Gekritzelt – Das unperfekte Foto

Wer ich eigentlich bin

„Ich muss irgendwann mal begreifen, wer ich eigentlich bin“, sagte der inzwischen verstorbene Maler Arno Rink in der arte-Dokumentation: „Der Maler Arno Rink – Wegbereiter der Leipziger Schule“, und ich dachte, ja wer wohl? Der Maler Arno Rink – Wegbereiter der Leipziger Schule, oder sollte arte uns anlügen? Wieder so ein Fall, wo ich spontan weggezappt habe und mir den Beitrag nachträglich in der Mediathek aufsuchen musste.

Ein erstaunliches neues Wort

Bei Rewe der übliche Andrang vor einem Feiertag. Plötzlich hektisches Rufen an den Kassen. Ich frage meine Lieblingskassiererin: „Was macht denn der Kollege da für ein Theater?“ Sie rollt die Augen: „Das ist der Kassenchef.“ Kassenchef, ich hätte nicht gedacht, dass es so etwas gibt.

Onomatopoesie

Die ganze Zeit, als ich unterwegs war, sah es aus, als wollte es regnen. Gerade die richtige Stimmung für den Gesang der Amsel. Der geht laut Wikipedia so: „dackderrigigigi duck duck.“ Das anhaltende Singen der Amseln, von den Dächern und im Van-Alten-Garten ließ mich nachdenken über die kölsche Bezeichnung Määl für Amsel. Sie ist wohl eine Form des Französischen merle; Lateinisch Turdus merula dürfte der Määl den Weg bereitet haben.
„Wird eine Feder aus dem rechten Flügel mit einem roten Faden aufgehängt, so können die Hausbewohner keinen Schlaf finden“, weiß das Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens. Der kunstfertige Mensch. der das komplizierte Verfahren herausgefunden hat, könnte auch den Amselgesang mit „dackderrigigigi duck duck“ ins Deutsche übersetzt haben.

Erleuchtung beim Einnässen

Viel gelacht wurde bei uns im Dorf über einen Jungen namens Peter Reinartz, vor allem über die Erleuchtung, die er in einem Zeltlager gehabt hatte, derweil er sein Bett einnässte. Während er schlief, hatten böse Buben ihm die Hand in eine Schüssel kalten Wassers gesteckt. Da schrak er auf, ohne wach zu werden. Man fragte: Pitter, was hast du?“
„Ich muss rühren!“
„Warum musst du rühren?“
„Der liebe Gott ist an allem Schuld.“

Langweilige Perfektion

Eine aussterbende Gattung: Das unperfekte Foto – Foto: JvdL (größer: Bitte klicken)

Schon oft habe ich den perfekten Augenblick für ein Foto verpasst wie hier. Ich saß an der Maschseepromenade und sah eine Gruppe um eine Frau im Brautkleid herankommen. Als ich die Kamera hervorgeholt hatte, waren Beine und Füße der Gruppe von einer blöden Bank verdeckt. Natürlich könnte ich die Bank mit etwas Geduld und Photoshop wegmontieren. Gewiss gibt es Software, die das noch erleichtern würde. Andererseits, was wäre das für eine sterile Welt, wollte man nichts Unperfektes mehr gelten lassen?

Was das Vöglein mir gesungen hat

Was für ein Gezwitscher wieder heute Morgen. Einer der sogenannten Singvögel machte nicht fünf Sekunden Pause zwischen seinem Tiriliere. Das lässt mich über Sinn und Form nachdenken. Kurios, dass der Mensch alle zwitschernden Vögel Singvögel nennt. Dabei geht es denen nicht um Gesang, nicht um eine künstlerische Übung. Dem Vöglein geht es darum, das eigene Revier abzustecken. Soweit sein Schall trägt, so groß ist sein Revier. Ein akustisches Signal zur Revierbegrenzung ist nicht sonderlich effektiv. Ist es verklungen, ist die Reviermarke nicht mehr existent. Darum auch die Wiederholungen. Die Marke muss ständig erneuert werden.

