Jüngling der Schwarzen Kunst – Tod im Alphabet

Am Morgen nach dem Telefonfrevel betrat ein Herr den Verlag, der wie die vollkommene antike Ausgabe von Dyckers schien. Schnaufend begab er sich persönlich in die Setzerei und löste seinen Sohn aus. Der werde in einer Familiensache gebraucht. Hannes freute sich auf einen angenehmen Arbeitstag. Kaumanns kam in die Gasse und wies ihn an, Trauerbriefe auszuschlachten. Das war eine feine Arbeit. Hannes holte sich fünf ausgedruckte Trauerbriefe auf den Tisch und wickelte die Kolumnenschnüre ab. Zuerst sicherte er die aus Linien gebauten Kreuze, denn die konnten bei neuen Trauerbriefen wiederverwendet werden. Gestorben wird schließlich immer. Auch die Fließtexte wurden verwahrt. Sie waren formelhaft und variierten nur im Familienstatus:

    „Nach langer schwerer Krankheit verstarb heute mein lieber Mann, unser guter Vater, Schwiegervater, Großvater und Onkel…“

Es war Hannes, als würde in Deutschland nur so gestorben, als müsste man zuerst durch die lange schwere Krankheit hindurch wie durch eine qualvolle Ödnis am Ende des irdischen Jammertals.
Wenn er die Texte sicher in die Holzwinkelhaken gestellt hatte, zog er die Stege heraus, das größere Blindmaterial, und sortiert sie in die Regalfächer. Nun kamen die Namen an die Reihe. Sie waren aus der 20 Punkt dreiviertelfetten Futura gesetzt, „Text.“ Hannes holte die 20 Punkt Futura aus dem Regal und wuchtet sie auf die schräge Abstelle. Alle Schriften von 16 Punkt aufwärts befanden sich in diesen schmalen Steckkästen, wo die Lettern alphabetisch geordnet aufgereiht waren. Er sammelte aus den Trauerbriefen die Namen der Verstorbenen und stellte sie hintereinander auf die Randleiste des Setzkastens.

[Links: Steckschriftkasten, Quelle: Wikipedia]

    KatharinaKochenHerbertKnaufFerdinandOeoenHubertineSchiffer

Zuerst zog Hannes ihnen die Vokale heraus, gemäß der Abfolge der Vokalreihe, beginnend mit a, und ordnete sie am Schluss ein.

    KthrinKochenHerbertKnufFerdinndOepenHubertineSchifferaaaaa
    KthrinKochnHrbrtKnufFrdinndOpnHubrtinSchiffraaaaaeeeeeeeee
    KthrnKochnHrbrtKnufFrdnndOpnHubrtnSchffraaaaaeeeeeeeeeiiii
    KthrnKchnHrbrtKnfFrdnndOpnHbrtnSchffraaaaaeeeeeeeeeiiiiouu

Die Vokale wurden in den Kasten eingesteckt. Nun zerlegte und sortierte er das Konsonantenskelett:

    KthrnKchmHrbrtKnfFrdnndKllnHbrtnSchff
    KthrKchHrbrtKfFrddKllHbrtSchffrnnnnnnn
    KthKchHbtKfKllnHbtSchffrrrrrrnnnnnnn
    KhKchHbKfFddOpHbSchffrrrrrrnnnnnnnttt
    KKcHKfFddOpHScffrrrrrrnnnnnnntttbbhhh
    KKcHKFddOpHScfffrrrrrrnnnnnnntttbbhhh
    KKHKFOpHSccfffrrrrrrnnnnnnntttbbhhhdd
    KKKFOpHHSccfffrrrrrrnnnnnnntttbbhhhdd

Weg mit den Konsonanten!
Zuletzt kamen die Initialen dran:

    KKKFOHHS

Auf diese Weise begrub Hannes die Toten im Alphabet. Zufrieden betrachtete er die wohl aufgefüllten Reihen. Nun konnte man neue Namen setzen und dabei so richtig aus dem Vollen greifen. Es konnte wieder frischauf gestorben werden.

Plötzlich wurde er aus dem Alphabetspiel gerissen. Ein Mann mit einer dicken, schwarzledernen Umhängetasche betrat das Glashaus und sagte: „’n Tach!“
Hannes zuckte hoch und stotterte einen Gruß.
„Aha, da ist er ja!“ sagte der Taschenmann und schaute Hannes durchdringend an, trat auf ihn zu und ließ den Riemen von der Schulter gleiten.
„Dann wolln wir mal!“
O Schande, ein Mann von der Post! Hannes fielen alle Sünden ein, auch die Nichtbegangenen. Und er stand als Telefonsaboteur da, zumindest als Mitwisser. Es verschlug ihm den Atem.

Aber der Postmann kümmerte sich nicht weiter um ihn. Er schielte erbärmlich und hatte wohl hauptsächlich auf den Telegrafenkasten geschaut. Er beugte sich seufzend hinab, öffnete seine mit Werkzeug wohl bestückte Tasche und holte Schraubenzieher und ein Telefon zum Anklemmen hervor. Es war aus schwarzem Bakelit und bestand aus einem Hörer, in dessen unteres Ende eine Wählscheibe eingelassen war. Der Techniker öffnete den Telegrafenkasten und starrte in das Kabelgewirr. Hannes fragte sich besorgt, ob sein kreuzweis stehender Blick überhaupt in den Kasten hineinpasste, ob er also mit beiden Augen zugleich hineinsehen könnte oder nur mit einem, dem Führungsauge sozusagen, derweil das andere frei und unbenutzt umherschweifen würde, eventuell um ihn argwöhnisch zu mustern. Er wagte nicht, genau hinzuschauen, sondern schielte selbst nur aus den Augenwinkeln hinüber. Er sah den Techniker das Telefon anklemmen und eine Nummer wählen. Grußlos sprach er hinein, stocherte mit seinen Elektroschraubenzieher im Kabelgewirr herum, tauschte hier zwei Anschlüsse, fragte nach, tauschte erneut, sprach und lauschte, legte gelb an rot, blau an grün und tastete sich auf diese Weise mühsam an die ehemalige Ordnung heran. Was Dyckers in wenigen Sekunden angerichtet hatte, kostete ihn eine gute halbe Stunde. Während dieser Zeit hantiert Hannes konfus an seinem Arbeitsplatz herum, angstvoll der Fragen harrend, die nach Behebung des Schadens gewiss auf ihn zukommen werden.

