„Wer zwei paar Hosen hat, mache eine zu Geld …“

Meine lieben Damen und Herren,

frohe Kunde: In der Edition Teestübchen Trithemius ist ein neues Buch aus meiner Feder erschienen.

Das Buch hat 228 hübsche Seiten, wurde professionell layoutet vom Buchgestalter Christian Dümmler, ist das dritte der Reihe „schräge Geschichten“ und ergänzt die Vorgänger Die schönsten Augen nördlich der Alpen und Goethes bunter Elefant. Es kostet nur 9.99 Euro.

Gönnen Sie sich ein Ostergeschenk! Das feine Buch gibt es hier, am schnellsten hier – für Geduldige im Buchhandel unter der ISBN 9783754958735

„Wer zwei paar Hosen hat, mache eine zu Geld und kaufe dieses Buch!“

(Georg Christoph Lichtenberg)

Ich wünsche viel Vergnügen beim Lesen!

Zwanglos auf der Orgelempore

Der Küster unserer Pfarrgemeinde betreute den Kirchenchor und spielte bei den Messen die Orgel. Diese Orgel musste dringend überholt werden, denn sie hatten defekte Pfeifen, die nur noch hässlich quietschten. Es war eine gewisse Fertigkeit nötig, die Misstöne zu vermeiden. Unserem Küster gelang es meistens, die defekten Pfeifen im Spiel auszulassen, ohne dass es den Gläubigen in den Kirchenschiffen aufgefallen wäre. Auch den Pfarrer schien es nicht zu stören, denn er sprach nicht darüber, dass die Orgel erneuert werden müsste, jedenfalls hörte ich als Messdiener nichts davon, und auch im Dorf war die defekte Orgel kein Thema.

Dieses Dorf bot jungen Menschen in den 1960-er Jahren wenig Gelegenheiten, sich zu erproben und entfalten. Mein älterer Bruder sang im Kirchenchor, und so war es naheliegend, dass ich nach dem Stimmbruch ebenfalls Mitglied des Kirchenchors wurde. Das hatte den Vorteil, dass ich die sonntägliche Messe auf der Orgelempore verbringen durfte. Der Kirchenbesuch war mir inzwischen lästig geworden. Die katholische Sexualfeindlichkeit hatte mich in der Pubertät in Nöte gebracht und zunehmend kritisch auf Religion und Kirche schauen lassen. Die Sonntagsmesse besuchte ich nur noch meiner Mutter zu Liebe.

Durch den Kirchenchor gewann der Kirchenbesuch für mich neuen Reiz. Plötzlich folgte ich dem sonntäglichen Geläut zum Hochamt wieder mit Freude. Ich freute mich darauf, die gewundene Holztreppe vom Foyer zur Orgelempore hochzusteigen. Schon als Kind hatte ich davon geträumt, diese Treppe betreten zu dürfen. Auf der Empore öffnete sich mir ein ungeahnter Freiraum. Hier konnte man gänzlich unbefangen tun, im Kontrast zur strengen Choreografie der alten Liturgie dort unten in den Bänken, in denen die Gläubigen knien, sich zum Singen aber hinstellen mussten. Danach wieder hinunter auf die bereits schmerzenden Knie und wieder hoch, zurück auf die Knie, im irrwitzigen Hin und Her.

Weil ich nie gut ertrug, wenn mir etwas vorgeschrieben wurde, kam mir entgegen, dass den Chormitgliedern auf der Empore fast gar nicht vorgeschrieben war. Wir konnten herumgehen, auf der linken, den Frauen vorbehaltenen Seite nach Dorfschönheiten Ausschau halten und ihnen auf den Scheitel gucken. Wir durften hinter die Orgel gehen und dort freimütig scherzen und herumalbern. Aber das Beste war, unseren Küster beim Orgelspiel zu erleben. Wenn er so richtig in Spielrausch geriet und vergaß, die defekten Pfeifen zu umspielen, wenn also in der schönsten Improvisation plötzlich ein hässliches Quietschen ertönte, dann rief unser Küster ganz ungezwungen: „Scheiße!“ Und niemand von den Gläubigen da unten hat seinen Ohren getraut und wahrgenommen, dass die heilige Messe von derben Flüchen begleitet war.

