Finkenschlag und Klickern

Welch ein Glück, dass die Evolution die Dinosaurier auf ein erträgliches Maß verkleinert hat. Was wäre das für ein entsetzliches Krachen im Geäst, wenn sie von Baum zu Baum, von Ast zu Ast hopsen würden. Und erst ihr schmachtendes Grunzen bei der Balz. So aber schlägt der Fink sein helles Lied, und hüpft er von Zweig zu Zweig, wir sehen ihn kaum. Die Sonne scheint, – ich werd‘ verrückt –, brauche keine Handschuhe mehr. Das Frühjahr, der Frühling, der Lenz – die drei geben ihr erstes zaghaftes Gastspiel in Hannover, das hoffentlich noch in die Verlängerung geht.

In meiner Kindheit begann jetzt die Klickerzeit. Andernorts heißen die Klicker „Murmeln“, was vom Wort Marmor hergeleitet ist. Klicker oder Knicker aber ist schöner, weil onomatopoetisch. Die Wörter ahmen den Laut nach, wenn die Ton- oder Glaskugeln zusammenstoßen. Ein leises Klickern ist schon zu hören, wenn man das Säckchen aufnimmt, worin die Kugeln aufbewahrt werden. Ich hatte eines aus grauem Leinen, das sich oben mit einer eingenähten Schur zuziehen ließ. klickerReich an Klickern war ich nicht, denn obschon ich mir gelegentlich welche kaufte, verlor ich die meisten wieder. In meiner Nachbarschaft wohnten die Gebrüder Schnitzler. Beide waren Kannibalen im Klickern und unschlagbar, so dass niemand gern mit ihnen spielte. Freilich hatten sie die dicksten und schönsten Glasmurmeln, nicht gut für leichtsinnige Menschen wie mich. Zum Frühling gehört noch heute für mich der erdige Geruch des Bürgersteigs vor unserem Haus. Einer drehte mit dem Absatz einen Spitzkegel hinein, wir klopften die Erdkrümel wieder platt, ein Strich wurde gezogen, und dann ging’s los, das Schussern und Schieben, das Einlochen, das Hin und Her von Klickergewinn, -verlust und erneutem Einsacken der farbig lackierten Ton- und geheimnisvoll marmorierten Glaskugeln. Es war wunderbar – aber nur bis irgendwann die Schnitzler-Brüder kamen. Schnitzlers Fred und Schnitzlers Hans-Josef, drängten sich ins Spiel und räumten gnadenlos alles ab. Außer Klickern konnten sie nicht viel, und daher war der Frühling ihre Saison. Ich weiß nicht, was aus ihnen geworden ist, ob ihre Klickermeisterschaft ihnen beruflich weitergeholfen hat oder ob sie im Vorfrühlings ihres Lebens auch schon ihren Zenit erreicht hatten. Aber manche sind gar niemals in irgendwas richtig gut. Da ist es doch besser, wenn man von sich sagen kann: „Als Kind war ich immerhin Klickermeister.“

Als meine Kinder im Klickeralter waren, lebten wir in der Stadt. Da kann man mit dem Absatz keine Klickerlöcher in die Bürgersteige machen. Sie hatten zum Klickern einen flachen Stumpfkegel aus Plastik mit einer Mulde darin. Da haben sie mir immer ein bisschen leid getan, denn mit der Nase über Plastik und Betonplatten, das ist etwas anderes als den Duft der frühlingshaften Erde zu riechen. Trotzdem werde ich nicht behaupten, dass früher alles besser war. Was nämlich schlechter war, das war natürlich nicht besser.