Ich bin kein Ornithologe, leite das nur logisch her: Die Geschwindigkeit, mit der ein potentieller Rivale ein akustisch begrenztes Revier queren könnte bis zum Signalgeber, bestimmt das Intervall. Rivalen werden durch das akustische Signal abgeschreckt und Weibchen angelockt. Der lauteste Sänger ist vermutlich im Vorteil, denn die Größe des Revier wird durch die Lautstärke festgelegt. Ein großes Revier garantiert genügend Nahrung für die junge Brut, weshalb der lauteste Schreier am ehesten ein Weibchen anlocken kann. So geht es seit den Zeiten unsere Vorväter.

Wie haben unsere bäuerlichen Vorväter ihr Revier abgesteckt? Gab auch hier die Rufweite den Ausschlag? Mussten sie rufen: „HIER IST MEIN HAUS UND LAND!“, immer wieder, bis zur völligen Ermattung? Nein, aber Reviere wurden wie bei den Vögeln in Abhängigkeit von Körperkraft ermittelt. Bei den Germanen gab es den Rechtsbrauch des Hammerwurfs. Wie neues Land zu verteilen war, etwa das einer gerade gerodeten Lichtung, wurde durch Hammerwurf entschieden. Nicht die Stimmkraft war die Bemessungsgrundlage, sondern die Muskelkraft im Arm. So weit einer den Hammer werfen konnte, so viel Land würde er auch beackern können mit seinen Leuten. Damit der Hammerwurf nicht täglich wiederholt werden musste, wurde er dauerhaft dokumentiert, indem Grenzsteine gesetzt wurden. Wie konnte man derlei Grenzsteine gegen heimliche Verstetzung absichern?

Wenn die ripuarischen Franken eine Grenze festlegen wollten, nahmen sie einen Knaben mit. Und war der Grenzstein gut in der Erde, verabreichten sie dem Jungen schallende Ohrfeigen oder zogen kräftig an seinem Ohr. So würde er sich noch im hohen Alter an die Stelle erinnern und den Grenzverlauf bezeugen können. Das Wort „Zeuge“ stammt daher; der Zeuge wurde am Ohr gezogen.

Die Außengrenzen eines Dorfes wurden durch die jährliche Flurbegehung kontrolliert, was vermutlich rituellen Charakter hatte und bei der Christianisierung Germaniens übernommen wurde und seit dem Jahr 800 zur katholischen Liturgie gehört. Ich habe als Messdiener noch in jüngster Zeit an solchen Flurprozessionen teilgenommen, bei denen man zwischen Ostern und Pfingsten frühmorgends über die Felder zog. Die dabei gebeteten Litaneien hatten einerseits den Zweck der Fürbitten, man beschwor Gottes Segen für gute Ernten, andererseits konnten mit den Längen der Litaneien auch Entfernungen gemessen werden, was erst zu Zeiten von Landvermessung und Grundbüchern in Katasterämtern unnötig geworden ist.

Während das Vöglein unermüdlich tiriliert, muss ich an Gottfried Kellers herzzerreißende Novelle Romeo und Julia auf dem Dorfe denken, worin zwei befreundete Bauern über ein Stück Brachland zwischen ihren Äckern in Streit geraten und zu erbitterten Feinden werden, weshalb ihre Kinder, Sali und Vrenchen, ihr Liebe nicht ausleben können und gemeinsam in den Tod gehen.

Die volle Wahrheit über Teestübchen-Chefredakteur Julius Trittenheim

Dienstagmorgen kurz vor der Teestübchen-Redaktionskonfernenz. „Wo hat der Chef seinen ersten Text veröffentlicht?“, fragt Redaktionsasisstentin Marion Erlenberg ungläubig und vergisst glatt, den Mund zu schließen. „Im Stadtmagazin von Würselen!“, grinst Volontär Schmock. „Von wegen Titanic oder Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung. Kartoffeldruck! Hier, ich habe es schwarz auf weiß!“ Er knallt ihr ein aufgeschlagenes, schon etwas zerfleddertes Heft auf den Tisch und wispert: „Eine Reportage über die Realschule Würselen, Sie wissen schon, Frau Erlenberg, wo die berühmte Krankenschwester und der legendäre Feuerwehrmann von Martin Schulz zur Schule gegangen sind, genauer über deren Fahrradkeller; hihi! Tippen Sie den mal ab, dann mogele ich ihn ins Teestübchen, wenn der Chef zum Mittagstisch ist!“
Gesagt, getan:

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Zeitsprünge im Zyklus

Es gibt einige Romane, die ich mehrmals gelesen habe, denn in einer langen Biographie als Leser kann man schon mal vergessen, was sich zwischen den Buchdeckeln befindet. Ein Buch, das man als Mittdreißiger gelesen hat, liest man 30 Jahre später wie neu und natürlich auch mit einem anderen Verständnis. »Du steigst nicht zweimal in denselben Fluss«, sagt schon Heraklit. Sowohl man selbst hat sich verändert als auch der Fluss, der beständig aus anderen Wassern besteht und nur durch seinen Namen, sein Bett und seinen Verlauf definiert ist.

Dass ein Buch sich ständig neu schriebe, dass es zwar weiterhin Buchstaben und Wörter in der gleichen Typografie enthielte, dass aber stets alles neu gemischt würde, erwarten wir vom gedruckten Buch nicht. Anders als dem digitalen Text mangelt es dem gedruckten an Dynamik. Hier nun schließen sich Überlegungen an, die eigentlich nicht in meiner Absicht lagen, aber sich so nah am Ufer aufhielten, dass sie quasi mitgeschwemmt wurden. Theoretisch, liebe Leserin, lieber Leser, könnte ich den vorliegenden digitalen Text ständig ändern, so dass er beim erneuten Aufrufen einen anderen Inhalt enthielte, beispielsweise Gedanken über den Konjunktiv und die anderen grammatischen Distanzformen des Deutschen. Ich würde einfach Überschrift und den ersten Satz unverändert lassen und darauf vertrauen, dass man nach dem ersten Lesen längst vergessen hätte, was da einst gestanden hat. Allerdings will ich Ihnen das Experiment für heute ersparen. Denn mein eigentliches Thema sollen Wiederholungen des immer Gleichen sein, was wir in unserer kindlichen Naivität offenbar zu sehr lieben, wenn man sich das Programm des deutschen Fernsehens ansieht.

In den 1980-er Jahren zu Zeiten der gedruckten TV-Zeitung wurde hinter den Filmen immer noch die Anzahl der Wiederholungen oder zumindest das Datum der letzten Wiederholung angegeben. Leider wurde dieser nützliche Service eingestellt, vielleicht weil die schiere Anzahl der Wiederholungen kaum noch nachzuvollziehen ist. Namentlich in den dritten Programmen bzw. Spartensendern der Öffentlich-Rechtlichen werden die Folgen beliebter Serien scheinbar willkürlich wiederholt, so dass beispielsweise gestern Abend in der Reihe „Inspektor Barnaby“ auf ZDF-Neo die Folge „Haus voller Hass“ aus dem Jahr 2004 wiederholt wurde, in der man gerade fleißig Weihnachten feierte“, eine befremdliche Erfahrung. Derweil es in der Natur aufs Schönste sprießt und blüht, erklangen im Film die Weihnachtlieder, wurden Weihnachtsbeleuchtungen eingeschaltet und die Leute saßen mit lustigen Hüten um gedeckte Tafeln.

Ob man sich in den Sendeanstalten keine Gedanken darüber macht, wann man einen TV-Film wiederholt? Gibt es Programmplaner oder lässt man einen Affen durch die Archive toben und sendet, was er in seinem Übermut aus den Regalen gerissen hat? Nein, wird man sagen, der Aff hat zwei Tage Urlaub, und die Wahl der Weihnachtsfolge für den 23. April hatte überdies gute Gründe. Sehnen wir uns nicht gerade jetzt zurück in die Weihnachtszeit? Sind uns die ersten Monate nicht viel zu schnell verrauscht? Ist es nicht schön zu wissen, dass die Zeit zwar vorbeirasen mag, Weihnachten 2004 aber immer noch da ist? Es existiert in einer anderen Dimension, wo nämlich die verschiedenen Zustände der Welt nicht linear ablaufen, sondern hübsch nebeneinander in Regalen liegen, wenn nicht gerade der Programmplaner-Affe mal wieder alles durcheinander geworfen hat.

