mit 13 Jahren kennenlernte, als ich eine Schriftsetzerlehre begann. Das typographische Maß ist eine Einteilung nach dem Pariser Schriftgießer Didot (1795). Grundlage ist das französische Zoll. Die kleinste Einheit ist der Punkt, die höhere das Cicero, 12 Punkt = 1 Cicero. Die genaue Stärke eines Punktes beträgt 0,376065 mm, das heutige Rechnungsmodul hat 0,375 mm, demnach ist 1 Cicero gleich 4,5 mm. Da es in der Typografie um feine Proportionen und Aufteilungen geht, bevorzugen die Typografen das typografische Maßsystem vor dem Dezimalsystem. Die 10 ist nur teilbar durch sich selbst, die 5, die 2 und 1. Die 12 ist vorteilhafter, weil teilbar durch sich selbst, durch 6, 4, 3 , 2 und 1. Die typographische Messleiste heißt Typometer. Moderne Typometer haben typographische und metrische Einteilung. Ein Scherz unter Schriftsetzern der Bleizeit: “Rutsch mal ein Cicero zur Seite!”

Die Etymologie von “Cicero” ist unklar. Entweder ist es nach dem Erstdruck der Briefe Marcus Tullius Ciceros von 1466 durch den Frühdrucker Peter Schöffer oder nach dem Schriftschöpfer Hans Cicero (16. Jh.) benannt. Alle im Bleisatz gängigen Schriftgrößen tragen Namen. Die Größenangaben beziehen sich auf den Schriftkegel, also auf die Ausdehnung des Bleikörpers. Das Schriftbild ist jeweils kleiner. Gedruckte Schrift wird deshalb vom Kopf der ersten bis zum Kopf der zweiten Zeile gemessen. Ein korrektes Ergebnis kommt aber nur heraus, wenn die Zeilen kompress, also ohne Durchschuss gesetzt sind. Doch durch die im 19. Jahrhundert in den USA erfundene Linotype-Setzmaschine verbreitete sich auch in Europa mit dem amerikanischen Pica-Point ein alternatives Punktsystem. Ein Pica entspricht gerundet 0,3527 mm, ist also kleiner als ein Punkt nach Didot (0,375) Im Foto- und Computersatz, generell in der digitalen Typografie überwiegt bei allen Größenangaben heute das Pointsystem.

Um der Maßverwirrung zu begegnen, einigten sich die deutschen Typografen 1978 auf das Dezimalsystem. In der Praxis konnte es sich nur bedingt durchsetzen, so dass die Situation eher verschlimmert wurde. Der Einsatz des Personal-Computers in der Typografie hat die Verwirrung potenziert. Dies liegt besonders an der sehr stark unterschiedlichen Auslegung von Soft- und Hardware. Man kann hier die Maßangaben nur als Erfahrungswerte benutzen. Sie sind hilfreich für den Vergleich untereinander. Da die Darstellung der Schriftgrößen am Bildschirm nur selten exakt dem späteren Ausdruck entspricht, ist das Prinzip “What You See Is What You Get” im halbprofessionellen Bereich kaum einzulösen.

Im Druck trifft das das typografische Maßsystem mit dem Dezimalsystem des Papierformats zusammen. Was ist das Besondere am DIN-Format? Am 22. Oktober 1786 schrieb der Philosoph Georg Christoph Lichtenberg in einem Brief an den Philosophen und Ökonom Johann Beckmann:

“Ich gab einmal einem jungen Engländer, den ich in Algebra unterrichtete, die Aufgabe auf, einen Bogen Papier zu finden, bei dem alle Formate als forma patens (…) einander ähnlich wären. Nach gefundenem Verhältnis wollte ich nun einem vorhandenen Bogen eines gewöhnlichen Schreibpapiers mit der Schere das verlangte Format geben, fand aber mit Vergnügen, daß er ihn würklich schon hatte. (…) Die kleine Seite des Rechtecks muß sich nämlich zu der großen verhalten wie 1:√2 oder wie die Seite des Quadrats zu seiner Diagonalen. Die Form hat etwas Angenehmes und Vorzügliches vor der gewöhnlichen. Sind den Papierform-Machern wohl Regeln vorgeschrieben, oder ist diese Form durch Tradition nur ausgebreitet worden?”

Lichtenberg ist demnach nicht der Erfinder des DIN-Formats, wie man gelegentlich lesen kann, sondern hat das Format gefunden und als erster beschrieben. Er macht auf ein bis dahin geheimes Formatprinzip aufmerksam, an dessen Veröffentlichung die Papierhersteller kein Interesse hatten. Wie alle Handwerker hüteten sie ihre Geheimnisse. Auch wurde das Formatprinzip nicht sonderlich bevorzugt, denn es gibt schönere Proportionen wie zum Beispiel den Goldenen Schnitt oder die mittelalterliche Idealproportion 2:3. So waren auch 100 Jahre nach Lichtenbergs Brief in Deutschland immerhin noch 17 verschiedene Papierformate gebräuchlich, von denen durch Teilung (Hälftelung) kleinere Formate hergeleitet wurden. Nur zwei davon haben annähernd das Verhältnis 1: √2, Super Regal (68,8 * 48,7) und Pandekten (37,1 * 26,4). Der Nachteil der anderen Formate war der Verschnitt, der durch Teilung entstand.

