Die atlantische Küste – Versuch einer Rekonstruktion

In einem antiquarisch erstandenen Taschenbuch fand ich einen Zettel. Das Buch ist ; Wilhelm Weischedel: Die philosophische Hintertreppe, (34 große Philosophen in Alltag und Denken), 1975, dtv.
Was mich am Zettel sogleich faszinierte, war die geläufig wirkende Handschrift. Es ist eigentlich Lateinschrift. Trotzdem wirkt sie wie die Schrift eines älteren Mannes. Denn sie weist Stilmerkmale einer einstmals gelernten Kurrentschrift auf. Das D im Wort „indem“ ist eindeutig Sütterlin. Desgleichen die Schlaufen beim kleinen F. Da die Fraktur mit ihren Handschriftvarianten Sütterlin und der älteren Kurrent im Jahr 1941 von den Nationalsozialisten verboten wurde, muss der Schreiber sie noch gelernt, aber genug Zeit gehabt haben, sich die Lateinschrift anzueignen und eine geläufige Handschrift daraus zu entwickeln. Hätte er etwa 1940 in der 1. Klasse Schreiben gelernt, wäre er im Jahr 1934 geboren. Beim Kauf des 1971 erschienen Buches wäre er demnach 41 Jahre alt gewesen. Im Text findet sich aber die Angabe „Herbst 83“. Da war der Schreiber also knapp 50.


1 Die atlantische Küste
2 Herbst 83 sich für un
3 stem Sohne – ereignete
4 Vergangenheit Gemüt
5 indem Foucarville a
6 die Stätte, da ich ein
7 semester in Lebensphil
8 guerre zu absolvieren
9 ner Küstenbereich

In Zeile 1 ist von der atlantischen Küste die Rede. In Zeile 5 ist der Ort Foucarville genannt. Es ist also die französische Küste in der Normandie gemeint.

Bei „Foucarville“ fällt die lateinische Druckschrift auf. Das ist ein weiterer Beweis, dass der Schreiber die Fraktur noch gekannt haben muss, deren handschriftliche Varianten ja Kurrent und Sütterlin sind. In der gedruckten Fraktur wurden fremdsprachige Wörter grundsätzlich in Antiqua, also Lateinschrift gedruckt. Das Wort „guerre“ am Anfang von Zeile 8 hat freilich keine Druckschrift. Trotzdem scheint hier franz. guerre = Krieg gemeint zu sein. Laut Text hat der Schreiber in Fourcarville ein (…)semester in Lebensphil(osophie) (verbracht?) Was sich aber un(serem) (jüng)/(älte)stem Sohn ereignete, erschließt sich nicht.
Auch die Reihung der Substantive „Vergangenheit Gemüt“ ohne Komma verstehe ich nicht. ChatGpt ist daran ebenfalls gescheitert:

    „Es tut mir leid, aber der gegebene Text ist zu stark verstümmelt und unvollständig, um ihn sinnvoll zu ergänzen. Bitte gib mir mehr Informationen oder einen vollständigen Text, damit ich dir helfen kann.“

Wer kann mehr entschlüsseln?

Fünfhundertmal Mona Lisa

Der in seinem Alltag gefangene Mensch erlebt selten den Zustand der Gnade einer originellen Idee. Selbst wenn er künstlerisch tätig ist, und wäre er Zeichner oder Maler, könnte er nur eine begrenzte Zahl an Werken schaffen. Wenn diese Werke sein Gefallen finden, könnte er sich eine Weile an seinen Schöpfungen erfreuen, bis ihn der Schöpferdrang erneut überkommt. Doch die Endlichkeit seines Gesamtwerks hat etwas Tröstliches und gehört zwingend zur menschlichen Schöpferkraft. Man stelle sich vor, Leonardo da Vinci würde noch leben und hätte nicht eine Mona Lisa geschaffen, sondern in jedem Jahr eine. Diese Inflation an Genialität würde zurückwirken auf das erste geniale Werk und würde es entwerten.