Im Mahlstrom der Zeit

Freitagabend bei Filipe d’accord im Garten erzählte Herr Putzig, er sei noch mal am „Strandleben“ gewesen. Das ist eine mit Sand aufgeschüttete Halbinsel am Zusammenfluss von Leine und Ihme, wo er und Leisetöne während ihres Studiums hinter der Theke der Strandbar die Kunden im von Putzig sogenannten „Theken-Capoeira“ bedient hatten, das heißt, sie wetteiferten in ökonomischen, aber tänzerisch flüssigen Bewegungsabläufen, beispielsweise im Vorbeugen eine dem Kühlschrank entnommene Flasche zu entkorken und gleichzeitig rücklings mit dem Fuß die Kühlschranktür zu schließen.

Die Zeiten des Theken-Capoeira sind vorbei. Die neue Thekencrew weiß nicht mal mehr von Herrn Putzig, was sich ihm darin zeigte, dass ein bedienendes Mädel ihm das Pfandmarkensystem erklärt habe, als er sich eine Flasche Jever holte. Da wurde mir ganz schwermütig bewusst, dass auch das schönste Capoeira nicht den Mahlstrom der Zeit aufhalten kann. Ich bin dann auch bald nach Hause gegangen.

Die Leine im Frühling 2010, im Hintergrund das Strandleben, gesehen von der Dornröschenbrücke – Foto: JvdL

Abenteuer mit Josie

Ich kann mich nicht sattsehen an den Grüntönen vor meinen Fenstern. Der Weißdornbusch ist grün geworden, als die Eiche noch schlief. Nach dem Aufwachen trieb sie zuerst orangefarbene Blätter, die erst langsam über Gelb zu Hellgrün übergingen. Noch immer ist ein Anflug von Orange zu sehen. Als wären noch herbstliche Säfte im Holz gewesen, die damals die Blätter Rotbraun gefärbt haben. Deutlicher zeigt das der Spitzahorn vor dem östlichen Fenster. Seine Blätter beginnen mit Rotbraun, etwas kräftiger als vor ihrem Abfallen im letzten Herbst. Sie werden erst viel später grün.

Vom frühlingshaften Austreiben ungerührt ist meine Zimmerpalme Josie. Ihr gilt eine andere Zeitrechnung. Aber ihr Anblick ist derzeit wieder spektakulär. Wenn ich morgens das Zimmer betrete, erfreut sie mich mit stattlichen Wedeln, mehr noch mit deren Überscheidungen. Es ergeben sich prächtige grafische Strukturen. Das ist es, weshalb ich Zimmerpalmen so liebe. Aus diesem Grund wurden mir schon einige geschenkt. Eine bekam ich von der Klasse, deren Klassenlehrer ich gewesen war. Ich ließ sie zunächst im Lehrerzimmer, wo eine Kollegin mit grünem Daumen sie in ihre Obhut nahm. Selbst in den Ferien fuhr sie zur Schule, um Blumen und meine Palme zu gießen. Sie gedieh so prächtig, dass ich mich gar nicht mehr als der Eigentümer sah. Ich mochte sie auch nicht von ihrem angestammten Platz entfernen, wo sie sich so offenbar wohl fühlte. Irgendwann vergaß ich, dass es meine Palme war.

Meine derzeitige Zimmerpalme schenkte mir Lisette. Das war noch in Aachen. An meinem Geburtstag schaute ich in ungeduldiger Erwartung aus dem Fenster und sah auf der Straße unten, wie Lisette ihr rotes Auto einparkte. Dann stieg sie aus und holte eine stattliche Palme hervor. Ich sehe noch heute, wie ihr rotblonder Haarschopf im Gleichtakt mit den Palmenwedeln wippte, als sie mit der Palme heraneilte. Ich taufte die Palme Josie und entwickelte eine symbiotische Beziehung zu ihr. Meine besseren Texte sind entstanden, nachdem ich Josie angefasst und mit ihr geredet hatte.