Im Bild: Ich habe diese Erfahrung bündiger geschildert und kalligrafiert in der modernen Ausgangsschrift des britischen Kalligrafen Alfred Fairbank. Den Titel: „Auf der Orgel“ habe ich in der Troy-Type des britischen Malers, Dichters und Begründer der legendären Kelmscott Press William Morris gezeichnet. Um Blocksatz zu erzielen, musste jede Zeile zweimal geschrieben werden. Da zeigte sich, wo eine Silbentrennung nötig war und wo enger oder weiter geschrieben werden musste. Derlei Arbeiten waren in den 1990-er Jahren mein eigenes Hochamt. Die Kalligrafie im Format 50 × 70 Zentimeter hängt gerahmt bei mir an der Wand. Größer anschauen – bitte klicken!

Der Teebeutel war’s

„Wie kannst du das hier und jetzt auf eine andere Ebene heben?“, fragt mich mein Teebeutel, genauer sein Anhänger. Konkret? Der Teebeutelanhänger hängt außen an der weißen Teekanne. Um die Kanne hochzustellen, fehlt an meinem Schreibtisch ein Regal. Übertragen? Was ist überhaupt gemeint mit „das“? Die Teebeutelphrase doch. Indem ich sie abgeschrieben habe, indem sie auf meinem, jetzt auch auf deinem Bildschirm erscheint, befindet sie sich bereits auf anderen Ebenen. Bleibt die Frage, wozu das gut ist. Wozu alltägliche Erfahrungen und Beobachtungen verschriftlichen? Wir entheben sie der Situation (hier) und der Zeit (jetzt). Auf diese Weise können wir sie betrachten und darüber nachdenken.

Meine derzeitige Situation sieht etwa so aus: Ich sitze an meinem Schreibtisch, tippe und friere an den nackten Füßen, allerdings nicht genug, dass ich schon genötigt wäre, den Zustand zu beenden und mir Socken anzuziehen. Freilich könnte ich das unbeschadet tun. Niemand würde bemerken, dass ich zwischen diesen Worten aufgestanden wäre, um mir Strümpfe zu holen. Selbst, wenn ich ankündige, das genau jetzt zu erledigen, wäre es nicht von Belang, denn der Text hier spiegelt die Situation nicht, wie etwa ein Film dies täte. Überdies ist er zeitlos. „Zeitlos“ ist kein Qualitätsurteil, sondern besagt, dass der Text außerhalb der Zeit besteht, aber nur auf einer diffusen Ebene. Würde das Blog gelöscht oder der Server abgeschaltet, verbrennt ein Buch oder fällt Mikroorganismen zum Opfer, ist’s aus mit dem Bestehen. Dann ist die Zeit des Textes abgelaufen. Erkenntniswert? Ich sitze nur am Schreibtisch und vermeide, mein Tagwerk zu beginnen. Wenn ich dir Zeit gestohlen habe, der Teebeutel wars.

Maries Spiegel

Mit 14 Jahren hatte Marie in ihr Tagebuch geschrieben:

    „Meine Hobbys, Lesen, Mode und Schminken.“

Das galt noch, als Marie nach dem Abitur ihr Heimatdorf im Westerwald verließ, um in Aachen Maschinenbau zu studieren. Diese Fachrichtung stand in so krassem Gegensatz zu ihrer feingliedrigen Gestalt, dass alle, die davon hörten, ungläubig nachfragten: „Wieso denn Maschinenbau?“ Wenn überhaupt eine Frau sich in dieses Fach verirrte, hätte man eine stämmige Bauerntochter erwartet, die zu Hause die schweren Landmaschinen in Ordnung hielt, keine wie Marie, die dem nächstbesten Modemagazin entsprungen schien. Doch die zielbewusste junge Frau wollte in das mittelständische Unternehmen ihrer Eltern eintreten, das sich auf Präzisionsmaschinen spezialisiert hatte. Die Sache war dringend. Ihr Vater, dem der sehnlichst gewünschte Sohn versagt geblieben war, hatte kürzlich einen Herzinfarkt erlitten und brauchte Unterstützung.

