Ein Hund lief in die Küche

Das Schmuckstück im Schlafzimmer meiner Eltern war eine Frisierkommode mit einem dreiflügeligen Spiegelaufsatz, mittig ein großes und an jeder Seite ein schmales Spiegelelement, das sich einklappen ließ. Ich sah meine Mutter selten vor diesem Spiegel. Sie war keine eitle Frau. Nach dem Tod ihres Mannes, meines Vaters, bestand für sie kaum noch Notwenigkeit, sich zurecht zu machen. Um so öfter sah ich in den Spiegel, und zwar in einen der Seitenflügel. Es war möglich, sie so zu stellen, dass sie sich gegenseitig spiegelten. Das gab den faszinierenden Spiegeleffekt, der immer kleiner werdenden Spiegel bis in eine unwägbare Unendlichkeit. Streckte ich meine Nase in diese phantastische Spiegelwelt, wurde auch ich in der immer kleiner werdenden Verdopplung und Verdopplung ein Teil von ihr. Dass es in der scheinbar so fest gefügte Realität einen derartigen Ort gab wie die sich selbst wiederholende Spiegelwelt, machte mich froh. Viel später lernte ich, dass es ein Wort dafür gibt: Iteration. Das Volkslied „Ein Hund lief in die Küche…“ ist quasi die sprachliche Entsprechung zur Spiegelwelt. Schade, dass der Köter immer wieder sein Leben lassen muss:

Ein Hund lief in die Küche
Und stahl dem Koch ein Ei.
Da nahm der Koch den Löffel
Und schlug den Hund entzwei..

Da kamen alle Hunde
Und gruben ihm ein Grab
Und setzten ihm ein’ Grabstein
Worauf geschrieben stand:

Ein Hund lief in die Küche
Und stahl dem Koch ein Ei.
[…]

Bei jeder Wiederholung, werden Hund. Küche, Koch, das Ei, der Löffel und der Grabstein kleiner, theoretisch unendlich oft. Trotzdem bleibt der Vorgang verständlich. Das unterscheidet das Lied vom sich immer wieder spiegelnden Spiegel.

Einiges über die SATOR-AREPO-Glücksformel

Kollegin Andrea Heming macht auf ihrem Weblog „Frau Heming ist unterwegs“ auf den Hollywood-Film TENET aufmerksam, der kürzlich angelaufen ist. Da das Wortpalindrom TENET vermutlich der SATOR-AREPO-Formel entnommen ist, einem magischen Quadrat, wundere ich mich, dass ich noch nie über diese bekannte Glücksformel geschrieben habe. Meine drei Blogs weisen jedenfalls keinen Beitrag dazu aus. Aber einen unveröffentlichten Text aus dem Jahr 2015 fand ich auf meiner Festplatte:

Samstag, den 31.10. 23:25 – 00:50 zeigte der NDR eine Folge der Serie Irene Huss, Kripo Göteborg: Tod im Pfarrhaus. Das Drehbuch hat der schwedische Schriftsteller Stefan Ahnhem verfasst. In dieser Folge beschwört eine der Hexerei verfallene evangelische Kantorin dunkle Mächte. Man sieht sie bedeutungsvoll umher schreiten und hört sie die „Sator-Arepo-Formel“ brabbeln. Das ist freilich kompletter Unsinn. Zwar gilt die Formel als magischer Spruch, aber nur in der geschriebenen Form. SATOR AREPO TENET OPERA ROTAS ist nämlich ein magisches Quadrat. Es kann in alle Richtungen gelesen werden, von links nach rechts und unten beginnend von rechts nach links, von oben nach unten und umgekehrt. Gesprochen ist es gar nicht als solches erkennbar. Welches Armutszeugnis! Da wundern wir uns, dass es keine Magie gibt, auch wenn sie in populären Büchern und Filmen wie Harry Potter oder in besagter TV-Serie heraufbeschworen wird. Aber natürlich kann Hexerei nicht funktionieren, wenn so erbärmlich herum gestümpert wird.