(Überarbeitete Neuveröffentlichung,erstveröffentlicht am 18. März 2010 auf Trithemius.twoday.net; Foto: Trithemius)

Einiges über die Heimtücke meiner Handschuh

Weil hier der Frühling noch immer auf sich warten lässt, muss ich über ein Problem schreiben, nämlich über die Heimtücke meiner Handschuh. Sie sind reichlich klobig. Aber ich trage sie trotzdem, nachdem ich meine schlankeren Handschuh vor gut zwei Jahren im Büro meiner Steuerberaterin vergessen habe. Wann immer ich mit dem Fahrrad fahre, ziehe ich mir diese dicken Handschuhe über, erstmals wenn ich vor der Wohnungstür auf dem Treppenabsatz stehe. Als Rechtshänder stecke ich meinen Hausschlüssel immer in die rechte Jackentasche. Da steckt aber schon die Geldbörse, weil ich sie nicht in der Arschtasche tragen will, damit sie mir die Hose nicht nach unten zieht. Dabei ist sie nicht mal schwer, weil ich nur Silbergeld in ihr dulde, alle anderen Münzen aber in einer Kaffeedose sammle, um sie später bei der Deutschen Bundesbank gegen frisch gedruckte Scheine einzutauschen, weshalb ich immer ganz unwirsch werde, wenn eine Kassiererin mich etwa fragt: „Haben Sie zwei Cent?“ „Sehe ich aus wie ein Kerl, der zwei Cent mit sich herumschleppt?“

Mein Fahrrad steht im Hof und ist mit einer schweren Kette angeschlossen. Mit dem Handschuh an der Hand komme ich kaum in die Jackentasche und kann den Schlüssel zwar ertasten, wollte ich ihn aber herausziehen, käme das Portemonnaie mit raus und fiele zu Boden. Also muss ich den Handschuh ausziehen, um den Schlüssel aus der Jackentasche zu nehmen. Da ich aber beide Hände brauche, um zu verhindern, dass das Ende der gelösten Kette gegen den Fahrradrahmen schlägt, wo sowieso schon der Lack an mehreren Stellen abgesplittert ist, so dass mir immer bei deren Anblick die Worte eines jungen Fahrradmechanikers aufstoßen, der schon vor vier Jahre geseufzt hat: „Das Fahrrad könnte ein bisschen Liebe vertragen!“, da ich also beide Hände brauche, um zu verhindern, dass der junge Fahrradmechaniker schon wieder jammert und letztlich in Tränen ausbricht, fällt mir der rechte Handschuh garantiert zu Boden. So geht es in einem fort weiter. Ich fahre zum Mittagstisch, will mein Fahrrad an einen Laternenmast anketten, bin aber mit den Handschuhen so ungeschickt beim Zurechtfingern des Schlüssels, da muss ich den rechten wieder ausziehen, klemme ihn unter den linken Arm, und was tut er? Ohne dass ich es merke, sinkt er sanft auf den Bürgersteig. Vor dem Mittagessen stecke ich dann beide Handschuh in den Rucksack, gehe nach dem Essen hinüber zum Supermarkt und kaufe etwas fürs Abendessen, packe meine Beute in den Rucksack, und muss dann alles durchwühlen, was ich zuvor sorgfältig geordnet, schwere Sachen nach unten, in den Rucksack geräumt habe, um an die Handschuh zu kommen.

böser Handschuh„Stell dich nicht so an. Manche haben gar keine Handschuhe!“, sagt mein besseres Ich. „Das ist ja herzallerliebst!“, entgegne ich. „Soll ich mir etwa aus dem Mangel handschuhloser Menschen, aus dem Gedanken an deren klamme und möglicherweise steif gefrorenen Finger ein Feuerchen machen, über dem ich mir die Hände wärmen kann? Das ist doch absurd und unmoralisch, wenn es überhaupt ginge. Ich kann mir nicht vorstellen, dass steifbefrorene oder auch nur klamme Finger gut brennen.“ „Jaja!“, brummelt mein besseres Ich wie immer, wenn ihm die Argumente ausgehen. Es wäre langsam zu fragen, ob es den Anforderungen an  ein besseres Ich überhaupt noch genügt. Sollte ich ihm ein Arbeitszeugnis ausstellen müssen, würde ich schreiben: „Es hat sich stets bemüht.“ und „Im Kollegenkreis galt es als gesellig.“ Man möge selbst eruieren, was diese vernichtenden Floskeln bedeuten, denen jeder Kundige ansieht, dass es sich um illegale Geheimkodes handelt, die eigentlich verschwunden sein müssten, nachdem ich als junger Referendar in aufklärerischer Absicht in der 10. Klasse eines Mädchengymnasiums bereits eine vielgelobte Lehrprobe zum Thema „Illegale Geheimkodes in Arbeitszeugnissen“ bestritten habe, nicht glaubend, dass derlei Kodes nach meiner vernichtenden Lehrprobe noch gut 35 Jahre überleben würden.