Josie 2011

Aus Gründen musste ich mich von Lisette trennen, obschon es war, als würde ich mir einen Arm absägen. Eines Morgens hatte sich Josie in ihrem Topf ganz zur Seite gelegt. Offenbar hatte auch Lisette die Trennung für sich vollzogen. Tags darauf sah ich sie mit einem neuen Mann. Josie erholte sich nur langsam, nachdem ich sie wieder aufgerichtet hatte. Meinen Umzug nach Hannover verkraftete sie gut und wuchs zunächst prächtig.

Beim Schlaganfall im Jahr 2013 war ich linksseitig betroffen. Auch Josie kümmerte linksseitig. Man sagte mir, ich solle sie drehen, aber das brachte ich nicht übers Herz. Mit meiner Genesung erstarkte auch Josie, wuchs zu rechten Seite derart, dass ein Stamm sich neigte und ihre größten Wedel den Boden berührten.

Vor einer Woche habe ich einen größeren Topf besorgt und zusammen mit meiner Putzhilfe und ihrem Freund, der sie hatte herfahren müssen, weil die Verkehrsbetriebe bestreikt wurden, wir drei haben Josie umgetopft, dabei aufgerichtet und an einen in den Topf gesteckten Schlagzeugstock gebunden. Ich dachte schon, sie hätte die Operation überstanden und wäre dabei, sich mit der neuen Situation zurechtzufinden. In der Nacht zum Freitag, in der Stunde des Wolfes, also gegen 4 Uhr morgens, hörte ich einen lauten Knall, dass ich dachte, meiner Obernachbarin wäre ein Ziegelstein aus dem Bett gefallen. Aber ich wunderte mich schon, denn die Sitte, im Backofen erhitzte Steine in klamme Betten zu legen, ist ja mit der Zentralheizung längst überflüssig geworden. Als ich am Morgen ins Wohnzimmer kam, war dann auch kein Stein über mir gefallen. Vielmehr lag Josie am Boden, hatte den Topf mit 25 Zentimetern Durchmesser und zehn Litern zusätzlicher Blumenerde umgerissen.

Daher besorgte ich gestern einen 30-Zentimeter-Topf und setzte Josie aufgerichtet hinein. Aber es fehlte Blumenerde. Josie stand unsicher, und eine lange Wurzel lag frei. Bevor ich weitere Blumenerde besorgen konnte, wurde ich von großer Schwäche geplagt und musste mich zuerst ausruhen, dass ich dachte, etwas in mir spiegelt Josies Situation. Inzwischen steht sie – nicht ganz aufrecht, was ich ohne helfende Hand nicht hinbekam, aber einigermaßen fest. Ganz so wie ich.

Unterstadt (2) – ein erzähl experiment

die leute sagen: geh nicht in der unterstadt! wer hingeht, kommt nie mehr rauf. aber wir vom VIWO, das ist „velocipèdeclub immer weiter oberstadt“ kümmern uns nicht drum. wir gehen ja nicht, wir fahren. wir fahren mit unsere rennmaschinen überall hin, je nach windrichtung. wenn der wind vom süden weht, fahren wir nach süden zu los, damit er uns beim rückweg schiebt. und natürlich ist jeder von uns schon mal am alter kinosaal vorbei gefahren.

hallo? die unterstadt liegt im süden. also fahren wir da auch vorbei und runter. die einzige regel ist, niemals absteigen. wenn wir vom verein einmal losgefahren sind, setzen wir nirgends den fus an den grund. ehrensache! wer mitmachen will in unser verein, muss zuerst eine prüfung machen. muss zeigen, dass er mit eine übersetzung von 42:28 eine steigung von 26 prozent hochfahren kann, ohne vom rad zu fallen. zum ersten mal haben mich die alten kämpen mit in die unterstadt genommen. wir fahren immer in eine grose gruppe zu 15 mann. sind manchmal auch frauen dabei, aber heist ja „allemannhoch“ und nicht „allemannundfrauhoch.“ einer ist immer der wegkapitän. der fährt vorne und bestimmt fahrstrecke und tempo.