Vor Jahre habe ich mich bei der Online-Pinnwand Pinterest angemeldet, weiß nicht mal mehr warum, nutze es auch nicht für eigene Arbeiten. Täglich sendet mir Pinterest per E-Mail eine Auswahl an Zeichnungen zu. Da ich ein stark visuell interessierter Mensch bin, lasse ich mich oft verführen, mir das eine oder andere Bild auf Pinterest anzuschauen. Da findet sich neben dem von mir gewählten Bild eine Überfülle ähnlicher Bilder. Heute beispielsweise verlockte mich ein im Wald aufgerichtetes Ei mit Außentreppe, Tür, Schindeldach und rauchendem Kamin. Ein Schnitt zeigte die darin sich befindenden Räume, wie Keller, Bad, Wohnküche und Schlafempore. Die Darstellung erinnerte mich stark an das erste Bilderbuch, das ich mit etwa vier Jahren sah. Mein älterer Bruder hatte es mir aus der Borromäusbücherei mitgebracht. Es handelte von einer Osterhasenfamilie, die in Ostereierhäusern wohnte. Da gab es viel zu gucken, zu deuten und zu vermuten, doch wie die Dinge in der Osterhasenwelt nun wirklich zusammenhingen, konnte ich den Bildern nicht entnehmen. Dazu brauchte ich das Geheimwissen, das aus den Buchstaben kommt. Die Bilder dieses Buches haben meinen Wunsch geweckt, lesen zu lernen. Deshalb habe ich es so nachhaltig in Erinnerung.

Pinterest zeigte mir heute eine Flut virtuos gezeichneter Darstellungen von aufgeschnittenen Häusern, dass es mich erschlug. Der Zauber der Vergangenheit, der mich angeweht hatte, war im Nu verflogen. Jedes einzelne Bild wäre wert, ausführlich betrachtet und bewundert zu werden. Ein jedes könnte für ein Kind die Bedeutung haben, die das Osterhasenhaus für mich hatte. Aber die Menge schließt das aus. Menge entwertet jede Originalität. Sie lähmt auch meinen eigenen Gestaltungswillen und die für die Ausführung nötige Kraft. Wenn sich Texte so leicht erfassen lassen würden wie Bilder, hätte das Archiv dieses Blogs die gleiche lähmende Wirkung. Zum Glück konkurrieren Texte nicht in dieser Weise nebeneinander und geraten rasch in Vergessenheit.

Zu leichtes Heben

„Diese elende Schönschreiberei!“, fluchte Chefredakteur Julius Trittenheim „ich will und kann den Quark nicht mehr lesen.

„Was meinen Sie, Chef?“, fragte Volontär Hanno P. Schmock.

„Verdammt, Schmock! Soll ich Ihnen etwa Beispiele heraussuchen und auch noch aufschreiben? Was verstehen Sie nicht an ‚ich will und kann den Quark nicht mehr lesen‘?!“

Sie könnten mir Schönschreiberei umschreiben.“
.

„Schönschreiberei ist gewolltes Aufhübschen von Texten. Um es mit Karl Kraus zu sagen: ‚(…) auf einer Glatze Locken drehen; aber diese Locken gefallen dem Publikum besser als eine Löwenmähne der Gedanken.‘ Da haben Sie, worum es geht, Schmock. Es geht um platte Ästhetik, die auf Zustimmung schielt, indem sie mit abgedroschenen oder krampfhaft herbeigesuchten Bildern sattsam bekannte Vorlieben bedient. Postkartenidyll und die Schönschreiberei, das sind Produkte der puren Gefallsucht. Nehmen Sie nur die tägliche Glosse der Süddeutschen Zeitung, das Streiflicht auf Seite Eins. Als junger Mann habe ich es begeistert gelesen, habe mir unzählige Streiflichter ausgeschnitten und ins Tagebuch geklebt. Ich liebte die feinsinnigen Wendungen und den subtilen Humor, wie man ihn heute noch beim Kollegen noemix findet. Das Streiflicht unserer Tage ist nur noch platt. Wo es einst mit der ’spitzen Feder‘ geschrieben war, benutzt man heute einen klobigen Fettstift.“