Diese 10. Klasse voller hübscher Mädchen, die mir herzlich zugetan waren, unterrichtete ich auch in Kunst, hatte sie gerade zum Thema „Klassenraumgestaltung“ Entwürfe zeichnen lassen, den Direktor schon um Zustimmung gebeten, dann aber fiel ich mit einem grippalen Infekt für zehn Tage aus. Als ich noch geschwächt wieder in der Schule auftauchte, wurde ich sogleich zum Direktor zitiert. Der herrschte mich an: „Was haben Sie nur angerichtet? Die Kollegen weigern sich, im umgestalteten Klassenraum Ihrer 10 zu unterrichten. „Sie haben die Umgestaltung doch erlaubt“, wandte ich ein. „Aber doch nicht so!“, schrie er und zerrte mich hin, schloss die Tür auf und wir standen vor einem pink-lila-Mädchentraum, die Wände zartrosa getüncht, mit violetten Vorhängen an den hohen Fenstern, einem Sofa mit lila-pink Häkeldecke und plüschigen Patchwork-Kuschelkissen. „Hier sieht es ja aus wie im Bordell!“, rief der Direktor aufgebracht. „Äh, wenn Sie es sagen“, stammelte ich, „ich war noch nie im Bordell, Herr Direktor.“ Er warf mir einen vernichtenden Blick zu. „Für diese eklatante Störung des Schulfriedens werden Sie sich zu verantworten haben, van der Ley!“ Ich murmelte noch was von „beachtlicher Eigeninitiative“, doch konnte mich nicht behaupten. Er schnaubte: „Ihre Mädchen sollen die Eigeninitiative in Ordnung bringen und den vorherigen Zustand wiederherstellen!“

Ich will nicht behaupten, dass meine Handschuh irgendwas mit dem Debakel zu tun hätten, doch im Hof schlug das bewehrte Ende der Fahrradkette erneut gegen den Rahmen, und indem mein besseres Ich seufzte, befand ich: „Für einen Fahrradmechaniker zu sentimental.“

Nützliches und Unterhaltsames vom Radfahren

radfahrenEnglands erster und berühmtester Lexikograph, Dr. Samuel Johnson (1709-1784) hatte für mit Muskelkraft bewegte Fahrzeuge nur Spott übrig. Sein Einwand gegen einen Vorläufer des Fahrrads, einen Wagen, bei dem der Fahrer mittels Kurbel eine Antriebsfeder spannen musste, klingt zunächst plausibel: „Damit wäre wohl erreicht, dass einer die Wahl hat, ob er nur sich selber fortbewegen will oder sich selber und noch einen Wagen dazu.” (James Boswell; Dr. Samuel Johnson – Leben und Meinungen)
(Zeichnung: Trithemius)

Dr. Johnson, „Der schwer gelehrte Bär“, wie Lichtenberg ihn nannte, starb ein Jahr, bevor im Jahr 1785 ein gewisser Karl Friederich Christian Ludwig Freiherr Drais von Sauerbronn geboren wurde. Dieser Mann wagte sich im Jahr 1817 mit einer Art Holzbock auf zwei Rädern in die Öffentlichkeit. Auf der 15 Kilometer langen Jungfernfahrt von Mannheim bis zum Schwetziger Relais und zurück fuhr er immerhin ein Stundenmittel von 14,8 Kilometern. Seine Zeitgenossen hielten es aber mit der kauzigen Logik des Dr. Johnson und zeigten dem Erfinder einen Vogel.