Soweit das: Wörtlich übersetzt bedeutet die lateinische Formel [übersetzt nach E. v. Welz, in der Societas Latina, München 1937]: „Der Bauer (Sämann) Arepo lenkt mit seiner Hand den Pflug.“ Als Bustrophedon gelesen, also wie der Bauer mit dem Ochsen pflügt, erhält man SATOR OPERA TENET, TENET OPERA SATOR „Der Sämann erhält seine Werke“ oder „der Bauer hält den Bau der Welt zusammen“ oder „der Ackerbau ist die Grundlage der Kultur.“ Einige Hinweise lassen darauf schließen, dass das magische Quadrat christlichen Ursprungs ist. Das mittlere Wort TENET bildet senkrecht und waagerecht ein Kreuz. Ein Pfarrer namens Grosser aus Chemnitz hat herausgefunden, dass sich aus den Buchstaben des Quadrats, um das mittlere N gruppiert, ein kreuzförmiges „PATERNOSTER“ bilden lässt. Bleiben A und O an den Enden (Alpha-Omega). Da alle magischen Formeln durch Rückwärtslesen unwirksam gemacht können, ist SATOR-AREPO … wie kein anderes Palindrom gegen Rückwärtssprechen abgesichert und gilt deshalb als eine machtvolle Segens- und Glücksformel.

Die Frau, die sich nicht kratzte

Die drei Urlauber hatten sich am Hafen der kleinen Insel vor ein Café gesetzt. Will hatte Hunger und orderte ein Baguette. Dann aß er noch eines, denn Will aß alles, was groß und dick macht. Allerdings gestand er dann, dass er ihr Sitzen vor dem Café noch hatte herauszögern wollen. Denn eigentlich wollte er nur eine bestimmte Kellnerin sehen, die sich so wunderbar kratzen könne. „In ihrem Kratzen liegt mehr Weisheit als in allen Philosophien“, sagte Will gewohnt überschwänglich. Nach seinem zweitem Baguette tauchte auch die Kellnerin auf. Sie war wohl schon außer Dienst und stand eine Weile einfach so an einem Mast der Markise gelehnt, angetan mit einem langen schwarzen Rock und einem dunkelgrünen T-Shirt, dessen kurze Ärmel kurz unterhalb ihrer Schultern endeten, was ihre wirklich ausnehmend schönen Arme betonte. Die Kellnerin machte allerlei selbstvergessene Gesten, sprach auch gelegentlich ein paar Worte mit dem Kollegen, wenn er vorbeikam, aber wollte sich zu ihrer Enttäuschung einfach nicht kratzen. Sie sollten das gerühmte Kratzen nicht zu sehen bekommen, denn das war ihr letzter Tag auf der Île de Groix. „Ich habe mir kürzlich ihr Namensschild angesehen“, sagte Will. „Sie heißt ‚B. Varga‘. Wofür das B. wohl stehen mag, Beatrice?“
„Bernadette?“, sagte Petersen, dessen Interesse geweckt war, weshalb er aufgehört hatte in seiner Fototasche nach Objektiven zu kramen. „Es gibt bei den Franzosen nicht so viele weibliche Vornamen mit B.“