als ich zum ersten mal nach unterstadt gefahren bin, war der dicke franz unser wegkapitän. wir fuhren hoch zum kinosaal, ich schön bei hans-günter am hinterrad. aber kurz vor oben konnte ich nicht mehr langsam fahren und habe mich frech an die spitze gesetzt. da kam der dicke franz rechts neben mich, hatte einen ganz rotem kopf und schreit: fahr! fahr! ich hab mich total erschreckt und verstanden, ist gefahr und bin wie wild am kinosaal vorbeigefahren. ich flog über die kuppe und bekam den riesenschreck. ich habe mal ein bild gesehen. oben auf eine skisprungschanze steht einer mit sein motorrad und ein hämisch lachender verbrecher hält ihm den colt am kopf, dass er mit dem moped die schanze runter rasen muss. von dem bild ist mir glatt schwindelig geworden und ich musste weggucken, aber hab nicht aufhören können, das bild anzusehen. immer wenn sich der grusel gelegt hat, musste ich wieder hingucken und dachte, gleich rast er runter, kann sein lenker kaum noch halten, aber mus in die spur bleiben bis zur absprungkante, oje, oje oje!

genauso fühlte sich an, als ich am alter kinosaal vorbei über die kuppe geflogen war. GOTT, geht es da steil runter! ich wollte bremsen, aber der dicke franz neben mich schreit mich ins ohr „fahr! fahr!“ wie der verbrecher vom bild mit sein colt. und ich kann nicht sehen wohin. grad als ich dachte, gleich hebst du ab und segelst ins tal, macht die straße ein knick nach links und weiter eine schnurgrade rampe runter. der dicke franz gibt mir ein quackje mit seine linke schulter, dass ich die kurve kriege. puh, geht es steil runter! vernünftige leute bauen da lieber eine treppe, aber nicht die leute von unterstadt. an die rampe wohnt niemand. zu steil für ein haus. aber unten die häuser in unterstadt. schrecklich!

Wird fortgesetzt

unterstadt (1) – ein erzähl experiment

dass die leuten anderswo anders sprechen als wie wir, glaube ich nicht. ich finde auch nichts dabei, dass wir eine ober- und unterstadt haben. und finde gerecht und richtig, dass wir aus der oberstadt auf den leuten in unterstadt immer schon runtergesehen haben. soll man denn auf diesen leuten hinaufschauen? hallo? sie leben doch in unterstadt! aber der weg in die unterstadt ist schon komisch. zuerst führt nämlich die strase steil bergauf.

bergauf in die unterstadt, das kommt mir vor, als hat die oberstadt noch einen schutzwall, dass alle guten leuten sofort sehen pass auf, warnung. gleich geht es runter und zwar tief. geh da nicht weiter! genau an der stelle, wo die straße steil zur unterstadt fällt, liegt rechts den alten kinosaal. seine schaufenstern sind ganz staubig und die tür ist mit bretter zugenagelt. seit er leer steht, habe ich vor den kinosaal noch mehr angst. aber eigentlich kommt die angst noch vom kindergarten her. einmal ist fräulein altenberg mit uns kinder in dem kino gegangen. wir durften einen märchenfilm von die gebrüder grimm sehen. der war ein bisschen gruselig. es ging um einen jungen. der hat immer widerworten gegeben. davon ist er ganz krank geworden und musste sterben. da haben sie dem jungen begraben. aber nach kurzer zeit hat der sein händchen durch die erde gewühlt und hat mit das fingerchen ein widerwort aufgezeigt. die leute im dorf haben die mutter gesagt, sie muss an das grab wache stehen und dem händchen peitschen, bis es aufhört, widerworte zu geben.

bei uns im kino war der karl-heinz grosch. der hat immer quatsch gemacht und laut gelacht, als die mutter dem händchen gepeitscht hat. fräulein altenberg hat gesagt, karl-heinz soll still sein. aber der hat immer weiter gelacht. da ist plötzlich der film ausgegangen und licht ging an. erst hat es laut gestampft, da kam eine gestalt ganz in lumpen auf der bühne. auch das gesicht war lumpen und der mund hat uns angeschreit. wir haben auch geschreit und sind aus der kinosaal rausgelaufen, fräulein altenberg auch. drausen hat sie gesagt, der karl-heinz war schuld, weil er unartig gewesen ist. ich hab gesehen, dass der lumpenmann rote einmachgummis um den beinen hatte, solche gummis hat meine oma auch. das habe ich fräulein altenberg gesagt, und sie ist sehr böse geworden.