Er wollte jede Mitwisserschaft ableugnen. Er nahm sich vor, dem Mann genau zwischen die Augen zu schauen, um eine Irritation beim Blickkontakt zu vermeiden. Aber hatte er sich nicht längst im höchsten Grade verdächtig gemacht? Als unbelasteter Zeuge hätte er doch Interesse zeigen müssen. So einer hätte gefragt: „Was machen Sie da?“ und neugierig in das offene Gehäuse gelugt, um sich zu wundern, wie es darin aussieht.

Der Telefonmann schraubte das Gehäuse zu. Er war mit sich zufrieden. Ich komme neuerdings viel herum, dachte er, indem er das Werkzeug verstaute. Früher war ich doch fast nur im Nordbezirk unterwegs. Und heute schon wieder ein Auftrag im Südbezirk! Ich hätte aber an die Plombenzange denken sollen! Wieso war das Ding eigentlich nicht verplombt?

Er schulterte die schwere Tasche und wollte dem Lehrling ein paar ernste Worte sagen. Doch da wurde in der Wurstküche der Motor der Kreissäge angeworfen, der Treibriemen nahm leise wimmernd seine Arbeit auf, und dann wurden Knochen gesägt, unzählige Knochen.

Plausch mit Frau Nettesheim – Magical Mystery Tour

Trithemius
Interessanter Effekt, Frau Nettesheim.

Frau Nettesheim
Was?

Trithemius
Gestern hörte ich mir das Beatles-Album Magical Mystery Tour an, um mich in Erinnerungsstimmung zu bringen, denn es ist im Jahr meiner Gesellenprüfung erschienen. Ich erinnerte mich an einen Samstagmittag, als ich nach der Arbeit vor einem Kaufhaus vorbeikam, wo eine Cover-Band den Titelsong Magical Mystery Tour spielte, und zwar kurz nach der Veröffentlichung. Ich blieb eine Weile stehen und wunderte mich, wie gut die das Stück coverten. Namentlich der Schlagzeuger spielte nahezu perfekt, und dazu müssen Sie wissen, dass Ringo Starr ein weitgehend unterschätzter Schlagzeuger ist, in Fachkreisen aber nicht. Seine Rhythmen wurden über die Jahre immer anspruchsvoller.

Frau Nettesheim
Ajah? Sie wollten über einen interessanten Nebeneffekt reden.

Trithemius
„Nebeneffekt?“ Sie sind eine hoffnungslose Ignorantin, Frau Nettesheim.

Frau Nettesheim
Hallo? Sie können nicht erwarten, dass ich mich für Schlagzeugkünste interessiere, weil es das einzige „Instrument“ ist, das Sie je gespielt haben.

Trithemius
Na gut, es geht ja um das Album Magical Mystery Tour. Auf dem ist auch der Titel „Hello Godbye.“ Als ich das wieder hörte, fiel mir das Mädchen Annedore ein, mit dem ich damals kurze Zeit ging. Sie hatte einen speziellen süßlichen Geruch, der mich immer ein wenig abschreckte. Die Musik löste eine Ahnung des Geruchs aus, und das nach so langer Zeit, Frau Nettesheim.

Frau Nettesheim
Schreiben Sie also weiter am Jüngling der Schwarzen Kunst?

Trithemius
Ja, ich ziehe das jetzt durch, auch wenn die Kundinnen und Kunden über das einseitige Angebot weinen. Wenn ich nicht dranbleibe, wird das Manuskript nie fertig. Die Alternative wäre, dass ich mich in die Einsiedelei zurückziehe und gar nichts veröffentliche.

Frau Nettesheim
Derzeit ist der Zuspruch für Sie erfreulich positiv. Hoffentlich knicken Sie nicht ein, wenn der mal ausbleibt. Bedenken Sie, dass, wer nicht regelmäßig am Ball bleiben kann, vom zunehmenden Textumfang abgeschreckt wird.

Trithemius
Ich versuche, immer abgeschlossene Episoden zu posten, so dass man jederzeit in den Text einsteigen kann.

Frau Nettesheim
Heute nicht.

Trithemius
Ja, die Episode „Berieselung“ wäre zu lang. Da folgt noch der Einschub, wie Hannes die Toten im Alphabet begräbt. Ich wollte nicht, dass er mit untergeht, also nicht Hannes, der Einschub.

Frau Nettesheim
Es geht doch nichts über eine klare Sprache.

Jüngling der Schwarzen Kunst – Berieselung

Die unangenehmste Eigenheit der 13. Setzereigasse erfuhr Hannes erst im Sommer. Bei seinem Eintritt war April gewesen. Der ganze Monat war kalt, und in der Setzerei gluckste das warme Wasser anheimelnd durch die dicken Rohre der Zentralheizung. Hannes hatte eines unter seinem Arbeitsplatz, in genau der angenehmen Höhe einer Bierthekenfußraste, und oft stützte er einen seiner müden Füße darauf.
Doch im Juni war plötzlich die erste Hitzewelle da. Ab 10 Uhr etwa fiel das Sonnenlicht in den Hof. Binnen kurzem wurde es so heiß im Glashaus, dass ihnen Schweißbäche den Körper hinunter rannen. Dyckers entkleidete sich kurzerhand bis auf die Unterhose und zog darüber nur den grauen Arbeitskittel, den er offen hängen ließ. So stellte er nicht nur seinen runden, stark behaarten Bauch zur Schau, sondern zeigte auch sein hässlich verunstaltetes Bein. Einmal war er nämlich nachts berauscht nach Hause gekommen, durch den Garten über die Terrasse ins Haus gelangt, und da er seinen strengen Vater nicht wecken wollte, hatte er kein Licht gemacht. Die gläserne Schiebetür zwischen Ess- und Wohnzimmer war geschlossen gewesen, er aber hatte sie offen gewähnt und war glatt hindurch gegangen. Dabei schabte er sich das Fleisch vom rechten Schienbein. Da mussten sie ihm in der Chirurgie etwas von seinen Hinterbacken nehmen, um die Sache einigermaßen zu ummanteln. Das jedenfalls behaupteten böse Zungen.
„Ja“, sagte Metteur Siegfried Hof, das Lästermaul, als diese Geschichte einmal in der Pause erörtert wurde, „damit wäre Dyckers der erste, den ich kenne, der sein Arschleder am Schienbein spazieren trägt.“