Später liehen sie nebenan Fahrräder aus und fuhren durch die sengende Hitze quer über die Insel zu einem felsigen Strand. Pataphysiker Gaukler wollte dort unbedingt einige Steine sammeln. Sie gehörten, wie er sagte, zum Urkontinent Pangäa, denn die Gesteine seien bei der Kollision der Urkontinente Gondwana und Laurussia aus großer Tiefe hervor geschleudert worden. Während sie auf den von der Sonne erhitzten Steinen saßen und Gaukler ein besonders glitzerndes Stück Glimmerschiefer für den Transport zurecht klopfte, kam oberhalb der Felsen ein junger Mann vorbei und rief: „Vous n’êtes pas autorisé à prendre des pierres ici. Il s’agit d’une réserve naturelle!“
„We snappen het niet“, rief Will.
„Anglais?“, fragte der Mann und fügte hinzu: „You’re not allowed to take rocks here. This is a nature reserve.“
„All right. He’s just looking for a piece of Pangea.“
Der Mann trollte sich. Es schien ihnen, als wäre er der Abkömmling einer tief in die Vergangenheit reichenden Steinwächter-Dynastie. „Seine  Vorfahren sind bestimmt schon auf Pangea herumgelaufen und haben den Glimmerschiefer bewacht“, sagte Gaukler und packte den Brocken in seinen Rucksack. Will wollte jetzt zum Sandstrand in der Nähe, denn er hatte sich vorgenommen, an ihrem letzten Tag wenigstens noch einmal im Atlantik zu schwimmen. Sie stiegen auf die Räder und folgten dem hölzernen Hinweisschild zum Strand. Plötzlich wurden sie von einer Radfahrerin überholt, Mademoiselle Varga. Sie rauschte überlegen lächelnd an ihnen vorbei. Auf dem Gepäckträger hatte sie einen leeren Kindersitz und an den Füßen trug sie Pomps.
„Die hohen Schuhe wären nicht nötig gewesen“, murrte Will. Er war mal Radsportler gewesen und vertrug es nicht, distanziert zu werden. An einer Wegkreuzung bog sie in einen Nebenweg ein, besann sich dann aber und kehrte um. Die drei überholten, und Will mahnte zur Eile, um die Schmach nicht noch einmal zu erleben. Nach einer Weile schien es, als hätten sie Mademoiselle Varga abgehängt. Petersen maulte, man solle wieder langsamer fahren. Die Hitze mache seinem angegriffenen Kreislauf zu schaffen. „Schließlich bin ich ein Cyborg, seit man mir einen Stent ins Herz gepflanzt hat.“ Außerdem habe er die schwere Fototasche. „Und ich trage ein Stück Pangea!“, stimmte Gaukler ein. Also verfielen sie auf der welligen Strecke wieder in den alten Trott, zumal die Wegdecke voller Schlaglöcher war. Als Petersen in ein besonders tiefes Schlagloch geraten war, fluchte er und fügte hinzu: „Schlitzkiller!“ würde meine Freundin jetzt sagen. In diesem Moment radelte Mademoiselle Varga an ihnen vorbei und rief triumphierend. „Me revoilà !“

„Da ist sie wieder!“, sagte Petersen froh. Kaum merklich erhöhten die drei ihr Tempo, um sie nicht wieder aus den Augen zu verlieren. Plötzlich bog sie in einen von Büschen gesäumten Weg ein, der offenbar zu einem Leuchtturm führte. Sie hielten und sahen die Varga ihr Rad abstellen und in den Leuchtturm hineingehen. „Das will ich auch!“, rief Petersen. „Vielleicht gibt es von der Einrichtung was Interessantes zu fotografieren.“ Niemand widersprach, schließlich war Petersen Profifotograf und lebte davon, ungewöhnliche Motive abzulichten. Und die Wahrscheinlichkeit, auf Mademoiselle Varga zu treffend, war verlockend genug. „Außerdem brauche ich ganz dringend Schatten!“, fügte Gaukler an. Sie schlossen ihre Räder ab, gingen hinüber und stießen die Tür zum Leuchtturm auf.

Foto der Titelgrafik: Susanne Braun

Nächstens mehr …

Ausgezogene Nachbarinnen und Rauhfaser

Kaum bin ich eine Weile weg gewesen, sind zwei meiner Nachbarinnen ausgezogen, aus ihren Wohnungen, nicht aus ihren Kleidern. Bewahre! So nah kannte ich die Damen nicht, eigentlich nämlich kaum, aber sie waren mir doch vertraut. Die Oberobernachbarin, die blonde Frau Krug, trug einen Jungenhaarschnitt und  ging immer leise singend durchs Treppenhaus. Fast bei jedem Wetter fuhr sie mit ihrem sportlichen Fahrrad zur Arbeit. Sie war Pressesprecherin in einem Konzern. Nachdem ich einmal ein Paket für sie angenommen hatte, überreichte sie mir tags darauf zum Dank eine Schachtel Schokoladenkonfekt. Sonst begegneten wir uns höchst selten. Sie zu treffen, war ein bisschen wie dem weißen Hirschen zu begegnen.