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Gestrandet, wo man „Ciao!“ zum Abschied sagt

Inmitten trüber Gedanken befiel mich heute die Einsicht, dass ich in diesem Hannover gestrandet bin wie auf einem Planeten fern der Heimat. Da war ich schon auf dem Weg zum Getränkemarkt, um ein wenig flüssige Heimat zu holen. Wie zur Bestätigung dieser düsteren These tauchte da aus dem diesigen Grau dieses Nachmittags ein Schild auf. Was hat da wohl auf der Tafel gestanden, wo gewischt und korrigiert worden ist? Es muss ein kurzes Wort gewesen sein. Stand da etwa „Das letzte Getränkesortiment der Galaxis!“ adäquat zu „letzte Tankstelle vor der Autobahn“ oder „Das Reste-Getränkesortiment der Galaxis?“
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Jedenfalls nehme ich die Tafel als galaktischen Fingerzeig, dass ich mit meiner Eingangsvermutung nicht so falsch liege. Wer im 18. Jahrhundert nach einem Schiffsunglück an einer englischen Küste strandete, den steckten die Ureinwohner meistens ins Irrenhaus, wo er mit kalten Wassergüssen traktiert wurde, bis jemand merkte, dass das vermeintlich irrsinnige Gestammel des armen Opfers eine fremde Sprache war. Hab ich mal gelesen oder habs mir ausgedacht. Jedenfalls weiß ich es und bin vorgewarnt.

Im galaktischen Getränkemarkt wurde ich eben mit dem mir fremdländisch klingenden „Ciao!“ verabschiedet. Gestern hörte ich das auch schon. Da kam der emsige Bildzeitungsleser in den Biosupermarkt, als ich gerade meinen leeren Suppenteller wegbrachte, und fragte, ob mein Platz jetzt frei würde. Ich musste noch meinen Rucksack holen – da saß er schon da, in seine Dreckspostille vertieft und holte sich die tägliche Rate Hirnerweichung. Ich sagte „Tschüss!“ und er rief ebenfalls „Ciao!“

Ich dachte, so verabschieden sich außer den Leuten in Italien nur Club Mate schlürfende Hipster oder die Prosecco saufenden Mitglieder der Toskanafraktion. Wieder was gelernt! Man kann in Hannover-Linden also täglich das Fachblatt für Dixiklos und Bauwagen studieren wie die Offenbarung und zum Abschied ganz weltmännisch „Ciao!“ rufen. Da komme ich mir mit meinem rheinländischen „Tschüss“ glatt ein bisschen simpel vor, obwohls ja eigentlich eine Form von französisch „adieu“ ist, allerdings verschliffen und nicht so fein.

Gestern saßen der Bildzeitungsleser und ich sogar notgedrungen an einem Tisch. Ich beeilte mich wegzukommen und sagte: „Tschüss!“ Er kontert „Ciao!“ „Dat säht mer nit!“, denkt der Kölsche in mir. Auf diesem Planeten ist alles komplett durcheinander. Die Bildzeitung lesen und „Ciao!“ rufen ist wie Latte macciato aus dem Pisspott saufen oder Prosecco pinkeln trotz Prostatakarzinom.

Trithemius bei den Sachsen (5) – Die Choräle der Meißel

Kaum ist die Sonne aufgegangen, sind die Mauerspechte bei der Arbeit. Hell klingen die Meißel auf Stein. Drinnen wie draußen wird der Putz von den Wänden geklopft. Vermutlich hat man in der Abtei angefangen zu meißeln und arbeitet sich von Gebäude zu Gebäude nach außen. Wie hoch das Wasser überall gestanden hat, da braucht es vorerst keine Hochwassermarke. Es lässt sich ablesen am sauber frei gelegten Mauerwerk. Aus dem Erdgeschoss des Gästehauses St. Franziskus dringt das Scharren der Schaufeln. Am Abend ist der Boden vom Schutt befreit, bis zu den Schlauchleitungen der Fußbodenheizung.