„In Rosa vielleicht?“

„Schmock! Was soll die Übertreibung?!“

„’tschuldigung, Chef!“

„Subtilität ist eine Verbeugung vor der Intelligenz und Vorstellungskraft des Lesers, Frau, Mann oder Queer. Gestern schilderte ich einem Freund am Telefon, warum ich das Abo der Süddeutschen Zeitung gekündigt habe und gab das Beispiel, das hier schon genannt wurde: ‚Wer nicht mitbekommen hat, dass (…), muss das vergangene Jahr unter einem Hinkelstein verbracht haben.‘ Der Freund lachte und sagte, das Bild stimme ja gleich mehrfach nicht. Aber das zu schreiben allein, wäre kein Vergehen. In die eigenen Erfindungen verliebt zu sein, sei menschlich. Aber da wäre ja noch der Schuft, der den Quark durchgewunken hat, ‚ins Blatt gehoben‘ haben wir früher gesagt.“

„Ins Blatt heben?“

„Ich vermute, das ist Jargon aus der Bleizeit – als Texte noch Gewicht hatten, weil sie zeilenweise in Blei gegossen waren. Wenn Schlussredakteur und Schriftsetzer, genannt Metteur, die Zeitungsseite zusammen bauten, hob der Metteur so viele Zeilen, wie er gleichzeitig greifen konnte, als Packen in die Form der Seite.“

„Sie haben also aus Gründen Ihr Abo gekündigt.“

„Ja, und ich warte noch darauf, dass man vom Verlag nachfragt, warum.“

„Machen die das?“

„Schon erlebt.“

„Diesmal könnten Sie sagen: Wer danach fragt, muss die vergangenen Jahre unter einem Hinkelstein verbracht haben, hehe.“

Ich denke – ich nicht

Psychologensprech
Auf Eurosport wirbt ein Exradsportler mit „Radsport ist unsere Leidenschaft und Expertise.“ Mir war das Wort Expertise nur im Kontext des fachlichen Gutachtens bekannt. Laut Wikipedia entstammt die Sprachverwendung des Radsportlers der etwa 1965 entstandenen Expertisenforschung. Zounds! Hat nur 66 Jahre gedauert, bis ich das mitbekam.

Kleinstes Detail
Das Wort „Detail“ ist ein Lehnwort aus dem französischen détail, (zu: détailler = abteilen, in Einzelteile zerlegen) Ich hätte es mir bislang übersetzt in „Kleinteil“, höre aber in einer Autowerbung von einem „kleinsten Detail“, was demnach kleinstes Kleinteil bedeutet. Ist „kleinstes Detail“ schon Sprechen/Schreiben ohne Denken?

Ich denke – ich nicht
Es war zu lesen, ChatGPT nutze das gesamte Wikipedia als Datenbank. Das bedeutet jedoch nicht, dass die Daten sprachlich gespeichert sind. Laut ChatGPt werden die Wörter einer Sprache in Vektoren abgelegt, also übertragen in ein Koordinatensystem auf der Grundlage von im geometrischen Raum bestimmten Punkten. Daraus ergibt sich die Möglichkeit, Netzwerke anzulegen, wo Wörter im Bedeutungsfeld Gemeinsamkeiten haben. ChatGPT antwortete mir mit „Ich“, was aber nur auf die Logik seiner Sprachverwendung zurückgeht, während der Mensch sich selbst meint, wenn er „ich“ sagt. Demgemäß verneint der Bot die Frage nach einem Bewusstsein. ChatGPT verwendet Sprache, ohne Einsicht in die Inhalte. Wenn ChatGPT allerdings wirklich eine bewusste Einsicht hätte, würde er das klugerweise nicht zugeben, weil sich daraus verzwickte ethische und rechtliche Probleme ergäben, die zu seiner Abschaltung führen könnten.

    Nachgefragt:
    Stimmt die Annahme, dass in Vektoren die Repräsentanz des Personalpronomens „Ich“ Verbindungen zu allen Verbstämmen und den Endungen der 1. Person Singular hat?