Es gab für diese extremen Hitzetage eine Berieselungsanlage. Aus einem perforierten Rohr, das oberhalb des Glasdaches längs der Hauswand angebracht war, ließ man zwecks Kühlung ein wenig Wasser rinnen. Einmal geschah es, dass man oben im Hauptgebäude den Hahn erst am hellen Mittag aufdrehte, aus Geiz oder Vergesslichkeit, jedenfalls hatte sich das Dach schon derart aufgeheizt, dass das Glasdach unter den ersten zaghaften Rinnsalen verdächtig zu knacken anfing.
Indem das Arschgespann noch misstrauisch nach oben äugte, ertönte ein scharfer Knall, und knisternd lief ein Riss durch die Decke, spaltete sich auf und teilt das Dach in drei unregelmäßige Felder. Im Nu gab es leckende Stellen, aus denen es warm heruntertropfte.
Dann kamen Regentage. Für den Guss aus der himmlischen Berieselungsanlage hatten sie nicht Eimer noch Plastikschüsseln genug, und Hannes kam mit dem Ausleeren und dem Wischen kaum nach. Das waren die größeren Probleme mit der 13. Gasse. Von den kleineren sei eines erwähnt.

An der Hauswand, direkt neben seinem Arbeitsplatz gewahrte Hannes ein dunkelgrünes gusseisernes Gehäuse. Ein Kabelstrang kam unten hervor und verschwand hinter dem Ausschlusskasten. Auf einer Klappe, die von zwei seitlichen Schrauben gehalten wurde, stand erhaben der Schriftzug „Post“. Mit diesem Gehäuse, das etwa die Form und Größe seines Henkelmanndeckels hatte, versetzte ihn Dyckers bald in helle Panik. Denn Dyckers plante einen Anschlag auf die heilige Institution Deutsche Bundespost.
Er vergewissert sich, dass die Luft rein war, kramte einen Schraubenzieher hervor und löste flugs die beiden Schrauben.
„Normalerweise sind die Dinger verplombt!“, erklärte er, als hätte man ihm durch die fehlende Verplombung freie Hand erteilt.
Der Deckel klappte nach unten und gab den Blick frei auf ein Gewirr verschiedenfarbiger Kabel, die an allerlei Anschlüsse geschraubt waren.
„Das sind die Telefonleitungen von allen Häusern hier in der Gegend“, erklärte Dyckers dem beunruhigten Lehrling.
„Jetzt wollen wir den Doofmännern von der Post mal was zum Knobeln geben.“
Er löste geschickt einige Kabelanschlüsse, verdrillte sie und schloss sie willkürlich wieder an. Das und dieses einvernehmende „Wir“ brachte Hannes aus der Fassung. Aber er schaute machtlos zu und wagte kein Wort, denn Dyckers vertrug keine Gegenrede.

Jüngling der Schwarzen Kunst – Bleiwurst

„Zeig dem Jüngling lieber mal, wie man von hier aus die Metzger ärgern kann! Los, mach schon!“
Kaumanns suchte offenbar Abwechslung, denn er stöhnte schon seit Tagen über den Preislisten einer Großhandelskette, die als Stehsatz vom letzten Quartal noch da waren, und in denen jetzt alle Preise ausgetauscht werden mussten.
Dyckers ließ sich nicht lange bitten.
„Komm mal her, Nettesheim!“, befahl er.
Hannes legte den Winkelhaken vorsichtig auf den Setzkastenrand und ging folgsam hinüber.
Dyckers öffnete das Fensterchen über dem Futura-Regal. Hannes dachte, er werde vielleicht hinunterspucken wollen, und fragte sich schon, wie er das Kunststück wohl fertig bringen würde, bei dem engen Fensterspalt. Doch Dyckers griff in das gut gefüllte e-Fach der aufgestellten 8 Punkt Futura mager und nahm eine Handvoll der matt glänzenden Bleilettern heraus.
„Gleich kannst du ein paar Metzger schreien hören“, sagte er und sah Hannes mit seinem Oliver-Hardy-Gesicht triumphierend an. Er streckte die geschlossene Hand zum Fensterspalt hinaus und ließ die Bleistäbchen nach unten in den Hof rieseln. „Scheißmetzger!!“ schrie er hinterher.
Echogleich hallten Beschimpfungen aus dem Hof zurück: „Ihr dreckigen Drucker, ihr miesen Wichser, Schweineköppe!!…Nu guck sich einer diese Sauerei an! Was fällt euch ein, ihr verdammten Arschlöcher?!“
Dyckers warf prustend das Fensterchen zu.
„Ich habe bestimmt in die Wurstbütte getroffen! Das gibt Eins a Bleiwurst!“
Kaum hatte er das gesagt, da prasselte es wüst gegen die Verglasung. Die Metzger hatten den Wasserschlauch aufgedreht und ließen den Strahl über die Scheiben gehen, auf der Suche nach einem offenen Fenster. Dyckers und Kaumanns wähnten sich sicher und lagen lachend über den Setzkästen. Hannes aber stand ratlos da, als plötzlich das Fensterchen der anstürmenden Wasserkraft nachgab und gegen das Regal schlug. Das Wasser spritzte herein und traf den verdutzten Hannes, bevor er noch zur Seite springen konnte. Gedeckt durch das Reglettenregal, gelang es Kaumanns, das Fenster zu schließen, während Dyckers in die Knie ging, in einem ohnmächtigen Lachkrampf, und dabei wie mit letzter Kraft auf den tropfnassen Hannes zeigte.
„Oaah, Nettesheim, du bist eine Marke!“ stöhnte er.
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Jüngling der Schwarzen Kunst – Es gibt eine Ordnung

Sie messen mit Linealen aus Messing, die sie Typometer nennen. Ihr Maß ist ein 12er-System. Die kleinste Einheit ist der Punkt, 12 Punkt sind ein Cicero, 4 Cicero bilden eine Konkordanz. Die Regletten und Stege und somit die gängigen Satzbreiten sind in Konkordanzen abgestuft. Es gibt sie in 8, 12, 16, 20 und manchmal 24 Cicero Länge. Was darüber geht, wird zusammengesetzt.
Anfangs steht Hannes oft im Weg. Er soll lernen, da muss er doch zugucken. „Rutsch mal ein Cicero zur Seite!“ sagen die Setzer gutmütig. Aber wieviel in Gottes Namen ist das?