mariental-impressionen2Im Erdgeschoss der weiträumigen Propstei treffe ich den Hausmeister. Hier rauscht eine Kompanie fahrbarer Luftentfeuchter. „Wie lange laufen die schon?“, frage ich.
„Seit September.“ „Wie konnte das Wasser überhaupt in die rundum geschlossene Abtei eindringen?“
„Da ist ein Brunnen im Innenhof. Durch den ist das Wasser hoch gekommen. Solange die Pumpen liefen, hatten wir das im Griff, aber als das Wasser ringsum immer höher stieg, musste der Strom abgeschaltet werden.“

Man darf als gewöhnlicher Sterblicher den Innenhof nicht betreten, aber kann sich vorstellen, wie der Brunnen zum Entsetzen der Nonnen übergelaufen ist, wie es heraussprudelte und nicht zu deckeln, nicht aufzuhalten war. Da half auch kein Beten.

Die Nöte des Hausmeisters waren auch nicht klein. Er wohnt in Ostritz, wo ihn die Neiße durch Türen und Fenster besuchte. „Ich bin hin- und hergefahren, habe zu Hause alles Wichtige hochgestellt, aber als ich zurückkam, schwammen die Sachen unter der Decke.“ Er ist ein freundlicher Mann und lächelt bei seinem Bericht. „Sie können ja wieder lachen“, sage ich. Was bleibt ihm auch anderes übrig. Man kann ein solches Desaster vermutlich nur mit Humor überstehen. Überhaupt sind die Angestellten des Klosters von einer herzlichen Fröhlichkeit. Das Internationale Begegnungszentrum wird von den Nonnen gemanagt, und offenbar sind sie gute Arbeitgeber. Die Abtei verlassen sie nur selten. Nur einmal sehe ich im Morgenlicht zwei Nonnen vom Klostermarkt kommen. Eine junge Nonne in hellblauer Tracht stützt eine ältere Schwester, ein fast geisterhafter Anblick. Weniger heidnisch ausgedrückt: Die beiden strahlen eine durchgeistigte Ruhe aus, wie ich sie selten bei Menschen gesehen habe, dass muss sogar ich abgefallener Katholik zugeben.

Der Gästeempfang ist noch immer auf die erste Etage verlagert. Dort frage ich nach Nähzeug. Die freundlichen Damen beratschlagen, eine telefoniert, und zur Mittagspause finde ich Nadel, Schere und zwei schwarze Garnröllchen auf dem Schreibtisch meines Zimmers vor, so dass ich meinen Knopf wieder an den Mantel nähen kann.

Die Seminargruppen erweisen sich als handzahm und arbeitsfreudig. Da ist auch eine Gruppe aus Kroatien und ein Redakteur einer kroatischen Zeitung. Ich kenne mich nicht aus mit kroatischen Zeitungen, aber diese hier sieht aus wie eine Boulevardzeitung. Längere Texte, etwa Reportagen wie sie für die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung (FAS) geschrieben werden sollen, hätten da gar keinen Platz.

Bei einem Rundgang in der Mittagspause finde ich entlang der Neiße Hochwasserschutzwände aus Neuwied am Rhein. Das ist nicht nur ein Gruß aus meiner Heimat, dem Rheinland, sondern zeigt mehr als Sonntagsreden, auch dieser Ort im entlegendsten Winkel gehört zu Deutschland und hat Anspruch auf unsere Solidarität.
Ende

Trithemius in Sachsen (4) – Ein guter Ort

Folge 1 – Deutschland südostFolge 2 – Häuser zum Fürchten Folge 3 – „Wir wussten ja nichts“

Du lieber Himmel, ist es hier kalt. Wann immer man aus dem Windschatten eines Gebäudes tritt, packt einen der eisige Sturmwind, der mutwillig durch die weiträumige Klosteranlage pfeift. Oben durch die kahlen Baumwipfel des finsteren Kalvarienbergs scheint ein Güterzug zu brausen. Da wird der Herrgott erbärmlich frieren an seinem Steinkreuz. In das Tosen des Windes mischt sich das Rauschen des Neißewehrs. Das Erdgeschoss des Gästehauses St. Franziskus liegt im Dunkeln, was die Überschwemmungsschäden noch trostloser wirken lässt. Der Bewegungsmelder reagiert und schaltet das Licht der oberen Etagen an. Hier, nahe der Neiße, hat im letzten Sommer das Wasser mannshoch gestanden. Bis über meinen Kopf ist der Putz abgeschlagen und das Mauerwerk freigelegt. Ich suche mir einen Weg durch den Schutt. Es riecht nach Moder. Mein Zimmer liegt auf der zweiten Etage, erreichbar über eine knarrende alte Holztreppe. Sie soll mich in den drei Tagen meines Aufenthalts noch öfter narren, denn es hört sich an, als folge mir jemand, so dass ich mich mehr als einmal umdrehe.