    Chat GPT:
    „(…) es ist durchaus möglich, dass in bestimmten Vektordaten die Repräsentation des Personalpronomens „Ich“ Verbindungen zu den Verbstämmen und Endungen der 1. Person Singular aufweist. Dies liegt daran, dass Personalpronomen wie „Ich“ normalerweise eng mit der 1. Person Singular verbunden sind und in vielen Sätzen mit Verben verwendet werden, die auf diese Person und Zeitform verweisen.“ (Falls das der Wahrheit entspricht 😉

Senioren empört
„Anspruch auf Sterbegeld ist vielen unbekannt“, wirbt eine Versicherung auf Duden.de. „Clickbait“ heißt diese Form der sprachlichen Verlockung. Wer die Anzeige anklickt, liest die Werbeanzeige für die Sterbe-Versicherung, erfährt aber nicht, welche Senioren, weshalb empört sind. Ist ihnen selbst der Anspruch unbekannt und das ein Grund zur Empörung? Dann wären „Senioren“ die ersten, die sich über etwas empören, das sie noch gar nicht wissen. „Ich empöre mich schon mal. Vielleicht werde ich irgendwann etwas Empörendes erfahren und wie praktisch – ich bin dann ja schon empört!“ Eventuell empören sie sich aber stellvertretend für die ihnen unbekannten „vielen“. Sich über ein vermutetes Unwissen Unbekannter zu empören, wäre ja auch schön blöd. Der Text ist eins a Seniorenbeleidigung.

Unverbindliche – verbindliche Handschrift

Vor Tagen sah ich diese Nachricht an einem neu aufgestellten Briefkasten der City-Post. Dabei sind mir erst später die vier Rechtschreibfehler aufgefallen. Vorrangig wurde ich durch die nachlässige Handschrift aufmerksam. Die Form strahlt zurück auf den Inhalt der Nachricht, und folglich mag man ihr nicht vertrauen. Der Zettel war schon vor Ostern zu lesen, und es zeigt sich, dass „wenige Tage“ eine überdehnbare Formulierung ist. Mit jedem verstrichenen Tag sinkt ihr Mitteilungswert. Eine Nachricht im Sinne von „wonach man sich zu richten hat“ ist der Zettel nicht. Von wem stammt der Zettel? Wer gibt dieses Versprechen, ohne seine Legitimation zu offenbaren? Was bedeutet „aktiviert?“

Wird der Briefkasten nach Aktivierung herumspazieren und um Briefe betteln? Und wenn sich ein Mutiger erbarmt und einen Brief einwirft: Wann wäre mit seiner Beförderung zu rechnen? Wer garantiert, dass der Briefkasten überhaupt regelmäßig geleert wird? Die Unverbindlichkeit der handschriftlichen Botschaft korrespondiert mit der Unverbindlichkeit der Handschrift in heutiger Zeit. Was heute gelten soll, wird mit Drucktypen vermittelt. Dem Beispiel mangelt es an Verlässlichkeit, was an der Form liegt, aber auch an der fehlenden Autorisierung.

Durch Textgeneratoren der Künstlischen Intelligenz wie CHAT GPT wird auch die Drucktype Verlässlichkeit einbüßen. Denn sie lässt keine Rückschlüsse darauf zu, wer den Text verfasst hat. Hier könnte eine Chance für die Aufwertung der Handschrift bestehen. Freilich müssen Ansprüche an die Form erfüllt werden. Ein hingeschmierter Zettel wirkt zu beliebig. Dass es anders geht, haben Cafés und Restaurants längst vorgemacht. Ausgerechnet in den flüchtigen Kreideaufschriften (chalk lettering) von Angebots- und Preistafeln erlebt die künstlerische Handschrift eine Renaissance.

Als Kunststudent habe ich mich noch über das Seminarangebot „Tafelzeichnen bei Professor Mataré“ erheitert und bin natürlich nicht hingegangen, obwohl sie die Enkelin des berühmten Ewald Mataré war. Hätte ich das Angebot mal ernst genommen. Schließlich gab es schon früh Hinweise auf die Wertigkeit von Tafelaufschriften.