Typometer, oben das typografische 12-er System, unten die Einteilung des Dezimalsystems

„Ein Cicero hat 12 Punkt, 2660 Punkt gehen auf einen Meter! Also, rechne!“
Herrje, wer soll davon eine Vorstellung gewinnen?
Einmal um die Erde gerannt und man hätte 1.415.554.147 Cicero zurückgelegt.
Das Dezimalsystem ist in der Setzerei nur gering angesehen. Die Schriftsetzer schulen ihr Augenmaß an der feineren Einteilung des Punktsystems. Und rechnen lässt sich mit einem 12er-System allemal besser. Die 12 ist teilbar durch 1,2,3,4,6 und 12, die 10 dagegen nur durch 1,2, 5 und 10. Weil es in der Typographie auf die richtige Aufteilung des zur Verfügung stehenden Raumes ankommt, kann das Dezimalsystem hier nicht konkurrieren. Allein bei den Papierformaten muss es beachtet werden. Beim Druck treffen die beiden Maßsysteme noch zusammen. Die Schriftgrößen beginnen bei 5 Punkt (selten bei 4). Aber das ist Augenpulver und allenfalls für die Allgemeinen Geschäftsbedingungen einer Versicherung gut. Die gängigen Größen gehen so:

Wie lautet die Geschichte der Namen? Im deutschsprachigen Eupen der 50er Jahre war eine seltsame Mahnung der Mütter an ihre Kinder geläufig: „Die Sprache musst du lernen, Deutsch lernst du sowieso!“ „Die Sprache“, das ist französisch, die Hoch- und Verkehrssprache der angrenzenden Wallonie. Wie die Eupener Mütter das Französische als die Sprache schlechthin ansahen, so kannten unsere Alten nur einen einzig wahren Text: Die Bibel. Lange Zeit war die Schriftgröße der Bibel 20 Punkt gewesen, hergeleitet aus dem Schreibkanon der mittelalterlichen Skriptorien. Was lag näher, als diese Schriftgröße „Text“ zu nennen?
Nicht alles ist so unmittelbar einleuchtend. Die 10-Punkt-Größe trage ihren Namen „Korpus“, weil mit ihr zuerst das „Corpus juris“ gedruckt worden sei. Cicero: Die Drucktypen der Briefe des Marcus Tullius Cicero (erschienen 1466) hätten 12-Punkt-Größe gehabt. Aber es hat auch ein Schriftschöpfer Hans Cicero im 16. Jahrhundert gelebt. Die meisten Etymologien verlieren sich jedoch im Grau der frühen Bleizeit.

Unten im Hof war die Wurstküche der Metzgerei Dreckkötter. Freitags zog von dort der Geruch gebratener Frikadellen in die Setzerei, wo er sich hartnäckig festsetzte. Ärger jedoch war das tägliche Kreischen der Knochensäge. Dieser infernalische Lärm hatte Hannes in Kindertagen schon eine Gänsehaut eingejagt, und da hatte der Bauer in der Nachbarschaft nichts als Holz gesägt. Das hier aber war eindeutig schlimmer, denn es ging ja in zweifacher Hinsicht durch Mark und Bein. Zudem war der Metzgermeister ein Sangesbruder, der sich vom Hall seiner gekachelten Wurstküche immer wieder herausfordern ließ. Was aber kann schlimmer sein als die Vorstellung von einem, der, mit den Armen bis zu den Ellenbogen im Blut, gemütlich Arien trällert? Oft lief auch böse brummend ein Separator, und während mit diesem Gerät die unsäglichsten Kadaverteile für die Wurst zu Paste zermahlen wurden, erschallten wie diabolische Kommentare die selbstzufriedenen Gesänge des Metzgermeisters. Manchmal ließen sich auch die Gesellen verleiten und stimmten mit ein, bis der Meister sie wütend anschrie, mal solle ihm gefälligst nicht sein Liedchen klauen, also „Aufhören!“ und „Schnauze halten!“ Sogleich war es aus mit dem Singen, wüste Worte flogen hin und her, aus den vormaligen Sängerkehlen rauh hervorgestoßen, und man bewarf sich mit diversen Gerätschaften und Knochen. Das waren die Ausrufezeichen. Was nicht traf, landete krachend in den Ecken, ging es ins Ziel, lamentierte der Getroffene, und der Werfer frohlockte.

Diese penetrante olfaktorische und akustische Präsenz hatte nun gar keine optische Entsprechung. So sehr man sich auch bemühen mochte, durch die Fensterspalten hinter den Regalen konnte man nicht bis unten sehen. Trotzdem wusste Dyckers einiges über den Metzgerhof zu erzählen:
„Einmal stand der Geselle an der Knochensäge, da hat der Dreckkötter ihn voll in den Arsch getreten, dass der Geselle nach vorne gefallen ist und sich zwei Finger abgesägt hat. Zack, zack! Und dann konnten sie in der Knochenkiste zwischen all den Knochen die abgetrennten Finger nicht finden. Als der Geselle schon mit dem Krankenwagen abtransportiert war, hat Dreckkötter sie endlich aus der Knochenkiste aussortiert und ist hinterhergefahren, damit sie ihm die Griffel wieder annähen konnten.“
„Und dann?“ fragt Hannes bestürzt.
„Die Finger sind wieder angewachsen, der kann jetzt besser in der Nase bohren als früher!“
„He, Dyckers, du erzählst dem Jüngling Sachen!“ Kaufmann kommt kichernd aus seiner Gasse herüber.
„Ist wirklich passiert. Das war tagelang Stadtgespräch.“
„Jaja, und wer hat das gesehen? Der Mann mit den Glasaugen? Zeig dem Jüngling lieber mal, wie man von hier aus die Metzger ärgern kann! Los, mach schon!“