Die Frau, die über mir gelebt hat, kannte ich noch weniger. Bei unserem ersten Kontakt, kamen wir uns am nächsten. Wir begegneten uns im Hausflur, und ich fragte: „Sind sie meine neue Obernachbarin?“ Da kam sie auf mich zu, streckte die schlanke Hand aus und sagte ihren Namen: „Frimmersdorf.“ Danach blieb es über zwei-drei Jahre anlässlich unserer seltenen Begegnungen beim unverbindlichen „Hallo!“ Einmal fragte sie mich, ob ich den Schornsteinfeger in ihre Wohnung lassen könnte. Ich nahm ihren Schlüssel und gab ihn an den Schornsteinfeger weiter, ohne mit ihm hochzugehen, denn ich wollte die Wohnung eines mir völlig fremden Menschen nicht betreten. Es wäre eine einseitige Annäherung gewesen.

Eigentlich hätte ich keinen Grund, die Damen zu vermissen. Aber die aufgegebenen Wohnungen finde ich unerfreulich. Die tönende Leere über meinem Kopf. Wie es hallt in leeren Wohnungen. Deprimierend finde ich nackte Wände mit ihren hellen Rechtecken, wo Bilder und Poster gehangen haben. Ich muss dann immer an den hoffnungsfrohen Einzug der Bewohner denken, wie sie voller Elan darangegangen sind, ihr neues Heim zu verschönern. Die hellen Rechtecke wirken, als hätte man Hoffnung und Elan in die Tonne getreten.

Vor dem Haus steht ein offener Container voller Zeug. Ursprünglich enthielt er nur Bauschutt aus einer Wohnung über den beiden Damen. Dort ist vor Monaten ein junges Paar mit Kleinkind ausgezogen. Deren aufgegebene Wohnung wird vermutlich Luxussaniert. Es wurden Wände herausgerissen, Installationen neu verlegt, neue Mauern hochgezogen. Zur Zeit passiert dort oben nichts. Man sieht jedenfalls keine Handwerker. Ob die Wohnung fertig ist? Hat man die Wände frisch mit Rauhfaser verklebt?

Mit der Orthographiereform von 1996 hat „rauh“ sein funktionsloses „h“ verloren, folglich müsste „Raufaser“ geschrieben werden. Doch Rauhfaser ist der Handelsname des Herstellers, des Wuppertaler Unternehmens Erfurt & Sohn. Bis vor kurzem dachte ich, Erfurter Rauhfaser käme aus Erfurt. Dort würde man die Wälder ringsum schreddern, um strukturbildende Holzfasern in die drei Papierschichten einzuarbeiten, aus denen die Rollen bestehen. Als ich kürzlich mal in einem fremden Haus das Bett hüten musste, schaute ich in eine mit Rauhfaser tapezierte Dachgaube. Aus Langeweile recherchierte ich im Internet Rauhfaser und erfuhr, dass der Wuppertaler Apotheker Hugo Erfurt im Jahr 1864 die Rauhfaser zu Dekorationszwecken erfunden hat.

Sein Großvater besaß eine Papierfabrik, Erfurt & Sohn, wo Hugo wohl mit der ersten Rauhfaser ecperimentiert hat. „Zu Dekorationszwecken.“ Wie muss ich mir das vorstellen? Erst die Gestalter des Bauhaus haben in den 1920-er Jahren die Rauhfaser für die Innenraumgestaltung entdeckt. Seither erobert sie weltweit die Wände der Wohnungen und noch immer kommt sie von, nicht aus Erfurt. Kürzlich im Einrichtungshaus sah ich Frau Krug wieder. Sie hatte Rauhfaser gekauft.

Plausch mit Frau Nettesheim – Smartphone auf Reisen

Frau Nettesheim
Ihr Smartphone ist wieder da?