Den ersten Anstoß zur Normierung der Büropapiere nach diesem Formatprinzip veröffentlichte der Philosoph Wilhelm Ostwald 1911 im Buchhändler Börsenblatt Nr. 243. Damit daraus die heutige DIN-A-Reihe werden konnte, war eine weitere Festlegung nötig: Grundsätzlich lässt sich von jeder beliebigen Größe das Seitenverhältnis 1: √2 ableiten. Deshalb ist eine feste Bezugseinheit erforderlich. Daher legte Ostwalds Assistent, der Ingenieur Walter Porstmann, den Bogen DIN A 0 annähernd mit dem Flächeninhalt eines Quadratmeters fest (84 cm * 118,8 cm = 9979,2 cm²) und schuf damit das sogenannte Weltformat. Auf den DIN-A-0-Bogen beziehen sich alle Gewichtsangaben. Hat man einen DIN-A-4-Bogen des 80 Gramm Papiers, so wiegt er gerade mal 5 Gramm (DIN A 4 = 1/16 von DIN A 0). Die kleineren Formate lassen sich durch Halbierung der jeweiligen Langseite ableiten, wobei allein der Bogen DIN A5 mit abgerundeten 14,8 (statt 14,85) ganz leicht aus der Reihe tanzt:

DIN A 1: 59,4 * 84,0 – 40g
DIN A 2: 42,0 * 59,4 – 20g
DIN A 3: 29,7 * 42,0 – 10g
DIN A 4: 21,0 * 29,7 – 5 g
DIN A 5: 14,8 * 21,0 – 2,5g
usw.;
dies bedeutet, dass sich ein DIN-0-Bogen ohne Verschnitt in kleinere Formate zerteilen lässt, die alle die gleiche angenehme Proportion haben. So gesehen ist das DIN-Format ein Kompromiss zwischen Ästhetik und Ökonomie. Trotz seiner Vorzüge hat das Weltformat nicht die ganze Welt erfasst, sondern sich nur im Bürosektor durchsetzen können, wo es allerdings die Maße der Geräte, Aufbewahrungssysteme und Möbel mitbestimmt, in der Büroarchitektur auch die Abmessungen der Räume. In den USA hat das DIN-Format wegen der Ablehnung des metrischen Systems nur nachrangige Bedeutung.

Wird (noch einmal) fortgesetzt

Die Kulturgeschichte der Typografie in einer Nussschale 7) Kanonen der Form

Folge 1 Antikes Geschrei
Folge 2 Lesen wie Bienensummen
Folge 3 Faustischer Buchdruck
Folge 4 Fraktur versus Antiqua
Folge 5 Aufstieg und Abschaffung der Fraktur
Folge 6 Die unendliche Setzerei

Die Linguistik unterscheidet bei einem Wort seine lexikalische Bedeutung (Denotation), und die Gefühlswerte und Assoziationen (Konnotationen), die ein Sprecher/Hörer mit dem Wort verbindet. Typographen und Kalligraphen wissen, dass die Form der Buchstaben ebenso Gefühlswerte und Assoziationen vermittelt. Der Klarheit wegen will ich bei Konnotationen der Schriftform von Konnotationen² schreiben. Der Kunstwissenschaftler und polyglotte Blog-Kollege Merzmensch berichtete mir nach einer internationalen Tagung über den MERZ-Künstler Kurt Schwitters im hannöverschen Sprengelmuseum von den Problemen, das typographische Bilderbuch „Die Scheuche“ von Kurt Schwitters, Käthe Steinitz und Theo van Doesburg ins Englische zu übersetzen. Übersetzen ist hier das richtige Verb, denn die Scheuche hatte Schwitters ausschließlich mit typographischem Material aus der Setzerei des Schriftsetzers Paul Vogt gesetzt. In seinem Blog hat Merzmensch die deutsche und englische Fassung verglichen und mir freundlicher Weise die Übernahme gestattet:
Freund Merzmensch schreibt: „Der BierBäuchige Bauer BreitBeinig stehend – was kann so eine Figur [nicht] besser personifizieren, als B?“ und weiter über die englische Übersetzung: “The Farmer on his Flimsy Feet doesn’t Fit so really in the Schwitters’ concept. But how you would translate it else? Dieser Bauer sieht absolut unpassenderweise nach einem Gentleman aus… Ja, Merzmensch, weiss es nicht, wie man typographische MERZ-Werke übersetzen soll. Vielleicht ist es unmöglich?“

Wenn schon die Bildwerte einzelner Buchstaben unser Urteil beeinflussen, gilt das erst Recht für den Bildwert, den Charakter einer Schrift. Jeder empfindet empfindet die Konnotationen² beim Anblick einer Handschrift, weil sich in der expressiven Gestaltung die Person des Schreibers zu spiegeln scheint. Auch hier lässt sich mit Mehrfachbedeutungen spielen, um die Aussage kräftiger zu machen, wie die wunderbare handschriftliche Zeile der Blog-Kollegin Phyllis zeigt:
(Phyllis Kiehl; „Komplett irrationale Notate, ff“ – größer: klicken)

Bei den von jeder Expressivität gereinigten Druckschriften sind Konnotationen² weniger augenfällig, zumal ein Abstumpfungsprozess durch häufiges Lesen entsteht. Trotzdem lässt sich eine schriftliche Aussage durch die Wahl der passenden Schrifttype unterstützen oder schwächen. Es ist ein Unterschied, ob

liegen oder umgekehrt, also nicht weiche Männer in harten Betten oder harte Betten in weichen Männern, sondern bei gleichem Bedeutungsinhalt die Schriften ausgetauscht werden. Die gewählte Schrifttype lässt immer auch Nebenbedeutungen mitschwingen.