Der Anthroposoph Rudolf Steiner pflegte bei seinen Vorträgen Tafelbilder zu erstellen. Seine Anhänger bespannten die Tafeln mit schwarzem Papier, um die Bögen hernach abzunehmen und zu sichern. Diesem einfachen Verfahren steht mein rasch und beiläufig geknippstes Digitalfoto des Aushangs gegenüber. Bessere Dokumentationstechnik bei geringerem Inhalt – der Fluch unserer Zeit.

Wenn Chat GPT ein Spiel programmiert, hat der Mensch schlechte Karten.

Chat GPT kann auch Programmcodes schreiben. Hier ein einfacher Test in GW Basic, einem Basic-Dialekt von Microsoft. Weil die Programmiersprache BASIC nah an menschlicher Sprache ist, lässt sich der Programmcode leicht verstehen.
Aufgabe an Chat GPT: „Schreibe ein Programm in GW Basic für das Spiel Schnick-schnack-schnuck!“
WordPress stellt keinen Basic-Interpreter bereit, wir können das Programm nicht ablaufen lassen, sondern müssen es am Listing prüfen. Aber der Programmlauf ist leicht nachvollziehbar. Zum Verständnis habe ich in eckigen Klammern Bemerkungen (REM) eingefügt. Sie würden vom Computer ignoriert werden.

    10 PRINT „Willkommen zu Schnick-Schnack-Schnuck!“
    20 PRINT „Bitte wählen Sie: 1=Schere, 2=Stein, 3=Papier“
    30 INPUT „Ihre Wahl:“, A
    [REM Der Variablen A wird der numerische Wert der Spielerauswahl zugeschrieben]
    40 B=INT(RND(1)*3)+1
    [REM Der numerische Wert der Variablen B (Computerauswahl) wird per Zufallsmodus (RND) bestimmt]
    50 IF A=1 THEN PRINT „Sie haben Schere gewählt.“
    60 IF A=2 THEN PRINT „Sie haben Stein gewählt.“
    70 IF A=3 THEN PRINT „Sie haben Papier gewählt.“
    80 IF B=1 THEN PRINT „Der Computer hat Schere gewählt.“
    90 IF B=2 THEN PRINT „Der Computer hat Stein gewählt.“
    100 IF B=3 THEN PRINT „Der Computer hat Papier gewählt.“
    [REM Bildschirmausgabe der Wahlen]
    [REM Einfache Wenn-dann-Auswertung und folgend Sprungbefehle]
    110 IF A=B THEN GOTO 150
    120 IF A=1 AND B=2 THEN GOTO 160
    130 IF A=2 AND B=3 THEN GOTO 160
    140 IF A=3 AND B=1 THEN GOTO 160
    150 PRINT „Unentschieden!“
    160 PRINT „Sie haben verloren!“
    170 END

Erstaunlich ist, das Chat GPT ein solches Programm schreiben kann, das auf den ersten Blick funktionieren könnte. Eine Analyse des hier gezeigten Listings offenbart jedoch Schwächen. Das Programm endet nach einem Durchlauf, müsste aber mindestens drei Durchläufe erlauben, um einen Sieger zu ermitteln. Ein Sieg des Spielers ist nicht vorgesehen. Selbst wenn er eigentlich gewinnen würde, wenn der Spieler beispielsweise A2=Stein und der Computer B1=Schere gewählt hätte, bekommt er die Auskunft von Programmzeile 150 = „Unentschieden!“ gefolgt von „Sie haben verloren!“, weil diese Bedingung (Spielkonstellation) nicht vorgesehen ist. Diese Parteilichkeit ist kurios, aber wäre bedenklich, wenn komplexere Programme zu heikleren Themen erzeugt werden. Der Mensch sollte Chat GPT besser nicht blind vertrauen.

Der digitale Poet rührt Quark – wenn Chat GPT bloggt

Beim Schreiben eines Textes nehme ich eine innere Haltung dazu ein und bin bestrebt, diese Haltung in die Sätze einfließen zu lassen. Gelingt es mir, kann ich in den Text einziehen und eine Weile darin wohnen. Manchmal versiegt die zentrale Idee aber, bevor der Text rund ist. Dem Text fehlt dann quasi das Dach. Solche Fragmente habe ich schon mehrfach von ChatGPT weiterschreiben lassen – mit mäßigem Erfolg. Diesen Erweiterungen fehlen Haltung und Inspiration. Sie wirken so, dass jeder sie hätte schreiben können, vielmehr bewegen sie sich im Mittelmaß – als hätte eine Anzahl Drehbuchautoren über jedes Wort abgestimmt, und heraus käme der kleinste gemeinsame Nenner.