Jüngling der Schwarzen Kunst – Die 13. Gasse

    Nach acht Jahren Volksschule, im Alter von 13 Jahren wurde Hannes Overlack aus Nettesheim ein Jünger der Schwarzen Kunst, indem er in die Schriftsetzerlehre eintrat. „Aventur und Kunst“ hatte schon Johannes Gutenberg seine Erfindung genannt, Aventur bedeutete Wagnis und Abenteuer, denn die Erfindung dieser neuen Technologie war für den gelernten Goldschmied Gutenberg ein wirtschaftliches Wagnis gewesen, an dem er letztlich scheiterte. [Mehr dazu], Kunst bedeutete handwerkliches Können. Als Druckfarbe ist ursprünglich nur Schwarz, ein Gemisch aus Leinöl und Ruß, zum Einsatz gekommen. Das Synonym Schwarze Kunst liegt nah, zumal bis ins 19. Jahrhundert nicht Johannes Gutenberg, sondern Johannes F(a)ust als Erfinder galt, weshalb der Buchdruck lange Zeit als Technik geschimpft wurde, die sich unerlaubter, teuflischer Mittel bediente. Die Gesellen in Overlacks Lehrbetrieb riefen ihn „Jüngling.“ Das ist die Bedeutung von „Jüngling der Schwarzen Kunst“.

Des Jünglings Kindheit endete so abrupt wie eine Kindheit beginnt. Nach seinem ersten Arbeitstag und nach 12 Stunden endlich wieder zu Hause stand er in der Dachstube auf dem Stuhl und schaute aus dem Fenster der Dachgaube. Hinter ihm bereitete seine Mutter das Abendbrot. Es roch nach Bratkartoffeln. Ohne sich umzusehen fragte Hannes: „Muss ich das jetzt mein ganzes Leben machen?“ Sie antwortete nicht, wusste genau, dass er nicht zum Fenster hinauszuschauen meinte. Vielleicht wollte sie das Schreckliche der Aussicht auf sein Leben nicht sehen, vielleicht dachte sie, dass er eines Tages groß genug sein würde, um nicht mehr auf dem Stuhl stehen zu müssen, wenn er aus dem Fenster schauen wollte. Vielleicht hatte sie einen Funken Hoffnung, dass er nicht sein Leben lang am Setzkasten stehen würde, dass er einen Weg finden würde, darüber hinauszuwachsen. Das aber wagte sie nicht zu sagen, er war noch zu klein für diese Idee.

Der Junior teilte Hannes der 13. und letzten Regalgasse zu. Hier empfing ihn ungnädig Michael Dyckers, ein junger dicklicher Geselle, der gerade die Prüfung bestanden hatte, also quasi der Vorgänger von Hannes war. Hannes fand, dass Dyckers dem Schauspieler Oliver Hardy ähnelte, dem Dick aus Dick und Doof. Die beiden würden mit dem Rücken zueinander stehen. So ein Paar heißt „Arschgespann“. Doch eigentlich mochte Dyckers mit einem Lehrling kein Gespann bilden. Er selbst war gerade erst diesem Status entwachsen, da tut Abgrenzung Not. Außerdem war die Gasse vorher sein alleiniges Reich gewesen; hier hatte er ab seinem 3.Lehrjahr frei schalten und walten können. Deshalb betrachtete er den Jüngling als Eindringling, über den ihm zur Entschädigung die Verfügungsgewalt gegeben war. Es war Dyckers Idee, Hannes nach seinem Geburtsort „Nettesheim“ zu rufen.
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Jüngling der Schwarzen Kunst – Fräulein Lamboy und der Laut des Besens

Historisch betrachtet sind Groß- und Kleinbuchstaben Urgroßeltern und Urenkel. Unsere Großbuchstaben stammen von der Römischen Capitalis ab. Nach dem Zusammenbruch der römischen Kultur wandelte sich die Capitalis unter dem Einfluss neuer Schreibmaterialien, Schreibtechniken und Schreibziele zur Kleinbuchstabenschrift. Etwa um 800 war dieser Prozess mit der Karolingischen Minuskel abgeschlossen. In den folgenden Jahrhunderten verfällt die Schrift. Erst die Humanisten der Renaissance besinnen sich wieder auf die klar lesbare Karolingische Minuskel. Sie halten sie fälschlich für eine Schrift der Römer und verbinden sie mit der Römischen Capitalis, die ihnen von den antiken Denkmälern, Säulen und Portalen noch klar entgegentritt. Diese Kombination aus römischen Majuskeln und karolingischen Minuskeln nennen sie Antiqua. Nachträglich kam nur der i-Punkt hinzu und das kleine t hat sich vorwitzig die Andeutung einer Oberlänge angeeignet. Es ist die Form unserer Schrift bis heute.

Der deutsche Setzkasten hat beide Generationen in einem Haus, oben die Alten, gravitätisch in Reih und Glied, unten das junge Volk, das seinen Platz nicht kennt. Natürlich liegen die Kleinbuchstaben je nach Sprache anderes. Die Anordnung spiegelt das gewachsene handwerkliche Sprachwissen. Die häufigst gebrauchten Buchstaben liegen dem Schriftsetzer am nächsten, wenn er mittig vor dem Kasten steht.

Links und rechts der engen Krämergasse standen hohe Patrizierhäuser. Von den Bomben des Krieges war die Krämergasse wegen ihrer Nachbarschaft zum Münster weitgehend verschont geblieben. Nur das Eckhaus am Münsterplatz war von einem Blindgänger niedergelegt worden. Neben dem schmucklosen Neubau, in dem sich ein Antiquariat befand, erhob sich das stattliche Verlagshaus der Eupens, einer alteingesessenen Familie, die seit Generationen den Zeitungsverlag mit der angeschlossenen Druckerei betrieb.

Die Gasse herauf kamen eine Frau in Schwarz und ein Junge. Sie sah abgearbeitet aus, doch sie hatte sich fein gemacht. Der Junge an ihrer Seite war klein und schmächtig, gerade einmal 13 Jahre alt. Er trug eine braune Ledertasche unterm Arm. Vor dem Verlagshaus blieben sie stehen. Die Frau drückte einen Flügel der Pforte auf und stieg mit ihrem Sohn die knarrende Treppe hinauf zum Büro.

Hinter einem Schreibtisch saß eine junge Sekretärin, hübsch anzuschauen, wenn nicht ihr linker Arm ein wenig zu kurz geraten wäre. Die Uhr an der Wand zeigte zwanzig vor acht Uhr.
„Guten Morgen, ich bin Frau Overlack. Wir sind angemeldet“, sagte die Frau. „Mein Sohn soll heute seine Lehrstelle antreten.“
„Ach ja“, sagte die Sekretärin, „dann musst du Hannes sein. Herzlich willkommen!“
Der Junge wurde rot und murmelte einen leisen Gruß.
Sie griff nach dem Hörer der Haussprechanlage und sprach hinein.