Darum sollte das Wort „Symphonie“ den Leser nicht in der gleichen Tonart und optischen Lautstärke anbrüllen wie das Wort „Sauerkraut.“ Was gut und passend ist für „Das alte Rom“…ist etwas zu gut für die „neuen Radieschen.“ (Beispiele aus: Edwin Baumann; „Mit den Kanonen der Form nach den Spatzen des Inhalts zu schießen“, in Grafisches ABC 4/1966) Es kommt viel eher vor, dass ein Text typografisch overdressed ist als zu schlecht angezogen. Die richtige Wahl fällt natürlich am ehesten durch die Kontrastierung auf. Ein Gespür für den passenden Schriftcharakter stellt sich nicht von selbst ein, sondern wie in allen Künsten schärft sich das Urteil durch längere Beschäftigung mit der Materie. In der Vergangenheit war feines Gespür oft bei den Fachleuten in den Schriftgießereien zu finden. Wenn die Schriftgießereien eine neue Schrift herausbrachten, gaben sie immer passenden Anwendungsbeispiele. Die nachstehende Aufstellung passender Schriftwahl stammt von Karl Klingspor, dem Miteigner der Gebr. Klingspor, einer der bedeutendsten deutschen Schriftgießereien des 20. Jahrhunderts.

(größer: Klicken)

Wird fortgesetzt

Die Kulturgeschichte der Typografie in einer Nussschale 6) Die unendliche Setzerei

Folge 1 Antikes Geschrei
Folge 2 Lesen wie Bienensummen
Folge 3 Faustischer Buchdruck
Folge 4 Fraktur versus Antiqua
Folge 5 Aufstieg und Abschaffung der Fraktur

Eine Handsetzerei der bis in die 1970-er Jahre währenden Bleizeit war in Regalgassen gegliedert. In jeder Gasse konnten zwei Schriftsetzer mit dem Rücken zueinander arbeiten. Sie hatten darin Zugriff auf die Lettern verschiedener Schriftcharaktere in verschiedenen Größen und Stärken. Die Lettern wurden in schmalen Schubfächern, den Setzkästen, aufbewahrt, die wiederum untereinander in tischhohen Regalen untergebracht waren. Ein Paar, das in einer Gasse arbeitet, hieß in der Druckersprache „Arschgespann.“

Handsetzerei und Arschgespann aus: Bruckmanns Handbuch der Drucktechnik

Für die Unmenge an Schriften verschiedenen Charakters, unterschiedlicher Stärke und Größe, über die ein heutiger Computernutzer verfügt, hätte man in der Bleizeit einen Setzereisaal benötigt, so groß, dass in der zentralen Gasse schon ganz leicht die Erdkrümmung wahrzunehmen gewesen wäre. Diese Vorstellung beflügelt schon lange meine Phantasie. Wie du aber in der Regel allein am Computer sitzt, so stündest du in diesem Saal voller Setzkästen in unüberschaubarer Fülle von Schriften völlig allein, wärst nicht Teil eines Arschgespanns, könntest niemanden fragen. Wie lässt sich ein Überblick gewinnen? Der Setzereisaal ließe sich in Stadtviertel einteilen. Das Viertel der Frakturschriften lassen wir diesmal links liegen, obwohl sie heutzutage für konservatives oder rechtes Gedankengut stehen. Warum die Fraktur aus dem Gebrauch kam, ist in Folge 5 behandelt. Bevor wir uns den Antiquaschriften zuwenden noch ein Wort zum Verbot der Fraktur durch die Nationalsozialisten. Ein derartiger Kulturbruch lässt sich nur in Diktaturen durchsetzen. In einer Demokratie würde sich eine heiße Diskussion erheben vergleichbar der um die Orthographiereform. Nur wenige würden sich die Fraktur verbieten lassen. Mag sein, dass die Fraktur allmählich aus der Mode gekommen wäre, aber viele würden sie heute noch nutzen, könnten sie flüssig lesen und ihre handschriftliche Form, die Kurrent, schreiben. Wie konnte es geschehen, dass das Frakturverbot klaglos akzeptiert wurde, auch von Fachleuten? Das Verbot kam zwar für die Öffentlichkeit überraschend, in Fachkreisen war es aber argumentativ vorbereitet worden. Im einflussreichen Gutenberg-Jahrbuch waren 1939 und 1940 schon Aufsätze erschienen, in denen einerseits bestritten wurde, dass die Fraktur eine deutsche Schrift wäre, andererseits hervorgehoben wurde, dass die Antiqua in Rom zuerst von den deutschen Druckern Sweynheim und Pannartz gedruckt worden war. Da die dubiose Nazi-Organisation „Ahnenerbe“ gleichzeitig von der Runenforschung den irrigen Beweis erzwungen hatte, dass das griechische und das lateinische Alphabet von den nordischen Runen abstammte, konnte man die Antiqua zur „Normalschrift“ erheben.

Schon 1937 hatte der Buchwissenschaftler Ernst Roselius behauptet, die Fraktur sei schädlich für die Augen: „Nichts zeigt besser die Notwendigkeit der Augenhygiene in der Schrift als die Tatsache, daß die Kurzsichtigkeit unter den schwedischen Schulkindern bedeutend abnahm, als man vor wenigen Jahren die verschnörkelte Fraktur durch die klare Antiqua ersetzte.“

Schauen wir uns die Antiqua an. Sie liegt in den ältesten Gassen unserer Setzerei, quasi in der Altstadt. Wir befinden uns in der Renaissance. Die Renaissance-Antiqua zeichnet sich durch ihre Serifen aus, mit denen sie an die römische Monumentalschrift CAPITALIS erinnert. In der Abbildung zeigt Albrecht Dürer, wie sich die Serifen mit einem Zirkel konstruieren lassen. Die Serifen der Capitalis sind aber nicht mit dem Zirkel entstanden, wie die Konstruktionszeichnung nahelegt. Zur Erinnerung: Die Capitalis monumentalis wurde in Stein gemeißelt. Die römischen Steinmetze haben die Buchstaben mit dem Flachpinsel vorgeschrieben. Die Serifen sind entstanden, wo der Pinselstrich an- oder abgesetzt worden war. In der Druckschrift sind sie also funktionslos. Dürers Rekonstruktion zeigt, dass die Serifen in der Antiquaschrift zu einem ästhetischen Element geworden sind. Die Untersuchungen von Stanley Morison bei der Entwicklung der Times New Roman haben allerdings gezeigt, dass die Serifen den Leseprozess begünstigen, also jetzt die neue Funktion haben, das Schriftbild zu vereinheitlichen.