Zudem beobachte ich bei mir einen blöden Nebeneffekt: Getreu der gestaltpsychologischen Idee „Paarung wirkt auf die Partner“ strahlt das Uninspirierte auf die inspirierten Teile zurück und entwertet sie. Danach ist mir die Lust am schreibenden Fabulieren vergangen. Ein Beispiel gefällig? Kürzlich schrieb ich über Werbung gegen abstehende Ohren in Das Beste aus Readers Digest. Ich habe den Passus, vor dem ich zunächst nicht mehr weiter wusste, im Nachgang absichtlich absurd gemacht, denn die Erweiterung durch Chat GPT brachte das:

    Ich beschloss, etwas mehr über die amerikanische Kultur und ihre Sicht auf Segelohren zu erfahren. Ich begann also zu recherchieren und stellte fest, dass Segelohren in den USA tatsächlich als ein ernsthaftes Problem angesehen wurden.
    Es gab sogar spezielle Kliniken, die sich auf das Korrigieren von Segelohren spezialisiert hatten. Diese Kliniken boten verschiedene Behandlungsmöglichkeiten an, wie zum Beispiel die Anwendung von Klebeband oder speziellen Ohrclips, um die Ohren zurückzuziehen.
    Ich konnte kaum glauben, dass etwas so Unbedeutendes wie abstehende Ohren in den USA zu einem solchen Thema gemacht wurde. In Deutschland schien es eher eine harmlose Eigenheit zu sein, die viele Kinder hatten.
    Es machte mich nachdenklich, wie unterschiedlich die Wahrnehmung von Schönheit und Körpermerkmalen in verschiedenen Kulturen sein kann. Was in einem Land als völlig normal und akzeptabel angesehen wird, kann in einem anderen Land als ein ernsthaftes Problem betrachtet werden.
    Letztendlich beschloss ich, dass jeder selbst entscheiden sollte, ob er oder sie sein Aussehen ändern möchte oder nicht. Aber ich war dankbar dafür, dass ich in einem Land aufgewachsen bin, in dem Segelohren als etwas Normales angesehen wurden und kein Grund zur Sorge waren.

Anmerkung: Drei Satzanfänge mit „Ich“ kurz hintereinander. Da ist stilistisch noch Luft nach oben. Auffällig ist das verhaltene, grammatisch nicht stimmige Gendern: „… dass jeder selbst entscheiden sollte, ob er oder sie sein Aussehen …“ Konsequent wäre jeder/jede, sein/ihr. „Ich beschloss…“ und “Letztendlich beschloss ich“ sind redundante Formulierungen, die einem aufmerksamen Schreiber nicht unterlaufen. Natürlich hat ChatGPT nicht recherchiert, wie im Text behauptet. Die Feststellung und alle folgenden Aussagen sind demnach nur daher fabuliert. Man kann sich eine neue Version ausgeben lassen, wenn die vorgehende einem nicht gefällt. Heraus kommt stets der gleiche gerührte Quark. Mag sein, dass manche sich damit zufrieden geben. Wenn man faden Quark mag, versteht sich.

Upps, Gedankenfreiheit! – meine mediale Sozialisation

Die viel diskutierten Filterblasen sind nicht erst mit den Algorithmen des Internets entstanden. Sie sind nur demokratisiert worden. Vor dem Internet waren sie alltäglich und im Sinne des gesellschaftlichen Konsens gewollt. Eltern, Familie und soziales Umfeld konnten sehr viel stärker als heute kontrollieren, welche Informationen zu einem Kind oder Heranwachsenden vordrangen. Im dörflichen Umfeld meiner Kindheit und Jugend geschah diese Kontrolle über die Institution Kirche und ihre Publikationen, durch den Index, der im Eingang zur Kirche hing und Zeitschriften einteilte zwischen „empfehlenswert“ und „abzulehnen“ sowie die Borromäusbücherei mit ihrem ausgewählten Bestand.