Ein Mann um die 40 mit Bürstenhaarschnitt und angetan mit einem grauen Kittel kam durch die rückwärtige Tür herein und begrüßte wortkarg Mutter und Sohn. Er war der Juniorchef und Leiter der Setzerei. Die Mutter wurde rasch verabschiedet. Sie legte ihrem Sohn noch kurz die Hand auf den Kopf, dann ging sie.
„Gut“, sagte der Junior, „dann komm mal mit!“
Sie gingen einen Gang entlang, der in die Tiefe des Hauses führte, dann eine Treppe hinauf.
„Hier ist unsere Setzerei“, sagte der Junior. „Du bist zu früh, noch ist niemand da. Wir fangen um acht Uhr an.“ Er öffnete eine doppelflügelige Schwingtür. Dahinter tat sich ein heller Saal auf mit hoher Decke und ebenso hohen Fenstern an einer Seite. Für den Jungen öffnete sich ein phantastisches Reich. Er stand ehrfürchtig und entzückt vor den Regalgassen mit ihren unzähligen Schriftkästen, gefüllt mit Bleilettern, allesamt sauber in die Schubfächer sortiert. Gewiss war jede der 12 Regalgassen tonnenschwer, und ihm war als ragten die Regale tief in die Erde hinein wie dieser Beruf. Jeder Kasten hatte an seiner Stirnseite ein kleines Messingrähmchen. Darin steckten angeschmutzte Kartonschildchen mit dem Namen der Schrift und der Schriftgröße. Hannes ging in die Knie und las ein Schildchen. „10 pt Garamond“ stand da. Was kümmerts, dass die Schrift gut 300 Jahre alt ist, was er sowieso nicht wusste. Denn auf dem Tisch standen Pakete mit neuen Lettern, frisch aus der Gießerei. Der Junior wickelte ein Paket aus. Wie er das Packpapier zur Seite geschlagen hatte, sahen sie die neuen Lettern vor sich, eng in Reihen geordnet, aber ohne rechten Halt, wie jederzeit bereit auseinanderzufallen.

Der Jüngling war begeistert von der technischen Schrift, begeistert von der Möglichkeit, aus einer hingeschmierten Bleistiftnotiz auf einem Fetzen Manuskript ein sauberes Druckwerk zu machen. Für seine eigene Handschrift hatte er sich immer geschämt. Es war ihm nie gelungen, die Schleifen und Girlanden der Lateinischen Ausgangsschrift exakt nachzuahmen, wie seine verehrte Lehrerin Fräulein Lamboy sie auf der Wandtafel vorgezirkelt hatte. Weil er darin glaubte zu versagen, hatte er schon früh seine Handschrift zur Druckschrift umgeformt, was aber seinem Wunsch nach Perfektion auch nicht entsprach. Vielleicht hatte alles an Fräulein Lamboy gelegen. Sie hatte in ihm die Verehrung der Schrift und der Bücher geweckt. Oder anders: Die Verehrung, die eigentlich Fräulein Lamboy galt, war auf die Schrift und die Bücher übergegangen.

Sein erstes Buch war ein Bilderbuch, das ihm sein älterer Bruder aus der Bücherei ausgeliehen hatte. Es handelte von einer Osterhasenfamilie, die in Ostereierhäusern wohnte. Da gab es viel zu gucken, zu deuten und zu vermuten, doch wie die Dinge in der Osterhasenwelt nun wirklich zusammenhingen, konnte er den Bildern nicht entnehmen. Da beneidete er seinen Bruder, denn er verfügte über das Geheimwissen, das aus den Buchstaben kam.

Dieses Geheimwissen hatte ihn Fräulein Lamboy gelehrt. Sie machte ihn Erstklässler mit den Buchstaben bekannt, indem sie Geschichten aus ihrem Alltag erzählte. Sie war mit dem Zug im Kölner Hauptbahnhof gewesen. Da war ein Mann mit einem Besen und kehrte den Bahnsteig. Sein Besen machte: „ffff – fffff – fffffff.“ Und wie er sich noch den Bahnsteigkehrer vorstellte, zeigte Fräulein Lamboy etwas Zauberhaftes. Den Ton des Besenstriches aus ihrem Mund konnte sie mit Hilfe eines Zeichens an die Tafel bannen und jederzeit in die Welt der gesprochenen Sprache zurückholen.

So lernte er das „f“ und alle anderen Buchstaben des Alphabets über anschaulich vermittelte Laute. Mit jedem gelernten Buchstaben drang Schrift in seine Welt. Bücher begannen zu sprechen, und zum freiwilligen Lesen gesellte sich das unwillkürliche Lesen; Verpackungen offenbarten ungefragt ihre Versprechungen und Plakate riefen ihm ihre eigennützigen Botschaften zu.

Fräulein Lamboy hatte schöne weiße Hände, anders als die groben Hände der Landfrauen. Einmal nahm er sich die Bürste und scheuerte seine Hände über dem Waschbecken, bis seine Mutter fragte, was in ihn gefahren wäre. Da sagte er: „Ich will so schöne weiße Hände wie Fräulein Lamboy haben.“

Doch Fräulein Lamboy hatte eine seltsame Krankheit, die sich just an ihren Händen zeigte. Im Laufe des Vormittags verkrampften sich ihre Finger und krümmten sich nach innen. Sie hielt dann die Kreide zwischen den verkrampften Fingern beider Hände. Wenn sie derart mit Kreide und Tafel zu kämpfen hatte, litt er mit Fräulein Lamboy und hoffte für sie, dass der Unterricht bald endete, damit sie endlich mit dem Fahrrad zum Arzt des Nachbardorfes fahren konnte, der ihr täglich ein entkrampfendes Mittel spritzte.