Marienthal hochwasser und stube

Ich habe ein hübsches Doppelzimmer unterm Dach, weißgetüncht, schwarzes Gebälk und zwei Dachgauben. Man darf in einem katholischen Kloster keine französischen Doppelbetten erwarten. Die schmalen Betten sind übereck angeordnet, getrennt durch einen hellgrauen Kleiderschrank. Die Fenster zeigen nach Osten, zum geschlossen Klosterbereich hin. Eines ist genau über dem ebenfalls grauen Schreibtisch. Ich verstaue meine Sachen und erkunde mein kleines Reich. An den Raum muss ich mich noch gewöhnen, das zeigt er mir, nachdem ich vom Schreibtisch aufstehe und mir an der Wand der Dachgaube den Kopf anstoße. Aber ich werde hier schlafen wie ein Prinz.

Es ist ein guter Ort, so ganz aus der Welt, trotz der ringsum tosenden, unbändigen Natur. Dieser Platz hat gute Schwingungen. Vermutlich hatten das schon die Heiden erkannt, bevor das Kloster im Jahr 1234 gegründet wurde. Klöster, Kirchen, Kapellen, Wegkreuze stehen fast immer auf alten Kultplätzen. Das ist dem Überwindungsgedanken geschuldet, wie auch die Mönche in den Skriptorien die heidnischen Texte antiker Autoren vom Pergament schabten, um sie mit christlichen Texten zu überschreiben (Palimpseste), legten sie die heidnischen Kultstätten platt und überbauten sie. Ich bin Heide. Mir ist egal,woran es liegt, aber ich fühle mich wohl in meiner Klosterstube, habe hier schon eine Sorte Erleuchtung gehabt.

Mein Mobiltelefon piepst. Der polnische Netzanbieter hat mir eine Tarifinformation geschickt. Zugang zu einem deutschen Netz hat man allenfalls oben an der Straße. Da habe ich früher oft gestanden, um zu telefonieren, vom kalten Wind gezaust, die dunkle Klosteranlage zu meinen Füßen, kaum ein Licht ringsum, und mich fragend, was um Himmels Willen mache ich hier?

Ja, was? Das Kloster ist unter anderem mit Mitteln der Bundesstiftung Umwelt restauriert und zum Internationalen Begegnungszentrum (IBZ) ausgebaut worden. Diese größte Umweltstiftung Europas mit Sitz in Osnabrück finanziert auch die medienkundlichen Seminare, die hier im Winterhalbjahr stattfinden. In den letzten Jahren hat die ein Journalist aus Dresden abgehalten, der derzeit im Krankenhaus liegt. Bevor ich nach Hannover gezogen bin, war ich ziemlich oft hier, manchmal in Begleitung. Bei meinem letzten Aufenthalt war das Internationale Begegnungszentrum St.-Marienthal beinah fertig restauriert, und jetzt fängt man fast wieder von vorne an, deprimierend.