(Foto und Grafik: JvdL) Wird fortgesetzt

Unter der Frühlingssonne müde

Auf dem Nachhauseweg nach Mittagessen und Einkauf biege ich ab in den Von-Alten-Garten, wo die Sonnenhungrigen schon auf der Wiese liegen. Ich fahre den kleinen seitlichen Weg hoch auf die lange breite Terrasse, um mich auf eine der Bänke zu setzen. Die plötzliche Wärme erschöpft mich. Ah, – ich bin schon ganz platt. Von zwei Seiten, von den nahen Kindergärten höre ich Kindergeschrei. Es ist zu allen Zeiten an allen Orten gleich, zumindest in unserem Kulturkreis. Egal, welches Paar sich vor Jahren gefunden und ein Kind gezeugt hat, egal wie sie heißen, Christine, Sandra, Tanja, Michael, Stefan, Markus, Thomas, Matthias oder deren Kinder Lisa, Julia, Sarah, Laura, Jennifer, Nadine, Daniel, Christian, Patrick, Tobias, Sebastian oder deren Kinder Sophia, Marie, Mia, Emma, Hannah, Alexander, Paul, Luca, Ben, Louis, Leon – alle schrien oder schreien immer den gleichen Klangteppich. Menschengeräusch.

Als Kind habe ich mich vor Kindergeschrei gefürchtet. Wenn wir im heißen Sommer über die Felder zum Freibad nach Grevenbroich radelten, war alles gut, bis wir in die Nähe des Freibads kamen, über dem schon diese Wolke aus Kindergeschrei hing und mir den Himmel verdüsterte. Mehr noch, es drückte das Herz mir ab und am liebsten wäre ich umgekehrt, zurück zwischen die flimmernden Felder über denen nur die Feldlerche ihr eintöniges Lied sang.

Einmal war ich mit Lisette in Hamburg. Wir bestiegen eine dieser flachen Barkassen für eine Hafenrundfahrt. Anfangs waren wir fast alleine, doch kurz vor dem Ablegen stieg eine Schar lärmender Kinder zu. Lisette sah mein Unbehagen und sagte mitfühlend: „Du Armer!“ Ich erinnere mich noch, weil ich mich über ihre Wahrnehmung wunderte, denn ich hatte kein Wort des Missvergnügens gesagt.

Über den Weg quer zur Terrasse kommt ein Paar. Der fette junge Mann ist bis in die äußersten Festwülste hinein ganz eins mit sich und seiner Leibesfülle, die kaum gebändigt unter einem zu engen T-Shirt schwabbelt. Er lügt ihr vor, dass er die Limonadenflasche mitführen muss, um immer wieder einen Schluck zu nehmen, ganz wie der Zentralverband der Zuckerindustrie empfohlen hat. Das habe ich, scheints, erfunden. In Wahrheit deutet er zu der wirklich umfangreichen Buche hin, einem Naturdenkmal, und erklärt was von dick zu dick.

Links von mir spannt sich von einem Bodenanker aus ein Drahtseil in die Krone der Buche, wo es sich verliert. Das Seil ist übermannshoch rot-weiß ummantelt, damit sich keiner daran versehentlich den Hals abschneidet. Einer meiner Schüler kam eines Tages mit einem roten Striemen quer über den Hals daher. Er war mit dem Moped über die Felder gebraust und hatte einen Draht übersehen, der quer über den Weg gespannt war. Zum Glück war der junge Mann Ringer und rang für den TUS Walheim in der Bundesliga. Seine starken Halsmuskeln hatten seine Enthauptung verhindert.

Geschwächt komme ich zu Hause an und verschlafe den halben Flèche Wallonne, obwohl ich mich darauf gefreut hatte, dieses Radrennen über meine alten Trainingsstrecken zu sehen. Anfangs war die Tonleitung zu den flämischen Kommentatoren gut 15 Minuten unterbrochen. Da war wohl einer gegen ein Kabel gelaufen. Und die Techniker des übertragenden wallonischen RTBF machten gerade Mittagspause. Jedenfalls dachte ich, das zeigt sich wieder der typische wallonische Schlendrian, das würde den Flamen vom VRT nicht passieren.