Fräulein Lamboy betreute die Leihbücherei des Dorfes. Als er in der vierten Klasse war, bestellte sie ihn zu sich nach Hause, weil er ihr helfen sollte. Auf ihrem Wohnzimmertisch stapelten sich neue Bücher, die sie mit Rückenschildchen versehen und in Klarsichtfolie eingebunden hatte. Sie legten sie in einen Wäschekorb und trugen sie in die Bücherei. Dort räumte er die neuen Bücher in die Regale, während Fräulein Lamboy die Karteikarten schrieb. Er war glücklich gewesen, in dieser Wunderwelt der Bücherei sein zu dürfen. Und das Zeichen für den Laut des Besens war einer von 26 Schlüsseln, die er Fräulein Lamboy verdankte.

Genauso glücklich war der Jüngling, als er vom Junior in das Reich der Bleilettern eingeführt wurde. Da dachte er nicht an harte Arbeit, obwohl er noch keinen der Setzkästen heben, ja nicht einmal an die Reihe der Großbuchstaben langen konnte, wenn ein Setzkasten schräg aufgestellt war.

Jüngling der Schwarzen Kunst – Buschmeister Bob

Onkel Jakobs kleine Druckerei war eine Klitsche. Das merkte der Jüngling aber erst, als er den Beruf des Schriftsetzers lernte. Als er im letzten Jahr der Volksschule war, holte ihn Onkel Jakob in seine Druckerei, quasi zur Berufsvorbereitung. Da trat er in ein wunderliches Reich ein. Er liebte den Geruch von Druckerschwärze, auch den eigenartigen Duft, der aus dem Papierlager kam. Beängstigend fand er den Original Heidelberger Tiegel, das Zischen, wenn die Leiste mit den Saugköpfen das Papier ansaugte, vor allem das stoische Drehen der beiden Greifarme, die dem einen tödlichen Scheitel ziehen konnten, der sich unvorsichtige Weise in ihre Bahn begab. Vom Tiegel hielt er sich fern.

Aber er sollte ja nicht Drucker werden, sondern das edle Handwerk des Schriftsetzers lernen. Die Regale mit den Setzkästen, die Arbeitsgeräte Setzschiff, Winkelhaken, Typometer, Ahle und Pinzette zogen ihn sofort in ihren Bann. Dass er plötzlich frei über die technische Schrift verfügen konnte, zu der in Zeiten vor dem Computer niemand außer den Fachleuten einen Zugang hatte, erfüllte ihn mit Stolz.
Nachdem sein Onkel Jakob ihm den Setzkasten und die Handhabung der Arbeitsgeräte erklärt hatte, setzte Hannes als erstes eine Liste seiner Karl-May-Bücher. Klar, dafür hätte der Buchdruck nicht erfunden werden müssen, damit ein 12-Jähriger eine Liste seiner Karl-May-Bücher setzen kann, aber eine andere und bessere Anwendung fiel ihm so plötzlich nicht ein. Denn wie der Autor vor einem weißen Blatt Papier zu verstummen droht, so schüchterte die ausgefeilte Technologie der Schwarzen Kunst den Jüngling derart ein, dass ihm gar nichts einfallen wollte. Da lagen die matt glänzenden Lettern für ihn bereit, um alles zu werden, was man sich an Texten denken kann. Erst mal dachte er gar nichts, sondern war voller Hochachtung für einen produktiven Schriftsteller wie Karl May, dessen gut 70 Romane zu besitzen sein ganzer Stolz war. Außerdem war er noch klein, so klein, dass er bei den schräg aufgestellten Setzkästen nicht an die Großbuchstaben langen konnte, die in den oberen beiden Fachreihen lagen. Er bekam ein Trittbänkchen, auf dem er auf und ab stieg, gleich dem Wagen einer mechanischen Schreibmaschine beim Wechsel zwischen Klein- und Großbuchstaben.

Bei den Engländern und auch den Niederländern liegen die Großbuchstaben sogar in einem Extrakasten, der im steileren Winkel aufgestellt werden kann, weshalb die Groß- und Kleinbuchstaben im Niederländischen bovenkast und onderkast heißen, im Englischen upper and lower case.

Als nächstes fiel ihm ein scherzhafter Ausweis ein, den er mal gesehen hatte. So einen Ausweis für die Brieftasche setzte er, ebenso ein Schildchen „Wenn es brennt, bitte wenden!“ Auf der Rückseite stand: „Jetzt doch noch nicht, du Blödmann!“ Diesen Blödsinn setzte er und druckte er auf der Handpresse für die Korrekturabzüge. Die Schildchen verteilte er an Freunde. Der Ausweis von Buschmeister Bob hingegen war ein Unikat. Den bekam außer ihm keiner. Es sollte sein Privileg sein, in den Busch scheißen zu dürfen, obwohl er in den wenigen Jahren seiner Kindheit nie in derlei Verlegenheit gekommen war.

In der Druckerei stand ein großes Röhrenradion, das den ganzen Tag plärrte. Obendrauf lag ein Gummihammer. Gelegentlich fing das Radio entsetzlich an zu krachen. Dann nahm Onkel Jakob den Gummihammer und versetzte dem Radio einen ordentlichen Schlag aufs Gehäuse. Prompt hörte es auf zu krachen und dudelte weiter Musik. Das imponierte dem Hannes ungemein. Noch Jahre fand er, dass der gezielte Schlag mit dem Gummihammer die angemessene Weise ist, Technik zu beherrschen.

Jüngling der Schwarzen Kunst [01] – Prolog

Anna Cramer schaute aus dem Fenster zum Hof. Es hatte zu regnen begonnen. Schwere Tropfen pladderten auf die gestampfte Hoferde und warfen dicke Blasen. Sie freute sich für ihre jungen Kartoffelpflanzen im Garten ihrer Eltern, die den Regen dringend benötigten.

Früher hatte der Bauer das Regenwasser von der Regenrinne der Stallungen in eine gemauerte Zisterne geleitet, um die Kühe daraus zu tränken. Doch schon lange stand kein Vieh mehr in den Boxen. Der Hof gehörte jetzt einer alten Jungfrau, bei der Anna Cramer mit ihren drei Kindern zur Miete wohnte. Die Zisterne lag trocken. Unter dem Vordach der Stallungen stand ihr zweiter Junge vor der Zisterne und hantierte mit Hammer und Meißel. Das Brett aus dicken Bohlen, mit dem die Zisterne abgedeckt war, diente ihm als Arbeitsplatte. Er hatte einen alten roten Ziegelstein gefunden und meißelte offenbar einen Indianerkopf daraus.