Marie hatte eine bezahlbare Ein-Zimmer-Wohnung in einer alten Stadtvilla nahe der Universität gefunden, deren größter Nachteil war, dass eine Güterbahnlinie vorbeiführte. Aus ihrem Erkerfenster schaute sie auf einen aus groben Bruchsteinen gemauerten Bahndamm und hatte die Güterzüge, gezogen von schweren belgischen Dieselloks, unmittelbar vor Augen. Doch Marie gewöhnte sich bald an den sporadischen Lärm und die Erschütterungen des Hauses, wäre da nicht ein zweiter Nachteil gewesen, ihr Türnachbar, ein finsterer aufgedunsener Säufer. Marie gruselte sich vor ihm, weil er ihren Gruß bei zufälligen Begegnungen im Treppenhaus nicht erwiderte, sondern sie stumm anstarrte, als würde er sie mit seinen Blicken ausziehen.

Doch die Vorteile der Wohnung überwogen. Sie war lichtdurchflutet, hatte hohe Decken mit prächtigem Putz und als Schmuckstück einen großen gerahmten Kristallspiegel an der Wand. Marie hatte ihren Schminktisch vor ihm aufgestellt, und wenn sie weiter zurücktrat, konnte sie sich in ganzer Schönheit im Spiegel bewundern. Oft posierte sie in wechselnder Garderobe vor ihm, und kam sie aus der Dusche, ließ sie ihren Bademantel zu Boden sinken, drehte, reckte und streckte sich und fand sich schön genug für eine Karriere als Topmodell. Dann wieder schalt sie sich eine narzisstische Träumerin, mahnte sich zur Ernsthaftigkeit, die sie ihren Eltern schuldete, und widmete sich den Fachbüchern, den Mitschriften aus Vorlesungen und den Klausurvorbereitungen. Leider nahmen die Klausuren im Multiple-Choice-Verfahren zu.
„Man kann überhaupt keine eigenen Gedanken formulieren“, klagte sie einmal vor Kommilitonen. Das war schlimm für eine Frau mit eigenem Kopf.

Auf diesem Kopf hatte sie sich einen nachlässigen Bloggerdutt gedreht, nachdem sie aus der Dusche gekommen war, saß halbnackt vor ihrem geliebten Spiegel, als im Treppenhaus Stimmengewirr ertönte. Sie zog den Bademantel über und schlich zur Wohnungstür, um durch den Türspion zu sehen, was los war. Ihr Türnachbar stritt mit jemandem. Marie erkannte den Schornsteinfeger, der kürzlich bei ihr gewesen war, die Gastherme überprüft und in der Decke die alten Gasleitungen für die einstigen Gaslampen höchst bedenklich gefunden hatte.
„Die sind ein Sicherheitsrisiko, aber niemand wagt sich daran, sie zu entfernen“, hatte er gesagt. Ihr Nachbar, fett und abstoßend im Unterhemd und am frühen Morgen schon betrunken, weigerte sich offenbar, den Schornsteinfeger in die Wohnung zu lassen. Der hatte zwei Polizisten dazugeholt. Der Nachbar wurde handgreiflich. Marie erschrak vor dem Tumult und war froh, als die Polizisten den Mann endlich gebändigt hatten und abführten. Sie hörte noch das Poltern der Schritte auf der Treppe, die Proteste des Säufers, und plötzlich war es ruhig. Marie hatte nicht sehen können, wo der Schornsteinfeger abgeblieben war. Sie öffnete die Wohnungstür und schaute hinaus. Die Tür zur Nachbarwohnung stand offen. Neugierig trat Marie vor, lugte hinein und zuckte zusammen. Im Zimmer des Säufers stand der Schornsteinfeger und starrte fassungslos auf ein Fenster in der Wand, die an ihre Wohnung grenzte. Marie durchfuhr es siedend heiß. In der plötzlichen Erkenntnis stieß sie einen Laut des Schreckens aus. Von Grauen gepackt sah sie durch das falsche Fenster – in ihr eigenes Zimmer.