Zum Abschluss der Teestübchen Briefaktion

Mit dem Internet und dem Medium Blog bekam der Mensch die Gelegenheit, seiner real fassbaren analogen Identität eine imaginäre digitale Identität hinzuzufügen und mit ebensolchen Identitäten zu kommunizieren. Welche Gemeinsamkeiten analoge und digitale Identität haben, also welche der digitalen Merkmale auf die analoge Identität verweisen, ihnen sogar real entsprechen, lässt sich von außen nicht beurteilen. Theoretisch kann eine Frau sich als Mann ausgeben oder umgekehrt, oder ein Mann kann sich eine zweite Identität als Frau schaffen und mit ihr in einen Dialog eintreten, wie es in diesem Blog mit Trithemius und Frau Nettesheim geschieht. Da das Medium der Kommunikation die aus der analogen Welt stammende Schriftsprache ist, kommt digitaler Kommunikation eine gewisse Form der Glaubwürdigkeit zu. Gleich einer Theaterbühne wird in den verschiedenen Blogs ein Stück aufgeführt, dessen Autor und Dramaturg die oder der jeweilige Blogbetreiberin/Blogbetreiber ist. Wie ein Theaterpublikum akzeptieren die lesenden Zuschauer das So-tun-als-ob, reagieren darauf mit ihrem realen analogen Verstand und ihrem Gefühl und äußern sich fernschriftlich dazu, treten ggf. in einen zeitnahen Dialog mit dem Stück und der Person dahinter ein. Da sie selbst als imaginäre Individuen agieren, kann sich jeder Austausch auf dieses imaginäre So-tun-als-ob reduzieren.

Das Unterscheidende mithin Trennende zwischen digitaler und analoger Welt, die damit verbundene Anonymität der handelnden Personen aufzuheben, ist ein Schritt, der vom Medium weder gefordert noch begünstigt wird. Trotzdem habe ich in 13 Jahren Bloggen immer wieder den realen Kontakt in der analogen Welt zwar nicht unbedingt gesucht, doch gebilligt. Nach meiner Zählung habe ich in dieser Zeit 21 Bloggerinnen und Blogger real getroffen, woraus sich unterschiedlich intensive Kontakte in der analogen Welt ergaben, zum Teil auch wieder verloren gingen, denn ein Wesen der digitalen Fernkommunikation ist die räumliche und zeitliche Trennung der Akteure.

Fernkommunikation ist auch in der analogen Welt möglich, durch Fernsprecheinrichtungen oder durch Briefpost. Mit den realen Personen hinter den digitalen Existenzen in brieflichen Kontakt zu treten, also „einen kleinen Spalt in der Mauer der digitalen Welt“ zu öffnen, „durch den man einen Blick von den mitbloggenden Personen aus Fleisch und Blut erhaschen konnte“, wie Blogfreund Lo es ausdrückte, war neben dem gestalterischen Aspekt Ziel und Ergebnis der Teestübchen-Briefaktion. Es haben sich fünf Bloggerinnen und ein Blogger beteiligt. Die Ergebnisse sind sehenswert und unter dem Link nochmals zu betrachten.

Lo
Feldlilie
Frauhemingistunterwegs
Lamamma
Karfunkelfee
Socopuk

Bleibt noch mein Part. Da Lo und Lamamma jeweils Porto (4,80 und 5 Euro) gespendet haben, will ich anders als ursprünglich vorgesehen, weitere Ansichtskarten herstellen lassen und jedem/jeder TeilnehmerIn ein Ansichtskartenset von vier Karten brieflich zusenden. Ich bitte euch, aus den 12 folgenden Karten vier auszuwählen (auch identische möglich). Die Karten zeigen Zeichnungen, Collagen und Kalligraphien von mir. (Das Cartoon von Karte 10 war übrigens in Titanic 1/1996 abgedruckt.) Ich werde nur die produzieren lassen, die gewählt wurden.