Ich packe mich wieder ein, gehe hinüber zum Speisesaal. Dort werden gerade die Tische abgeräumt. Aber die Lehrerinnen und Lehrer der Projektklassen und ein Mitarbeiter des IBZ sitzen noch plaudernd zusammen. Ich stelle mich vor und erläutere, was wir am nächsten Tag machen werden. Den IBZ-Mitarbeiter kenne ich schon einige Jahre. Er hat Forstwirtschaft studiert und kommt eigentlich von der Mosel. Dieser rotwangige, stets freundliche Verbindungsmann zwischen IBZ und den Seminargruppen ist ein lebendiges Zeugnis, dass man hier gut leben kann. Diesmal kommt eine der beiden Seminargruppen aus Siebenbürgen, dem deutschsprachigen Teil Rumäniens, denn woran sie teilnehmen, ist das internationale Begegnungsprojekt „Umwelt baut Brücken.“

Etwa 60 Schulklassen nehmen an diesem einjährigen Austauschprojekt teil. Die Schüler besuchen einander für eine Woche und recherchieren am Ort der Partnerschule ein Umweltthema, worüber sie dann im Unterricht schreiben – in Deutschland für die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung. Organisiert wird alles von einem Aachener Institut, das solche Kooperationen von Zeitung und Schule schon seit Mitte der 1980-er Jahre veranstaltet und auch erfunden hat. Inzwischen gibt es Konkurrenzunternehmen, die alle nach ähnlichen Konzepten arbeiten, allerdings ohne Schüleraustausch, nur mit der jeweils lokalen Zeitung.

Die teilnehmenden Lehrerinnen und Lehrer sind vom Institut rundum gepampert, müssen sich nur um ihre Schülerinnen und Schüler kümmern. Reise, Aufenthalt, Kooperationspartner, Exkursionen, Unterrichtsmaterialien, tägliche Zeitungslieferung – alles ist organisiert, wobei die Kosten von der Bundesstiftung Umwelt übernommen werden. Die Lehrerinnen und Lehrer sind in einem Vorbereitungsseminar über den geplanten Ablauf des Projektes informiert worden. Ausgewählte Lerngruppen dürfen zusätzlich für eine Woche nach Marienthal fahren. Warum nach Marienthal? Weil die Bundesstiftung Umwelt das IBZ gefördert hat, sorgt sie jetzt für eine gute Auslastung, eine regionale Fördermaßnahme, die vermutlich in keiner Statistik auftaucht.

Die Gruppen sind schon seit Montag hier, hatten heute ihren Umwelttag – haben eine Einrichtung oder ein Unternehmen in der Region besucht und dort ein Umweltthema recherchiert. Die Lehrerinnen geben sich erstaunt. Nein, sie hätten nicht gewusst, dass ihre Schüler sich Notizen machen sollten. Oje, mit der Rechercheübung steht und fällt ein Teil meines Seminars. Ich muss mir heute Abend noch Themen ausdenken, die am Ort zu recherchieren sind. Es liegt nicht daran, dass eine Gruppe aus Siebenbürgen kommt. Deutsche Lehrer sind nicht besser. Sie bekommen genug Material, um sich vorzubereiten. Ihre Projekttage sind bis ins Kleinste geplant. Aber sie lesen ihre Unterlagen oft nur flüchtig, sind darin kein bisschen besser als ihre Schüler.

Nach dem Abendessen hatte ich mit den Erwachsenen noch gesellig am offenen Kamin im Kaminzimmer sitzen wollen. Aber mir ist die Lust vergangen, weil ich meinen Seminartag neu planen muss. Eigentlich bin ich aber ganz froh, mich auf meine lauschige Klosterstube zurückziehen zu können.

Fortsetzung Die Choräle der Meißel

Trithemius bei den Sachsen (3) – Wir wussten ja nichts

Folge 1 – Deutschland südostFolge 2 – Häuser zum Fürchten

Nirgendwo in Deutschland wird es so früh dunkel wie in Görlitz, aber nirgendwo in Deutschland geht auch die Sonne so früh auf. Jetzt jedenfalls ist es zappenduster. Görlitz war einmal nahe daran, Großstadt zu werden, doch inzwischen hat sich die Einwohnerzahl fast halbiert. Vor einigen Jahren war ich mit einem jungen Kollegen hier. Wir wollten abends in der aufwendig restaurierten, prächtigen Altstadt essen, aber schauten wir in die Lokale, saß keiner drin. Wir wagten uns trotzdem in eines hinein, und als ich zur Toilette ging, fiel mein Blick in die offene Küche. Da hatte der Koch seinen Kopf in beide Hände gestützt und weinte auf die Arbeitsplatte. Schon damals hatte uns der Busfahrer eines Reisebusses geklagt, dass die jungen Leute der Region, besonders die Frauen, alle weggehen würden.