Die Erzählung meines Bruders und ihr wahrer Kern

Mein fünf Jahre älterer Bruder erzählte mir gerne Märchen, so auch, dass er als Messdiener in die Turmspitze unserer Pfarrkirche St. Martinus geklettert war. Im Dach habe es nur ein Zickzack von Leitern gegeben. Die Kugel auf der Spitze sei mit einer Falltür gesichert gewesen. Da habe er reinschauen können und verstaubte Schriftstücke gesehen. Als ich zehn Jahre später Mitglied des Kirchenchors war, durfte ich während der Messe auf der Orgelempore sein. Da stieg ich einmal hinauf in den Glockenturm. In der Turmspitze waren durchaus Leitern zu ahnen, aber verloren sich in der Finsternis, so dass ich die Erzählung meines Bruders verwarf.

Vor zwei Jahren ist er verstorben, kann also nicht mehr befragt werden. Inzwischen glaube ich, dass es sich bei der Erzählung meines Bruders um einen von Messdienern über die Generationen weitergegebenen Mythos handelt. So wie sie einander die lateinischen Gebete der Liturgie mündlich weitergaben und verfälschten, weil sie kein Latein verstanden, erzählten sie von Inhalten der Turmkugel, ohne sie je gesehen zu haben.

Über das gern gelesene Blog des Aachener Historikers und Archivars Klaus Graf wurde ich aufmerksam auf einen Aufsatz über Turmkugelarchive. Der Historiker Beat Kümin schreibt in „Nachrichten für die Nachwelt. Turmkugelarchive in der Erinnerungskultur des deutschsprachigen Europa“, es „(…) dürften mit Sicherheit Hunderte, aber wahrscheinlich Tausende dieser meist aus vergoldetem Metall gefertigten Behälter – mit oder ohne Wissen der Anwohner – hermetisch verschlossene Hülsen, Röhrchen oder Schachteln mit geheimnisvollen Nachrichten und Materialien enthalten.“ Gefunden werden diese „Einlagen“, nachdem eine Turmkugel abgenommen wurde, um sie beispielsweise neu zu vergolden.

Als ich etwa die 8. Klasse der Volksschule besuchte, gab es in meinem Heimatdorf Nettesheim ein spektakuäres Ereignis, zu dem sich viele Dorfbewohner eingefunden hatten. Da war die örtliche Dachdeckerfamilie mit drei Generationen auf dem Kirchturm, um den renovierungsbedürftigen Wetterhahn von der Spitze zu holen. Ich erinnere mich, dass ich Großvater, Vater und Sohn in schwindelerregender Höhe mit Bangigkeit beobachtete. Dabei beeindruckte mich besonders, dass der Sohn mein Mitschüler Juppi aus dem Jahrgang unter mir war.

[Im Bild: St. Martinus Nettesheim, Foto: Wikipedia] zum Vergrößern bitte klicken.

Turmkugelarchive zu bergen und wieder auf die Turmspitze zu setzen, ist demnach Aufgabe der Dachdecker. In Rosdorf bei Göttingen hat im Jahr 1749 der Schieferdecker nicht nur neue Schuhe und Strümpfe verlangt, sondern auch mit Kugel, Fahne und Musikbegleitung durch die Gemeinde ziehen zu dürfen, schreibt Kümin. Nachdem der Dachdecker die Kugel wieder auf die Turmspitze gesteckt hatte, setzte er sich oben drauf, um die neuen Strümpfe und Schuhe anzuziehen.