Trithemius
Ja, seit gestern. Es hat eine geheimnisvolle Odyssee hinter sich, Frau Nettesheim. Ich hatte es in einem Ferienhaus in der Bretagne vergessen, was mir erst auffiel, während Freunde uns zum Bahnhof fuhren. Es war zu spät, noch einmal zurück zu fahren. Meine Begleiterin und ich hätten den TGV nach Paris verpasst. Die Freunde, die einige Tage länger in den Ferien verblieben sind, haben mir das Telefon zugeschickt. Doch es war einen Monat unterwegs, denn bei der Adresse stimmte die Postleitzahl nicht. Keine Ahnung, wo es überall gewesen ist. Jetzt habe ich mein Smartphone wieder; es ist aufgeladen und eingeschaltet, ich könnte froh sein, aber es macht mich ganz verrückt.

Frau Nettesheim
Soso, verrückt. Warum?

Trithemius
Nachdem ich mich daran gewöhnt hatte, kein Smartphone mehr zu besitzen, bin ich befremdet. Ich fühle mich, als würde ich am Schreibtisch sitzen und hinter mir stünden Türen offen. Ab und zu tritt für mich unsichtbar ein Bote in eine der Türen und ruft: „Eilige Post für Sie! Wollen Sie die Depesche beantworten? Ich warte!“ Da soll sich einer konzentrieren.

Frau Nettesheim
Depesche? Etwa übermittelt vom Deutschen Depeschendienst?“

Trithemius
Nein, die Nachrichten kommen von ganz normalen Leuten. Nicht Staatslenker nehmen mit mir Kontakt auf, um Handelsabkommen zu schließen, keine gekrönten Häupter erklären mir den Krieg, keine Botschaft eines Nachbarlandes warnt mich vor einer Flutwelle, weil am Oberlauf eines Flusses ein Staudamm gebrochen ist. Ich bin ja keiner von ihnen, bin auch nur ein normaler Mann. Folglich bekomme ich simple Nachrichten von ganz normalen Leuten.

Frau Nettesheim
Früher hätten Sie die Demokratisierung der Nachrichtenwege begrüßt.

Trithemius
Ganz früher vielleicht, als Sie noch gar nicht auf der Welt waren, Frau Nettesheim, sondern irgendwo auf dem Mond rumschwammen. Aber jedes Medium hat die Neigung sich mit Inhalten zu fülle. Bauen Sie eine Autobahn, bekommen Sie mehr Autoverkehr als Ihnen lieb ist, öffnen Sie Kommunikationskanäle, bekommen Sie eine Nachrichtenflut, die kein Mensch bewältigen kann. Jetzt habe ich den Salat: Hinter mir werden Türen aufgerissen und Benachrichtigungen gerufen. Geht Ihnen der feine Unterschied auf zwischen „Nachricht“ und „Benachrichtigung?“

Frau Nettesheim
Nicht, dass ich es referieren könnte.

Trithemius
Ich versuche es: Die Nachricht ist im Wortsinn eine Information, nach der man sich zu richten hat. Wenn die Wettervorhersage Regen ankündigt, richten Sie sich darauf ein und nehmen einen Schirm mit. Die Benachrichtigung ist die Ankündigung einer Information, etwa das Klingeln an der Wohnungstür, das Brummen des Mobiltelefons, die Tonfolge des E-Mail-Programms, wobei nicht klar ist, ob die eingehende Information eine Nachricht ist oder sonst was, etwa Werbung, nach der ich mich nicht richten will. Ständig ist man also damit beschäftigt, Benachrichtigungen auf ihre Relevanz zu prüfen. Das macht mich verrückt und meine Kommunikationsbereitschaft tendiert nach null.

Frau Nettesheim
Ein Glück, dass Sie dem Paketboten trotzdem aufgemacht haben. Sonst wäre Ihr Smartphone noch immer sonst wo.