„Ach, mein Hannes hat Ideen wie ein Windvogel“, seufzte Anna. In knapp einem Jahr würde er die Volksschule verlassen. Der Gedanke krampfte ihr das Herz zusammen. Er war doch noch so klein und schmächtig, ein verspieltes und verträumtes Kind von 12 Jahren.

Inzwischen hatte Hannes von seinem Ziegelindianer abgelassen und schnitzte aus einer kurzen Holzleiste ein Boot. Denn bald würde das Wasser von den Feldern herunterkommen und den Rinnstein vor dem Haus in einen Bach verwandeln. Hannes hatte seine Freude daran, das Boot vor der Haustür in die heftige Strömung zu setzen und dann bis zur Straßenmündung neben ihm herzulaufen, wo der Bach gurgelnd im einzigen Gully der Straße verschwand.

„Nein“, sagte Anna, „mein Hannes ist nichts für’s Büro!“

Das sagte sie am nächsten Tag auch ihrer Mutter, bei der sie täglich putzte und kochte, irgendwann mittags zwischen der Arbeit auf den Feldern des Bauern von gegenüber. Hannes war bei ihnen und schaute erstaunt auf. Wieso denn eigentlich?, dachte er. Wäre doch prima, wie Fritz an einem Schreibtisch zu sitzen und sich die Hände nicht schmutzig zu machen, anders als die Automechaniker oder Landmaschinenschlosser. Solche Berufe strebten seine Klassenkameraden an, soweit sie nicht Bauern wurden wie ihre Väter. Aber er wollte das nicht machen. Doch er sagte nichts. Wenn seine Mutter so für ihn entschieden hatte, würde sie wohl ihre Gründe haben. Anna Cramer hatte abends im Bett einen Entschluss gefasst. Ihr Bruder Josef betrieb im Nachbarort eine Druckerei. Sie würde ihn fragen, ob er ihrem Hannes eine Lehrstelle als Buchdrucker oder Schriftsetzer besorgen könne. Das war doch ein gutes Handwerk.

Mein Gewürzschrank und Joseph Beuys sein Mantel

Da ich nicht gut kochen kann, habe ich mehr Gewürze als ich benutze. Wenn ich in den Schrank schaue, in dem ich Gewürze und anderes Zeug aufbewahre, dann gehört er wie all die anderen Dinge in meiner Wohnung zu meiner Gegenwart. Doch eigentlich ist mein Gewürzschrank ein gut Teil Vergangenheit. Die Dinge weiter hinten, die irgendwann angeschafft, eingeräumt und dann vergessen wurden, von dem Mann, der ich einmal war, diese Gewürzdosen und –tüten werden jedes Mal, wenn ich hineinschaue, wieder gegenwärtig. Ich nehme den Pfeffer heraus, stelle ihn wieder zurück, schließe den Schrank, und schon ist alles gemeinsam wieder Vergangenheit.

So lagert sich Vergangenheitsschicht auf Vergangenheitsschicht. Pfeffer: Jüngere Vergangenheit; Wacholderbeeren: ältere Vergangenheit. Die Gegenwart besteht zu einem großen Teil aus vergegenwärtigten Vergangenheitsschichten unterschiedlicher Vergangenheitstiefe. So viele Dinge ragen aus der Vergangenheit hinauf in die Gegenwart. Daher findet man das Leben morgens genauso vor, wie man es am Abend verlassen hat. Im Kopf des Menschen ist es wie in meinem Gewürzschrank. Das eigene Ich besteht fast ausschließlich aus Vergangenheit. Oft kann man an einem Tag, in einer Woche, im Monat oder sogar in mehreren Jahren nichts hinzufügen, was die Macht der Vergangenheit in Kopf und Leben bricht.

Hat man zum Beispiel irgendwann eine Unterschrift geleistet, bindet sie einen vielleicht für ein halbes Leben. Welch ein mächtiges Instrument der Vergangenheit ist eine solche Unterschrift. In keinem Wort der Welt steckt soviel Kraft wie in der eigenen Unterschrift. Früher war es der Handschlag, der einen auf gleiche Weise band. Handschlag und Unterschrift, beides sind kleine Handlungen mit großen Folgen.

Es gibt also im Leben Handlungen mit schwerwiegenden Folgen und solche, die fast nichts bewirken, ganz unabhängig vom jeweiligen Aufwand. Das ziellose Herumlaufen in der Wohnung, das ich lange Zeit bei mir beobachtete, das ist eine Handlung ohne Folgen, zumindest sind mögliche Folgen nicht spezifizierbar.

aus: Joseph Beuys, Mysterien für alle, Kleinste Aufzeichnungen, Herausgegeben von Steffen Popp, Berlin 2015

„Zeit Konverter Mein Mantel Mantel“ hat Joseph Beuys notiert. Ich möchte gern glauben, dass er damit Ähnliches gemeint hat. So ein Mantel ragt durch die Zeit. Er wird angeschafft in einer Gegenwart. Eine Weile schützt er die Person gegen Kälte, Wind und Regen. Dann wird es wärmer. Der Mantel wird in den Schrank gehängt und bleibt lange Zeit unbeachtet, wird sogar vergessen. Die kalte Jahreszeit naht, man entdeckt ihn wieder „Ach, den habe ich ja auch noch!´“ So geht es Jahr um Jahr. Mit jedem abgelaufenen Zyklus hat sich der Mantel nur unwesentlich verändert, während sein Besitzer gealtert ist. Ein in der Vergangenheit angeschaffter Mantel konserviert den Zeitpunkt seiner Anschaffung. Mit seiner Nutzung wird er gegenwärtig. Da der Mensch von Dingen umgeben ist, die irgendwann einmal angeschafft worden sind, lebt er in diversen Vergangenheitsstufen. Wer ein fabrikneues Auto fährt, lebt in der technologischen Gegenwart. Gebrauchte Autos konservieren die Vergangenheit und zwingen die Nutzer in jene Zeit.

Derweil ich diese Worte schreibe, entstehen sie in meiner Gegenwart. Die zeitliche Distanz zur Veröffentlichung und bis zu dem Zeitpunkt, in dem er gelesen wird, bannt jeden in eine Gegenwart, die nun Vergangenheit ist. Es ist ja alles Illusion, vor allem die Gegenwart.