Als am Anfang des 19. Jahrhunderts Schriften ohne Serifen geschaffen wurde, empfand man diese nackte Skelettform als grotesk. Entsprechend heißen serifenlose Schriften im deutschen Sprachraum „Grotesk“, fachsprachlich „serifenlose Linearantiqua.“
Die bekannteste Groteskschrift ist die 1927 von Paul Renner geschaffene Futura. Sie begegnet uns oft in der Werbung. Auch das seit 2015 von Google verwendete Logo in der neu geschaffenen Product Sans basiert auf der Futura. Durch das Windows-Textverarbeitungsprogramm Word wurde die Groteskschrift Arial weltweit bekannt. Sie ist eine ausdrücklich für die Bildschirmdarstellung geschaffene Adaption der bekannten Druck-Grotesk Helvetica. Die Schweizer Schriftschöpfer Adrian Frutiger hat die Varianten der bekanntesten Groteskschriften verglichen und auf dieser Basis seine klar lesbare Univers entworfen.
Groteskschriften wie auch die unter Computernutzern beliebte Verdana eignen sich für die Bildschirmdarstellung besser als Renaissance-Antiqua mit ihren feinen Serifen, obwohl sich das Problem bei modernen hochauflösenden Bildschirmen nicht mehr stellt.

Die Grotesk finden wir auch auf Verkehrsschildern. Die Schrift ist in Deutschland wie zu erwarten in einer DIN -Vorschrift genormt. DIN-1451-Schriften finden wir überall, wo nützliche Informationen möglichst nüchtern zu lesen sein sollten, neben den Verkehrs- und Hinweisschildern auf Hydranten, sogar auf Schraubenschlüsseln.

DIN 1451 – verschiedene Breiten

Die Aufschriften aus dem Bereich der Bahn zeigen, dass auch in der nüchternen Normschrift ungewollte Nebenbedeutungen mitschwingen können. Wir sehen, wie Raucher sich breitmachen können, Nichtraucher müssen zusammenrücken und Körperbehinderte sich ganz dünn machen. Über das Thema Nebenbedeutungen von Schriften demnächst mehr – im übernächsten und – puh! – letzten Beitrag der Reihe voraussichtlich am kommenden Sonntag.

Im 19. Jahrhundert ist eine weitere Schriftgruppe entstanden, die serifenbetonte Linearantiqua, kurz „Egyptienne.“ Obwohl sie als Reklameschrift gedacht war, finden wir sie vor allem bei der Schreibmaschinenschrift. Weil dort aus mechanischen Gründen alle Buchstaben gleich breit sein müssen, verhindern die betonten Serifen auch bei schmalen Buchstaben dass in Wörtern disfunktionale Löcher erscheinen. Zum Vergleich habe ich in einer Phase des Gifs die Serifen getilgt.

Schauen wir uns nochmal um in unserer kosmischen Setzerei. Wir haben hier die ausgemusterten Fraktur, dort die Renaissance-Antiqua mit ihren Varianten, daneben die serifenlose Grotesk und die serifenbetonte Egyptienne. Warum setzen sich die Regalgassen aber noch weiter fort? Was liegt da hinter der Erdkrümmung noch alles? Weil ursprüngliche alle Schriftcharaktere von der Handschrift und der Auseinandersetzung zwischen Gestaltungswillen und Material geprägt waren, finden wir unter den Druckschriften auch idealisierte Handschriften, sogenannte Schreibschriften. Daneben Zier- oder Auszeichnungsschriften. Sie eignen sich nicht für längere Texte.

Weil es so viele Auszeichnungsschriften gibt, können wir uns nicht alle ansehen. Unser kosmischer Setzereisaal wird noch immer erweitert. Die Werbewirtschaft verlangt ständig neue Schriften, um Aufmerksamkeit für beworbene Produkte zu sichern. Beständig wandeln Schriftentwerfer den Formenkanon der Alphabetschrift ab. Wozu? Druckschrift ist uniform. Doch gerade das reizt zu Neuschöpfungen. Das Individuelle der Handschrift soll sich auch im unverwechselbaren Charakter der technischen Schrift finden.

Mehr in der Neuerscheinung „Buchkultur im Abendrot“

Schande! Zensiert von der kosmischen Registratur

Absolut rätselhaft ist mir, dass ein Text, an dem ich gestern viele Stunden geschrieben habe, heute nicht mehr auffindbar ist. Die Irritation begann schon damit, dass das Programm Open Office Writer heute morgen eine neue Registrierung von mir verlangte. Doch dass der Text einfach weg ist … Gestern, als ich müde wurde, sagte eine innere Stimme, ich könne, was ich habe, doch schon einmal ins Teestübchen hochladen. Ich habe nicht auf diese Stimme gehört. Zur Strafe muss ich jetzt ganz von vorne anfangen. Dabei war der Text nicht etwa subversiv. Er stellte auch keine kosmischen Gesetze in Frage, so dass man verstehen könnte, wenn Beamte in der kosmischen Registratur beschlossen hätten, ihn aus dem Bewusstsein der Menschheit zu tilgen. Dazu war, was ich aufgeschrieben hatte, einfach zu gering. Natürlich könnte man denken, dass es zwar für die Beamten der kosmischen Registratur zu gering war. Aber es gibt ja noch die Unterbeamten und die Unterunterbeamten. Die Geringsten in der Hierarchie beschäftigen sich naturgemäß mit geringen Dingen und schon die kleinste, ja, feinste Unbotmäßigkeit in einem Text dürfte ihnen missfallen, und sie würden ihn deshalb aus dem Verkehr ziehen.