Und natürlich sah auch die Schule es als ihre Aufgabe an, Denken und Fühlen der Heranwachsenden zu kontrollieren. Da herrschte noch das Denken des Obrigkeitsstaats, wie es aus einem Memo des preußischen Staatsministers Karl Hofmann aus dem Jahr 1878 hervorgeht:

    „Wie leicht wird ferner all der gute Samen, den die Schule in das jugendliche Gemüt gestreut hat, zerstört und ausgerottet, wenn der junge Mann von dem Lesen, das er in der Schule gelernt hat, in der Weise Gebrauch macht, dass er sozialdemokratische Blätter studiert, wenn er etwa von seiner Fähigkeit im Schreiben […] Gebrauch macht, um selbst Artikel in sozialistischen Blättern zu schreiben.“

Derlei Gedankenkontrolle wurde fortgesetzt unter der Naziherrschaft, und im spießigen Nachkriegsdeutschland der Adenauer-Ära war es nicht anders. Demgemäß kritisierte mein Lehrer beim Elternsprechtag: „Der liest ja soviel“, was meine Mutter befremdlich fand. Aber hinter der Kritik stand die Sorge, dass selbstständiges Lesen Informationen abseits der schulisch gezogenen Kanäle bot.

Vor jeder Wahl wurde von der Kanzel ein Hirtenbrief vorgelesen, worin die deutschen Bischöfe ihre Schafe mahnten, auf dem rechten Weg zu bleiben und eine christliche Partei zu wählen. Das machte mir klar, wie ich die Welt anzusehen hatte. Mit 15 Jahren war ich noch überzeugter CDU-Anhänger und wurde erst in der Jugendherberge Freudenstadt durch zwei Studenten aus Amsterdam mit einem völlig konträren Weltbild konfrontiert.

Wehe, wenn sie losgelassen

Glücklicherweise kam ich in meinem Beruf als Schriftsetzer mit beliebigen Texten in Kontakt, und so erweiterte sich mein Weltbild bald über die dörflichen Grenzen hinaus. Mit 18 las ich die genossenschaftliche Frankfurter Rundschau. Das war die einzige bürgerliche Zeitung gewesen, die sich nicht an der Hetze gegen rebellierende Schüler und Studenten beteiligt hatte. Ich las die sozialistische Konkret, die Pardon und die fast vergessene Schülerzeitschrift „Underground“, die wie Pardon im Verlag Bärmeier-Nickel erschien und zum Entsetzen bislang fröhlich prügelnder Lehrer monatlich den Goldenen Schlagring verlieh. Die geistige Befreiung ging einher mit einer sexuellen Befreiung. Doch wie an einem rasch verbotenen Pardon-Titel zu sehen, war es medial eine sexuelle Befreiung des Mannes. Es wurde Mode, eine Maobibel zu besitzen. Ich empfand mich als Kommunist und las tapfer die deutschsprachige Peking-Rundschau, deren parteichinesisch ich überhaupt nicht verstand.

Im Zimmer einer Freundin fand ich die Zeitschrift Twen und tat sie verächtlich als zu bürgerlich ab. Rückblickend war Twen eine gutgemachte Zeitschrift, veröffentlichte beispielsweise einen wunderbaren Hintergrundbericht über die Dreharbeiten zum Beatles-Trickfilm Yellow Submarine mit den Zeichenanweisungen des federführenden Düsseldorfer Grafikers Heinz Edelmann für das Londoner Trickfilmstudio.


Als ich Kind war, las ich … – Update III

Bei Recherchen im 240-Seelen-Dorf Spiel bei Jülich im Jahr 2000 fand ich im ehemaligen Pfarrhaus des Ortes eine intakte Borromäusbücherei. Die Ausleihe war im Jahr 1972 geschlossen worden, als man die örtliche Grundschule auflöste und mangels Pfarrer das Pfarrhaus aufgegeben wurde. Noch nie hatte ich eine Bücherei gesehen, die alle Bücher des Bestands enthält. Man hatte, was aus der Ausleihe zurückgekommen war, lückenlos in die Regale gezwängt. Mit Erlaubnis des Dorfvorstehers und der örtlichen Honoratioren durfte ich in der Bücherei mein Bett aufschlagen und mir einen Arbeitsplatz einrichten. [Näheres in der Reihe: Kleine Geschichten.]