Schade um den milden König

Mitten in der Nacht wachte ich auf. Mir war kalt. Im Dämmer des Schlafzimmers schaute ich aus nach meiner Zudecke. Sie hatte sich zu einem unförmigen Knäuel geballt und schien so verbleiben zu wollen, denn mir war es schier unmöglich, sie zu entwirren und zu glätten. In einer Pause zwischen den vergeblichen Bemühungen muss ich wieder eingeschlafen sein. Ich erwachte frierend am hellen Tag. Die Zudecke lag friedlich ausgestreckt neben mir. Nun gibt es ja durchaus Eigenleben in menschlichen Betten. Man weiß von mikroskopisch kleinen Spinnmilben, die sich in menschlichen Betten wohlfühlen, ja dort ganze Weltreiche bevölkern. Die Idee, dass ein dicker fetter Milbenkönig, ein mitleidloser Despot, sich einen zusammengeraubten Harem der Schönsten des Landes halten könnte, weil er auf einem Schatz meiner Hautschuppen sitzt, hatte mich schon eine Weile verfolgt. Just wegen dieser Vorstellung hatte ich die neue Zudecke gekauft, denn es dürfte eine Weile dauern, bis auch sie besiedelt wäre. Zumindest am Anfang wären demokratische Verhältnisse unter einem gerechten Herrscher, einem milden König, in der neu entstehenden Population möglich.

Die Widerspenstigkeit der Zudecke schien mir nicht mit derlei Welten zu tun zu haben, sondern auf eine höhere Ebene des Lebens zurückzugehen. Indem ich darüber nachsann, wurde mir klar, dass es sich nicht um Eigenleben handeln konnte. Dafür war diese Zudecke nicht komplex genug. Wenn sie nächtens tat, was sie nicht tun sollte, musste es sich um eine Manifestation handeln, bei der die Zudecke das Medium war, dessen sich eine Kraft bediente.

Aus der Literatur ist mir ein solcher Fall bekannt. Bei einem Strandgang findet ein Mann eine Pfeife, die er von Verstopfungen durch Salz- und Sandkrusten säubert. Die Pfeife hat eine bedrohliche Inschrift. Er bläst trotzdem hinein, bringt aber keinen hörbaren Ton heraus. Ihm ist, als hätte er eine flatternde Gestalt herbeigepfiffen, die aus weiter Ferne heraneilt. Nächtens vermerkt er Unruhe im leeren zweiten Bett in seiner finsteren Kammer. Er glaubt, ein Freund, mit dem er den Urlaub verbringen wollte, sei spät eingetroffen und habe sich ins Bett gelegt, ohne ihn zu wecken. Doch der Freund ist nicht da. im Bettzeug hat sich eine gespenstige Gestalt manifestiert.

In der nächsten Nacht erwachte ich mit Beklemmungen. Die Zudecke hatte sich um meine Brust gewickelt, reichte mir bis unters Kinn. Das war aus zweierlei Gründen nicht gut. Mein Bett war von meiner Brust abwärts ausgekühlt. Ich fürchtete um das Reich des milden Herrschers. Auch kam ich ins fruchtlose Grübeln, ob und wie ich in letzter Zeit gepfiffen hätte.

Voller Sorge legte ich mich am nächsten Abend ins Bett, träumte unruhig. „Jetzt ist alles in Ordnung“, sagte eine Frauenstimme. Das fand ich aber gar nicht. Unter der ausgestreckten Zudecke hatte ich derart geschwitzt, dass mein Schlafanzug unangenehm an mir klebte. Ich wagte nicht, mich zu rühren, denn jede Bewegung verstärkte das Gefühl der Nässe. Wo ich lag, war das Bett durchnässt, das Kopfkissen, die Zudecke auch.

Der milde König wird wohl ertrunken sein, sein treues Volk desgleichen.

Technikmuseum – Eine Welt aus sieben Strichen

Seit längerem wollte ich über die Sieben-Segment-Schrift schreiben, die Schrift der Digitalanzeigen. Mir war nämlich aufgefallen, dass sie allmählich aus dem Alltag verschwindet. Zu Hause habe ich kein Gerät mehr, auf dem sie zu sehen ist, und auch im Straßenbild wird sie immer seltener. Die Preistafeln an Tankstellen wiesen lange Zeit die Sieben-Segment-Schrift auf. Als in den 1980-er Jahren Uhren mit Digitalanzeige aufkamen, wurde die Sieben-Segment-Schrift populär, und es galt als chic, eine derartige Uhr zu haben, obwohl die digital dargestellte Uhrzeit weniger anschaulich ist als die analoge. Noch heute muss ich mir die digitale Zeitangabe in die analoge übersetzen, um mir einen Termin sicher zu veranschaulichen.