Die untersten der Unterbeamten in der kosmischen Registratur sind freilich nicht sehr mächtig. Sie können zwar einen Text verschwinden lassen, der so gut wie aus Nichts besteht, nämlich nur aus Zuständen von gesetzten Bits in einem digitalen Speichermodul. In meinem Kopf existiert der Text aber noch. Zumindest geistert da die Vorstellung, ich hätte gestern einen Text verfasst, wofür ich selbstverständlich keinen Beweis mehr habe, nur ein paar herumliegende Karteikarten, deren Notizen ich genutzt und Bücher, in denen ich nach Abbildungen gesucht habe. Und wie ein gestürzter Radfahrer unbedingt sofort nach dem Sturz wieder aufs Rad steigen sollte, damit sich keine Scheu vor den Gefahren des Radfahrens in ihm verfestigt, werde ich erneut aufschreiben, was Unterbeamte versucht haben, nicht existent werden zu lassen. Es dauert freilich noch. Man soll mir aber nicht nachsagen, ich würde eine neue Folge der Kulturgeschichte für den Folgetag versprechen, dann aber nicht veröffentlichen.

Die Kulturgeschichte der Typografie in einer Nussschale 5) Aufstieg und Abschaffung der Fraktur

Folge 1 Antikes Geschrei
Folge 2 Lesen wie Bienensummen
Folge 3 Faustischer Buchdruck
Folge 4 Fraktur versus Antiqua
Obwohl die Fraktur auch in Deutschland kaum noch verwendet wird, will ich ein paar Worte über diese Schrift verlieren, weil sie untrennbar mit unserer Geistesgeschichte verbunden ist. Fraktur ist ein Oberbegriff für alle gebrochenen Schriften, also auch für Textura und ihren Abkömmling Schwabacher. [bei gebrochen Schriften sind einige Rundungen eckig wie gebrochen] Fraktur heißt aber auch eine Barockschrift, die in Abwandlung der gotischen Textura entstanden ist. Ihre Entstehung ist eng mit Kaiser Maximilian I. verknüpft. Im Jahr 1508 ernannte er den Augsburger Bürger Johann Schönsperger zum kaiserlichen Hofbuchdrucker und beauftragte ihn mit dem Druck eines prunkvollen Gebetbuchs. Dafür sollte Schönsperger besondere Drucktypen schneiden. Die kalligraphischen Vorlagen stammten aus der höfischen Kanzlei. Das Gebetbuch wurde 1513 fertig und mit ihm das erste Druck-Erzeugnis, das die Fraktur benutzt. Die Schrift trägt die Charaktermerkmale der höfischen Herkunft und verdrängte rasch die Textura und die behäbig und plump wirkende Schwabacher, die seit 1472 in Gebrauch gewesen war.

Luthersche Fraktur (um 1522) aus: Hermann Virl, München 1948

Die Fraktur ist stilistisch eine Vorwegnahme des Barocks. Ihr schwunghafter Formenüberschuss ist Ausdruck einer neu erwachenden Lebensfreude, die sich im Hang zum Schnörkel äußert und ihre sprachliche Entsprechung in skurrilen Höflichkeitsarabesken hat. Beispielsweise schrieb Friedrich Schiller 1794 an den ranghöheren Johann Wolfgang von Goethe:

„Hochwohlgeborner Herr, Hochzuverehrender Herr Geheimer Rath!“ und schloss mit den Worten „Euer Hochwohlgeboren, gehorsamster Diener und aufrichtigster Verehrer, Jena 13. Juni 1794, F. Schiller“,

Um den sozial Höherstehenden zu ehren, wurden sein Name, sein Titel oder sonstige Bezeichnungen mit den besonders verzierten Großbuchstaben der Fraktur bedacht, als grafische Entsprechung der mündlichen Floskeln. So erklärt sich der im Barock zunehmende Gebrauch der Großschreibung. Die Großbuchstaben der Fraktur sind verzierte und hochgefürstete Kleinbuchstaben, dabei so verschnörkelt, dass man schwer die Grundform erkennen kann. Viele Großbuchstaben sind einander zum Verwechseln ähnlich und oft nur im Kontext eindeutig erkennbar. Der Fälscher der Hitler-Tagebücher, Konrad Kujau, sollte in den frühen 1980-er Jahren deshalb das A mit einem F verwechseln (davon später).

Jacob Grimm, der Ahnvater der deutschen Sprachwissenschaft, sah in der Fraktur die Ursache für die von ihm abgelehnte Großschreibung der Substantive. Denn indem die Großschreibung im Barock immer mehr ausuferte von der Kennzeichnung und Ehrung wichtiger Personen hin zur Großschreibung aller wichtigen Wörter, den sogenannten „Hauptwörtern“ eines Textes, wurde eine Regelung erforderlich. Dabei kam es irrtümlich zur Gleichsetzung von Hauptwörtern und Substantiva. Und jetzt haben wir den Salat, sind die einzige Kulturnation, die ihre Substantive glaubt groß schreiben zu müssen und quälen uns noch im Zeitalter des Internets mit einem barocken Irrtum. „Wertlose Einfälle von Schreiberknechten“, urteilt der dänische Sprachforscher Otto Jespersen und lieferte damit ein wesentliches Argument für die Abschaffung der Großschreibung in Dänemark im Jahr 1948. Seither sind wir Deutsche die letzten, die noch die verlauste barocke Perücke der Großschreibung tragen. Sie ist uns so zur Gewohnheit geworden ist, dass wir sie nie mehr abnehmen wollen. Bei der Orthographiereform von 1994 hat man sich gar nicht erst daran gewagt. Es hätte Hauen und Stechen gegeben.