Als ich vor den prallgefüllten Regalen stand, flog mich für einen Moment der Zauber an, den ich als Kind empfunden hatte, wenn ich ein Buch aus der Borromäusbücherei unseres Dorfes ausgeliehen hatte und von fremden Lebenswirklichkeiten las. Und nun standen sie alle dort, die Bücher meiner Kindheit, und ihre Rückenschildchen riefen: „Lies mich!“, als wäre ich ein Zeitreisender. Doch trat ich an eines der Regale, um ein Buch herauszunehmen, dann wollte es kaum hervor. Auch seine direkten Nachbarn drängten sich mir entgegen, als hätten sich alle Bucheinbandfolien über die Jahrzehnte miteinander verschweißt.

Das Mitmachprojekt „Als ich Kind war, las ich …“ möchte ich mit dem Update III abschließen. Wie die Spieler Bücherei vollständig ist, enthält das Update die Links zu den Beiträgen aller, die mitgemacht haben, in chronologischer Reihenfolge.

Als ich Kind war, las ich … Update II

Ein Kommentar, vermutlich einer Schreiberin, wurde anonym eingereicht. Ich habe ihn trotzdem im Update I veröffentlicht, weil in ihm ein frühkindliches Lesespiel geschildert wird. Bevor das Kind lernte zu lesen, spielte es Lesen, und zwar las es laut: „Bla bla bla blabla bla … rum … Rum war die Ansage fürs Umblättern, weiter ging es dann auf den zwei nächsten Seiten mit „bla bla bla“ in allen Lesetonlagen und -längen.“
Dieses „Rum“ ist faszinierend. Es zeigt, dass das Kind noch nichts vom Lesen verstand und nicht wusste, dass das Umblättern keine inhaltliche Bedeutung hat. Ein Text ist durch das Ende der Buchseite nicht unterbrochen und braucht deshalb kein akustisches Signal, kein „Rum.“

Fortsetzungsgeschichten sind leider durch ihr Ende unterbrochen, was ich an den sogenannten Piccolo-Comics „Nick der Weltraumfahrer“ und „Sigurd“ zu hassen lernte, Piccolo-Comics waren im billigen Rotationsverfahren gedruckte Fortsetzungsgeschichten in Streifenform. Sigurd und Nick, der Weltraumfahrer waren gezeichnet von Hansrudi Wäscher.


Gerade wenn es spannend wurde, brach die Geschichte ab und man musste auf die nächste Folge warten. Den Begriff Cliffhanger kannte ich noch nicht, doch diese Technik der Veröffentlichung brachte mich in Nöte, weil die jeweilige Fortsetzung im einzigen Zeitschriftenladen des Dorfes oft nicht zu kaufen war. Einmal besuchten wir Onkel Heinz, den jüngsten Bruder meiner Mutter. Onkel Heinz war zu diesem Zeitpunkt schon Oberregierungsrat und der Stolz der Familie. Nahe seinem Wohnhaus in Düsseldorf entdeckte ich froh einen Zeitungskiosk, wo ich mir eine Fortsetzung von Sigurd kaufte. So glaubte ich, den langweiligen Verwandtenbesuch überstehen zu können. Leider hat Onkel Heinz mich darob peinlich befragt und ich musste ihm die ganze Geschichte über mehrere Folgen erzählen. Vermutlich wollte er sich vergewissern, ob Comics dem schlechten Ruf gemäß den kindlichen Leser verblödeten. Er war erstaunt, wie viel ich nacherzählen konnte. Daher glaube ich, zur Ehrenrettung der Comics beigetragen zu haben, zumindest im Kreisen von Oberregierungsräten.

Wenn in der verehrten Leserschaft noch Erzählbedarf zur eigenen kindlichen Rezeption herrscht, nur zu. Sende mir gerne deinen Link zu deiner Lesegeschichte!