Digitalanzeige im Kassenraum der Bundesbankfiliale Hannover

Auch die Anzeige von digitalen Aufrufsystemen, etwa wie im Bild im Kassenraum der Bundesbankfiliale Hannover (Foto: JvdL – Vergrößern klicken!) hat sie noch. Die formale Besonderheit der Sieben-Segment-Schrift: Mit ihren sieben Segmenten lassen sie alle Zahlen von null bis neun darstellen. Sie stammt aus der Zeit der 8-Bit-Prozessoren, je Bit ein Segment, und das achte Bit gibt die Position der einzelnen Zahl innerhalb einer Zahlenreihe an.

Entsprechend schlicht ist die Form aus vier vertikalen und 3 horizontalen Strichen. Mit diesem geringen Formrepertoire lassen sich alle Zahlen schreiben. Stellt man bestimmte Zahlen auf den Kopf, sind Buchstaben zu erkennen, etwa:

Daraus ließe sich schreiben: 38317 = LIEBE, 38537 = LESBE, 31907018 = BIOLOGIE, 513 = EIS, BISSIG EGEL BOESE GELEGE EBBE EGGE GIEBEL und viele mehr. Selbstverständlich sind Palindromwörter wie EBBE auch Palindromzahlen = 3883.


Ein Witz mit umgedrehten Ziffern, in den 1980-er Jahren im Frühstücksradio gehört: „Es ist 8 Uhr 48, oder für die Mantafahrer unter uns: Brezel, Stuhl, Brezel.“

Über eine peinliche Marketingpanne von Pernod mit der Sieben-Segment-Schrift lies hier
https://trittenheim.wordpress.com/2017/11/06/gekritzelt-aufforderung-zum-sprachspiel/
und hier: https://trittenheim.wordpress.com/2017/11/13/gekritzelt-finaler-jahreslauf-und-die-letzte-frage/

Technikmuseum – Männlein, acht Bildpunkte breit

Lang ist’s her. In den 1980-er Jahren begann ich zu programmieren für den Atari-XL-Computer in Atari-Basic. Unter anderem programmierte ich zwei Spiele, die als sogenannte „Listing des Monats“ in monatlich erscheinenden Computerzeitschriften abgedruckt wurden und mir jeweils ein Honorar von 1000 DM einbrachten. Der Atari XL hatte einen 8-Bit-Prozessor. Das heißt, es werden 8 Bit gleichzeitig verarbeitet. 8 Bit ergeben ein Byte. Für einen 8-Bit-Prozessor eine Spielfigur zu gestalten, ist technisch relativ einfach, grafisch aber schwierig, weil die Auflösung gering ist. Es stehen in der Breite nur maximal acht Bildpunkte zur Verfügung. Anbei das Beispiel einer Spielfigur vom Entwurf in einer Matrix bis zur Bildschirmdarstellung:


Legende: Jede Reihe ist ein Byte, eine Folge aus 8 Bit mit den Zuständen 0 (weiß) oder 1 (schwarz) Zur Darstellung eines Zeichens oder Bildes wird jedem Bit ein Dezimalwert zugewiesen. Er berechnet sich durch Addition, je nachdem, welche Bildpunkte schwarz erscheinen sollen. Beispielsweise zeigt die Gesamtsumme von 128+64+32+16+8+4+2+1 = 256 einem schwarzen Streifen über die gesamte Breite des Bytes.