Fraktur-Großbuchstaben an einer Hausfront in Hannover – Foto: JvdL

Es ist ein Nachteil der Demokratisierung der technischen Schrift, dass typografische Laien, von keinerlei Kenntnis angefächelt, den öffentlichen Raum beliebig verunstalten können. Eine Weile bin ich mit dem Fahrrad öfters an dieser Fassade im hannöverschen Stadtteil List vorbeigekommen, die von einer typografischen Katastrophe gezeichnet ist. Der Anblick hat mich jedes Mal geschüttelt. Man kann nur hoffen, dass der Inhaber dieses Ladens von „Schönen Sachen aus alter Zeit“ mehr versteht als von alten Schriften. Die Schriftzeile auf der Fassade hat sich der Händler von einem Stümper anbringen lassen und wusste selbst nicht besser, dass ein Text niemals mit Frakturversalien gestaltet werden darf, weil die Großbuchstaben der Fraktur schlicht unleserlich sind. Vermutlich hat sich deshalb bei “ANTIQUITÄETEN” zusätzlich ein überflüssiges E eingeschlichen.

Die schlechte Lesbarkeit der Fraktur-Versalien hat auch zu einer Panne bei den gefälschten Hitler-Tagebüchern geführt. Für die Einbände der Tagebücher hatte der Fälscher Konrad Kujau einzelne Großbuchstaben der Frakturschrift Engravers Old English in Hongkong gekauft. Dabei hatte er sich vergriffen, das große F für ein großes A gehalten. Deshalb trugen die Tagebücher die Initialen FH. Viele der so genannten Experten, die mit der Echtheitsprüfung der Tagebücher befasst waren, haben das übersehen. Später als es aufgefallen war, suchte man krampfhaft nach Erklärungen und interpretierte FH als “Führer Hitler”.

Eigentlich hätten die Einbände keine Fraktur haben dürfen, was die „Experten“ hätten wissen müssen. Denn die Nationalsozialisten hatten die Fraktur 1941 verboten und damit zum Leidwesen aller Deutschtümler eine zackige Kehrtwendung vollzogen. Bis dato hatte die Fraktur als typisch Deutsch gegolten, die dem eckigen Nationalcharakter der Deutschen entspreche. Der in einem Aufwasch ebenfalls verbotene Bund für deutsche Schrift beteuert das noch heute. Die Begründungen für das Verbot der Fraktur sind freilich sachlich falsch. Die Fraktur-Variante Schwabacher hat sich aus der Gotischen entwickelt, nicht umgekehrt wie im Rundschreiben behauptet wird.

Verbot der Fraktur (größer: Bitte klicken)

Die Behauptung, ein Jude habe die Schwabacher erfunden, führt der Schriftgießer Karl Klingspor auf die irrige Annahme zurück, der Erfinder trage den Namen des Ortes, aus dem er stammt, was nur bei Juden der Fall wäre. Laut Klingspor gab es zur fraglichen Zeit keine Druckerei in Schwabach. Die Schrift habe sich in Nürnberg entwickelt zu einer Zeit, in der den Juden der Aufenthalt in der Stadt verboten war. Überdies verboten die Zunftgesetze den Juden, das Handwerk des Druckers zu lernen.

Den wahren Grund nennt der Marburger Historiker Kurt Dülfer:

„[…] die plötzliche und vorbereitungslose Negierung [der Fraktur]) und ihre Ersetzung durch die als ‚Normalschrift’ bezeichnete Antiqua gehört in den Rahmen der im Nationalsozialismus vertretenen Idee des ‚Neuen Europa’.“ Vor allem erschwerte die Fraktur die schriftliche Kommunikation mit den Verwaltungen in eroberten Gebieten und eignete sich nicht für Propagandaschriften im Ausland. Die Mutmaßung, man habe Metall für militärische Vorhaben gebraucht, ist nicht belegbar. Es hätte vorausgesetzt, dass die meisten Druckereien bereits ausreichend mit Antiqualettern versehen waren, so dass man die Fraktur ausmustern konnte. Wahrscheinlicher ist, dass durch die Umstellung auch Bedarf für Schriftneuguss vorhanden war.


Exkurs Gebrauch der Fraktur im Laufe der Jahrhunderte
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Die Kulturgeschichte der Typografie in einer Nussschale 4) Fraktur versus Antiqua

Folge 1 Antikes Geschrei
Folge 2 Lesen wie Bienensummen
Folge 3 Faustischer Buchdruck
Die Handschrift, an der Gutenberg sich orientierte, hieß Textura. Wir kennen das Wort Textur für Gewebe. Wie ein unveränderliches Gewebe sollten die biblischen Worte sich zeigen. Die Bibel war der eigentliche Text. Dass wir heute unterschiedslos vom Text sprechen, ob Zeitungsartikel oder Beipackzettel, ist eine Verweltlichung, die mit dem Buchdruck ihren Anfang nahm. Die Textura hat die Stilmerkmale der Gotik, Engführung der senkrechten Striche und Brechung der Rundungen. Aus der Gotischen Schrift entwickelte sich die Fraktur (Fraktura, die Gebrochene). Nördlich der Alpen sollte sie für einige Jahrhunderte der vorherrschende Schriftstil sein. In den 30 Jahren nach dem Druck der 42-zeiligen Bibel verbreitete sich die Technik des Buchdrucks über ganz Europa. Druckwerke, die vor dem 31. Dezember des Jahres 1500 entstanden sind, heißen Inkunabeln (Wiegendrucke)

Verwandtschaft zwischen gotischer Architektur und dem Schriftcharakter Gotisch – aus: Karl Klingspor, 1941

Im Italien der Renaissance hatte sich beim Aufblühen der Wissenschaft unter den Schreibern eine eigene Schrift herausgebildet, Antiqua (die Alte) genannt. Irrtümlich hatte man die karolingische Minuskel für die Kleinbuchstabenschrift der Römer gehalten und sie mit den römischen Großbuchstaben, der Capitalis Monumentalis, verbunden, wie sie als Inschrift in Stein überliefert war.