Was wird nun aufbewahrt in den Turmkugelarchiven? Kümin schreibt: „Stellvertretend mag hier die Apostelkirche Hannover stehen, wo das Spektrum 1882 Baudokumentationen, Grußworte einer benachbarten Pfarrei sowie eines Handwerkbetriebs, Werbematerial für die Landeslotterie, Spendenaufrufe, den zuvor im Grundstein eingeschlossenen Text, einen Führer durch das Gotteshaus, Bilder der königlichen Familie sowie verschiedene Zeitungen und Münzen umfasste.“ Die Einlagen sind Dokumente ihrer Zeit und als Botschaften für nachkommende Generationen. gedacht. Kümin spricht von einem Rhythmus „absichtlicher Zufälligkeit“ und nennt zwei Generationen als Öffnungs- und Sichtungsintervalle.

In einer Turmkugel in Allerstedt fand man im Jahr 1927 die fast bange Frage an die Zukunft:

    „Was wird an Errungenschaften da sein, wenn wieder einmal diese letzten Nachrichten gelesen werden! Wird man vielleicht lächeln über das, worüber wir noch staunen?“

Mit dem Einkaufswagen durch ein verschwundenes Kaufhaus – nichts für Fußlahme

Für mich als Kind war der Wald der Inbegriff des Beständigen. Dass auch der Wald sich durch Bewirtschaftung verändert, erschloss sich mir erst, nachdem ich größere Zeitspannen überblicken konnte. Inzwischen weiß ich, dass nichts in der Welt von Dauer ist. Alleweil ändert sich was. Auch was uns heute selbstverständlich erscheint, verändert sich über Nacht oder verschwindet. Im vergangenen Sommer war ich wegen des Spiralbruchs meines Unterschenkels nach Krankenhaus, Kurzzeitpflege und Reha mehr als drei Monate nicht zu Hause. In der Zwischenzeit sind drei mir vertraute Obernachbarinnen weggezogen und das Real-Kaufhaus in meiner Nachbarschaft hat geschlossen.

Real war mir immer unsympathisch, aber für mich bequem zu erreichen. Er lag nämlich nur vier Gehminuten entfernt. Daher habe ich dort gelegentlich eingekauft. Den Monitor, auf den ich gerade schaue, habe ich dort an einem Samstag gekauft, nachdem der alte am Morgen kaputt gegangen war. Während des Lockdowns war Real die Rettung, denn der Markt bot nicht nur Lebensmittel, sondern auf der ersten Etage fast alles für den täglichen Bedarf. Mein im Unmut gekauftes Kochmesser stammt da her.

Inzwischen ist der Gebäudekomplex eine soziale Brache. Nicht nur die Verkaufshalle ist leer, sondern auch alle Geschäfte im Vorkassenbereich sind geräumt. Der gläserne Eingangsbereich wirkt verwahrlost. Auf jeder Hälfte der Automatikschiebetür ist noch das hübsche lebensgroße Paar zu sehen, das sich mit gespitztem Mund einander zuneigt, um sich bei jedem Öffnen der Türen zu trennen und beim Schließen einen Kuss zu geben. Das muss eine Bützerei gewesen sein, den lieben Tag lang. Denn der Markt war stets gut besucht. Nie wurden sie einander müde und jetzt sind sie bis zum Gebäudeabriss im Kuss vereint.
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Mon dieu