Ich kaufe mehrmals fünf statt vier Croissants – aus Gründen der Völkerverständigung

Französisch kann ich nicht schlecht, sondern sehr schlecht, fast gar nicht, nur das klein Bisschen, das ich im Laufe meines Lebens hie und da aufgeschnappt habe. „Fermé le lundi“ steht an der Tür zur Bäckerei im Zentrum eines kleinen bretonischen Dorfes. Die Bedeutung kann ich aus dem Kontext erschließen. „lundi“ muss Montag heißen, nach der römischen Mondgöttin luna, und im Laden brennt kein Licht. Die Tür ist zu. Also „Montag geschlossen.“ Am nächsten Morgen habe ich mehr Glück. Ich sage meinen Spruch auf: „Bonjour, madame, quatre croissants s’il vous plaît.

Sie wiederholt meine Bestellung, und ich höre, dass „quatre“ aus ihrem Mund viel weicher und schöner klingt. Mein „quatre“ klingt verflucht deutsch, so als würde ich beim Wort die Hacken zusammen schlagen, was nebenbei wirklich eine typisch deutsche Geste ist. In den bretonischen Hafenstädten wird man sie kennen. Unweit, in Lorient, haben im zweiten Weltkrieg die Nazis einen U-Boot-Bunker gebaut und betrieben. An diese unselige Zeit will ich nicht erinnern.

Mercredi finde ich eine andere Bäckerei offen, sogar näher gelegen, was nach rund zwei Kilometern Fußweg zum Zentrum schon eine Verlockung ist. Der Laden ist verwaist. Ich betätige die Klingel auf dem Tresen, klingele ein zweites Mal. Aus einem Hinterzimmer tönt ein leiser Ruf. Dann eilt eine junge Frau heran, und noch im Gehen hinter der Ladentheke streckt sie die Arme seitlich, winkelt die Hände waagerecht und macht einen Knicks. Ich bin verzaubert. Soviel Anmut verträgt kein verbales Hackenzusammenschlagen. Mein „quatre“ wäre hier viel zu gewöhnlich. Spontan ändere ich mein Sprüchlein in „Bonjour, madame, cinq croissants s’il vous plaît.“

Wie mir der französische Freund und Gewährsmann bestätigt, sagt man auch in Frankreich zu einer jungen Frau nicht mehr „mademoiselle“ , was unserem „Fräulein“ entspricht. Aber bei der anmutigen Backwarenverkäuferin wäre es ein Ehrentitel gewesen, den ich ihr gerne an den Folgetagen verpasst hätte, an denen ich immer ein Croissant zuviel kaufte. Sie fragte mich einmal etwas, worauf ich nur antworten konnte: „Je ne sais pas.“ Da nickte sie verständig. Zum Glück hat sie nicht mehr geknickst. Schöne Momente müssen einmalig bleiben.

Plausch mit Frau Nettesheim – Am Paketband knibbeln

Frau Nettesheim
Vielleicht sind Sie nur faul, Trithemius. Oder wie nennen Sie das, innerhalb eines Monats gerade einen Text zu veröffentlichen?

Trithemius
Erholung? Ferien? Urlaub? Schöpferische Pause? Wussten Sie, Frau Nettesheim, dass Urlaub von erlauben abstammt? Urlaub ist die Erlaubnis, nichts zu tun. Und weil ich mein eigener Chef bin, habe ich mir den Urlaubsschein selbst ausgestellt. Hätte ich Sie um Erlaubnis fragen müssen?

Frau Nettesheim
Das hier ist ein freies Weblog.

Trithemius
Warum spekulieren Sie dann, ob ich vielleicht nur faul wäre? Es ist wie bei einer Rolle Paketband. Ich kann einfach den Anfang nicht finden.

Frau Nettesheim
Sie haben eine Schreibblockade.

Trithemius
Scheint so. Wäre ich ein angestellter Schreiberling, dessen Urlaub geendet hat, müsste ich einfach loslegen, aber als freier Mann … Ich bringe lieber Altglas zum Container.

Frau Nettesheim

Übernehmen Sie sich nicht! Am Ende sind Sie schon wieder urlaubsreif.

Trithemius
Sie haben Recht, Frau Nettesheim. Ich lege mich dann besser gleich was aufs Ohr.