Eigentlich verbindet die Antiqua also die statischen, überwiegend achsensymmetrischen Großeltern mit den Enkeln, die sich aus dem flüssigen Schreiben der Großbuchstaben entwickelt haben und sich durch übermütige Ober- und Unterlängen und fehlende Achsensymmetrie auszeichnen. Die erste Druckschrift-Antiqua wird trotz ihrer italienischen Herkunft  einem deutschen Drucker zugeschrieben. Der Straßburger Adolf Rusch soll 1474 damit gedruckt haben. Diese Zuweisung ist aber mit Vorsicht zu genießen. Sie wurde in der NS-Zeit ab 1941 behauptet, nachdem die Nationalsozialisten die Fraktur verboten hatten. Warum sollte sich ein deutscher Drucker an einer Handschrift orientiert haben, die fast ausschließlich in Italien geschrieben wurde? Die erste stilistisch ausgeprägte Antiquaschrift stammt vom in Venedig lebenden Franzosen Nicolas Jenson. Ebenfalls ein Franzose, der Schriftschneider und Typograf Claude Garamond schuf etwa um 1545 eine nach ihm benannte Antiquaschrift, die bis in die heutige Zeit stilbildend sein sollte. Sie ist noch heute die Grundschrift der Wochenzeitung Die Zeit.

Adobe Garamond pro – „The quick brown fox…“ enthält alle Buchstaben des Alphabets. Englische Fernmelder testeten damit die Funktion des Fernschreibers

Am 1. 5. 1992 wagte die Wochenzeitung Die Zeit, von der 46 Jahre lang für ihre Fließtexte benutzten Garamond auf die Times New Roman zu wechseln. Damit wandte man sich vom hellen, französischen Schriftcharakter, der lange Zeit das stilistische Ideal der kontinentalen Geisteswelt verkörperte, hin zu den bodenständigen, handfesteren Idealen der neueren angelsächsischen Typographie. Das haben viele Zeit-Leser nicht nachvollziehen können, wie die unzähligen Protestbriefe auf den Leserbriefseiten zeigten. Nach etwas zwei Jahren kehrte Die Zeit reuevoll zu einem Neuschnitt der Garamond zurück. Die Schrift transportiert eben mehr als den Textinhalt, nur schwingen die Gefühlswerte der Form beim Lesen meistens unbewusst mit. Es wird ein bewusstes Empfinden daraus, wenn die vertraute Gestalt plötzlich durch eine fremde ersetzt wird.

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Die Kulturgeschichte der Typografie in einer Nussschale 3) Faustischer Buchdruck – Die Schwarze Kunst

Das Besondere an der Erfindung des Buchdrucks ist die bewegliche Druckletter aus Blei, Zinn und Antimon. Als Johannes Gensfleisch, genannt Gutenberg, um das Jahr 1435 damit experimentierte, sicherte er sich als Gehilfen den Kalligraphen Peter Schöffer, denn die Gestaltung der Drucklettern sollte den schönsten Handschriften seiner Zeit entsprechen. Gutenberg hatte den Ehrgeiz, seine Drucke wie handgeschrieben aussehen zu lassen. Dazu übernahm er auch den typografischen Formenkanon mittelalterlicher Handschriften, den Satzspiegel (das Verhältnis von Textblock zum Papierformat), den Blocksatz, den Schriftcharakter und die für die Bibel gängige Schriftgröße. Das erklärt die herausragende Qualität seines Meisterstücks, der 42-zeiligen Bibel. Doch das Zeitalter des Buchdrucks beginnt mit einem Wirtschaftsverbrechen, das erst Mitte des 19.Jahrhunderts aufgedeckt wurde. Bis dahin galt nicht Johannes Gutenberg, sondern Johannes F(a)ust als Erfinder des Buchdrucks. Dazu frühe Zeugnisse:

„Fausts so schön gedruckten und einander so gleich kommenden Bibeln, die er in Paris zwar immer noch theurer, aber viel wohlfeiler verkaufte, als die dasigen geschriebenen verkauft werden konnten, wurden für Werke gehalten, die nicht auf gewöhnliche, erlaubte Weise hervorgebracht waren“,

… schreibt der Schriftschöpfer, Verleger und Gelehrte Johann Gottlob Immanuel Breitkopf in seinem Aufsatz „Über Buchdruckerey und Buchhandel in Leipzig“ (Leipzig 1793). Gemeint ist der Mainzer Anwalt, Geldverleiher und spätere Buchdrucker Johannes F(a)ust. Am Anfang dieses historischen Irrtums steht ein kapitalistisches Lehrstück. Gutenberg hatte sich von Johannes Fust mehrmals Geld geliehen, zuletzt 800 Taler für den Druck der 42-zeiligen Bibel. Als die Bibel beinahe fertig gedruckt war, verlangte Fust sein Darlehen zurück, weil Gutenberg es angeblich zweckentfremdet hatte. Gutenberg konnte nicht zahlen, und so ließ Fust seine Werkstatt pfänden, um sich in den Besitz der Druckerei zu bringen. Vorher hatte er sich die Unterstützung von Peter Schöffer gesichert. Es kam zu einem Prozess, den Gutenberg verlor. Er erschien nicht einmal selbst vor Gericht. Denn als er erfuhr, dass sein Geselle Peter Schöffer mit Fust gemeinsame Sache machte, wusste Gutenberg, dass er verloren hatte. Die Geschichte wird in dieser Werbeanzeige hübsch illustriert dargestellt, die Motive des Verräters Peter Schöffer habe ich in der Dramatisierung „Die Lib zu Christinen“ erzählt [zu lesen am Schluss dieses Eintrags]:

„Fust wins suit. Gutenberg loses shirt“ (Geschäftsanzeige in: Upper and lower case, 1/1983)
Die Federzeichnung zeigt Gutenbergs Druckerei, darin den verzweifelten Gutenberg mit der 42-zeiligen Bibel in der Hand, hinter ihm einen Büttel, der die Hand auf seine Schulter legt, daneben den skrupellosen Fust, der die Schuldverschreibung präsentiert. Einer der vier Gesellen im Hintergrund muss Gutenbergs erster Gehilfe Peter Schöffer sein.


Gutenbergs weiteres Leben liegt im Dunkeln. Fust und Schöffer betrieben erfolgreich die erste Buchdruckerei der Neuzeit. Doch Fust wurde nachgesagt, dass er mit dem Teufel im Bunde war, denn gegen Ende des 16. Jahrhunderts kam es zu einer Vermischung der Legenden über den Buchdrucker Johannes Faust und den Taschenspieler Georg Sabellicus aus Knittlingen, der sich Faust der Jüngere nannte. In einer Reihe von Dramatisierungen um die Wende des 18./19. Jahrhunderts wird Faust als der Erfinder des Buchdrucks und gleichzeitiger Schwarzkünstler dargestellt, so in J. N. Komarecks Schauspiel: „Gemählde aus der Mitte des fünfzehnten Jahrhunderts“ von 1794. Das Faust’sche Haus ist hier „eine Wohnung des Satans, der Mittelpunkt der Hölle.“ Jean Paul verweist darauf, dass die durch die Druckerei arbeitslos gewordenen und hungernden Schreibermönche mit Recht sagen würden, „den Erfinder derselben, den Doktor Faustus, hätte leider der Teufel unstreitig geholet.“ Und Grillparzer dichtet:

O lichte Schwarze Kunst,
Ob Gutenberg, ob Faust,
War man zu Recht im Zweifel,
Denn halb kommst du von Gott,
Und halb kommst du vom Teufel.

Der schlechte Ruf der Druckkunst erklärt vielleicht den seltsamen Gruß der Buchdrucker:
„Gott grüß die Kunst!“, grüßt der Drucker. „Gott grüße sie!“, ist die korrekte Antwort.Indem sie sich so gottesfürchtig zeigen, glauben sie den Ruch des Teufelswerks zu widerlegen.

Drucken hieß früher „Prenten“, im Niederländischen „prenten“. Die Entsprechung im Englischen ist „to print“, vergl. „Printmedien.“ Die Niederländer glauben, sie hätten einen eigenen Erfinder der Druckkunst: Laurens Janszoon Coster soll die ersten Lettern in einer Sandform gegossen haben. Sie können zum Beweis allerdings fast nichts vorweisen. Doch es gibt eine Geschichte, die besagt, Johannes Faust sei sein Geselle gewesen. Er habe dem Coster in der Heiligen Nacht die Druckkunst gestohlen, als alle anderen in der Christmette waren. So einer muss doch mit dem Teufel im Bunde sein. Denn in der Heiligen Nacht zu stehlen, traut sich das ein einfacher Mensch?

Der schwarzmagische Ruf der Druckkunst ist längst vergessen. Heute wissen wir, dass mit dem Buchdruck das Denken der Neuzeit begann. Der Buchdruck brachte die Trennung von Religion/ Magie und Wissenschaft, den Rationalismus der Aufklärung, formte und verbreitete die Hochsprache und prägte unsere kulturellen Vorstellungen bis zum Ende des 20. Jahrhundert.

Die Macht des gedruckten Wortes schwand mit dem Aufkommen des Computers. Indem das gedruckte Wort buchstäblich sein Gewicht verlor und vom Blei über Fotopapier in die digitale Welt entfleuchte, kommt etwas Neues auf, ein Denken, das zunehmend vom Internet geprägt wird. Welche Folgen das hat, wie sich das digitale Denken auf unsere Kultur auswirken wird, ist noch nicht abzusehen. Wir erleben diese Zeit des Umbruchs gerade und wirken daran mit. Noch fehlt dem Internet die Akzeptanz, wie sie auch dem Buchdruck in seinen Anfängen fehlte. Wer beispielsweise seine Texte nicht drucken lässt, sondern sie im Internet in einem Blog veröffentlicht, erfährt noch lange nicht die Anerkennung, die ein gedruckter Autor hat. Ähnliches gilt für den Journalismus. Hier verteidigen die Journalisten ihre gedruckte Zeitung gegen die Internetauftritte wie einst die Kalligraphen und Schreiber gegen den Buchdruck kämpften.

Seit Mitte 70er Jahre des 20. Jahrhunderts ist der Bleisatz und mithin der klassische Buchdruck museal. Setzkästen werden heute bei Ebay von Fingerhutsammlern für ihre Exponate ersteigert. Manche bewahren in Setzkästen ihre Überraschungseier-Figurensammlung auf. Am Ende wird alles Hehre banal. Weiterlesen