Ein Bug hat sich in meine Textverarbeitung geschlichen. Jedes Wort wird rot unterkringelt, als wäre es falsch geschrieben. Ich habe im Internet gefunden, wie man den Fehler behebt, habe aber keine Lust oder keine Ruhe für derlei Hantier. Vorsorglich entschuldige ich mich für eventuelle Tipp- oder Schreibfehler. Ob es einen Zusammenhang mit einem anderen Phänomen gibt? Jedesmal, wenn ich den Artikel „die“ schreibe, macht die Autokorrektur „dieu“ daraus. Das heißt, ich Atheist rufe beim Schreiben fortwährend Gott an, was böse Zungen als verzweifelten Hilferuf deuten könnten. Aber Hallo! Falls einer mitliest da oben in der galaktischen Registratur, das ist nicht so gemeint. Ich erbitte beim Schreiben keine göttliche Hilfe. Solange niemand von den TeestübchenbesucherInnen protestiert, versuche ich es aus eigner Kraft. Ich glaube, mit „dieu“ ist nicht Gott gemeint. Eher glaube ich, dass der Bug mich ermuntert, endlich die Schriften des weltberühmten französischen Soziologen Pierre Bourdieu zu lesen. Na gut, bevor ich göttliche Botschaften aus der Bibel empfange, besorge ich mir Schriften von Bourdieu. Wir hören ihm schon mal zu:

Schick nach Drüben – Geh nach Drüben!

Freund Fritz sandte mir eine Postkarte. Sie zeigt in verkleinerter Version ein Plakat des Arbeitskreises „Bücherbrücke West – Ost“ von 1956 mit dem Slogan: „Schick auch ein Buch nach Drüben.“ Dieses „Drüben“ meinte die DDR – in der Diktion der Adenauer-Ära „die Sowjetzone“ oder „die Ostzone.“ Als Ende der 1960-er Jahre in der Bundesrepublik die Jugend gegen die herrschende Politik aufbegehrte und eine außerparlamentarische Opposition formierte, hielt man deren Vertretern gern entgegen: „Geh doch nach drüben!“ Das Plakat schickt einen Bücherpfeil von links unten nach rechts oben in eine für mich imaginäre Welt, denn ich habe dieses Drüben nie gekannt.

Als ich in den 1990-er Jahren erstmals dort zu tun hatte, existierten nur Reste. Beispielsweise war die Altstadt von Görlitz etwa zur Hälfte restauriert. Verfallene Bauten der anderen Hälfte zeigten, wie Drüben wohl zuletzt ausgesehen hatte. Auch habe ich in Berlin noch den Palast der Republik besichtigt. Bei einem späteren Besuch war er bereits abgerissen, ein barbarischer Akt von Siegermentalität. Angeblich war der Palast asbestverseucht, aber dass man ihn nicht sanierte, erinnert an den christlichen Überwindungsgedanken, als im Zuge der Christianisierung alle heidnischen Kultplätze mit christlichen Bauten überformt wurden. Entsprechend finden sich heute auf dem Gelände des Palastes Konsumtempel.

Siegermentalität und Überwindungsgedanke zeigt sich auch beim Duden. Als ich letztens für diesen Text recherchieren wollte, wie der Redaktionsleiter der letzten Ausgabe des Leipziger Duden (DDR) hieß, fand ich im Wikipedia-Eintrag und auch auf der Seite des Duden Verlags keinen Hinweis. Auch das Bibliographische Institut in Leipzig, das den DDR-Duden in 5. Auflage bis 1989 herausgegeben hatte, existiert nicht mehr. Im Jahr 1991 war es dem Mannheimer Lexikonverlag Bibliographisches Institut und der F.A. Brockhaus AG einverleibt worden. Damit war das Ende der 60 Mitarbeiter großen Leipziger Redaktion gekommen. Redaktionsleiter Dieter Baer ging in den Ruhestand. Inzwischen gehört der gesamtdeutsche Duden zur Unternehmensgruppe Cornelsen.

Es war vor der Wiedervereinigung nicht nötig gewesen, einen Mannheimer Duden nach drüben zu schicken, denn auch der Leipziger Duden galt für den gesamten deutschen Sprachraum. Ich bin glücklicher Besitzer des letzten DDR-Duden von 1989. Ein Freund und Kollege hat ihn für mich von einem Berliner Büchermüllhaufen gerettet. Der DDR überdrüssige Bürger haben sich nach der Wiedervereinigung schmählich der DDR-Literatur entledigt. Hätte ich das weinrot eingebundene Buch nicht, wäre der Name Dieter Baer ebenfalls im Orkus der Geschichte verschwunden.