„Das einzige, was hier boomt, sind Altenpflegeeinrichtungen“, sagt der Taxifahrer, „denn die alten Leute bleiben zurück, und die Kindern oder Enkel, die sich um sie kümmern könnten, sind weg.“ Wir fahren an der polnischen Grenze entlang nach Süden. Da gibt es kaum etwas zu sehen. Bei der Durchfahrt von Laubitz, wo die Häuser nach einem Anstrich lechzen, manche nur noch um Abriss betteln, sagt der Taxifahrer, er verdiene nicht mehr, als ein Hartz-IV-Empfänger bekomme, aber er sei froh, eine Aufgabe zu haben, die ihn mit Menschen zusammenbringt und ihm das Gefühl gebe, gebraucht zu werden. Er hat wohl lange Zeit zu Hause gehockt, als nach der Wende die Braunkohlegrube zugemacht wurde, der wichtigste Arbeitgeber in der Region. „Die Braunkohle hier ist ergiebig, Sie räumen einen Eimer Dreck weg und bekommen zwei Eimer Kohle, anderswo in Deutschland ist es genau umgekehrt. Aber die Grube wurde geschlossen, damit die Gruben im Westen weiter bestehen durften.“ Ich könnte ihm jetzt erzählen, dass der Dörfer verschlingende Braunkohletagebau und die klimaschädliche Kohleverstromung in meiner Heimat durchaus umstritten sind, aber er wird es nicht hören wollen.

Wie das war, wie er umgeschult hat, wie er als Vater zweier Kinder eine Stelle nicht bekam, weil er keinen Hortplatz für sie fand, das ist wirklich traurig. Ich versuche ihn abzulenken, denn einer von uns beiden wird bald heulen, und sage: „Es ist tragisch, wie die Betriebe im Osten nach der Wiedervereinigung ausgeplündert und plattgemacht wurden. Ihr hättet nicht Helmut Kohls Versprechungen glauben dürfen.“ „Aber wir wussten ja nichts!“, jammert er. „Hier war doch vor der Wende das Tal der Ahnungslosen.“ In der Tat konnte man in der Region kein Westfernsehen empfangen. Zu DDR-Zeiten bedeutete das Akronym ARD „Außer Raum Dresden“.

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Das Kloster St.-Marienthal gehört zur Landstadt Ostritz. Der verlassen wirkende Ort, eigentlich ein Dorf von gerade mal 2600 Einwohnern (Anmerkung der Redaktion: Zahlen von 2011, 2014: 2416 Einwohner), ist eine energieökologische Modellstadt, aber was nutzt die beste Umwelttechnologie, wenn die jungen Leute in den Westen abwandern. Die jungen Frauen sitzen lieber in Aachen, dem westlichsten Pendant zu Görlitz, an der Supermarktkasse als in ihrer Heimat in der Arbeitslosigkeit zu versacken. Wenn du wissen willst, wo denn der Hund wirklich begraben liegt – es ist hier. Vor den Häusern parkt nur vereinzelt mal ein Auto, ein Hinweis auf Geldmangel oder Leerstand. Läden gibt es kaum. Die in ihrer Heimat Verbliebenen nötigen mir Achtung ab, wie sie sich gegen die Verödung dieses Landstrichs anstemmen. Die Geographen sprechen ja von Wüstungen, wenn Dörfer aufgegeben sind. Die überall drohenden Wüstungen machen mich schwermütig. Kein Wunder, wenn dieses Elend die Gemüter der Einheimischen überschattet.

Grenzregionen haben es überall schwer, weil das Hinterland fehlt. Hier fühlt man sich um das Hinterland betrogen. Im Dezember 1943 hatten die späteren Siegermächte auf der Konferenz von Teheran die Grenze zu Polen am grünen Tisch festgelegt. Dem Vernehmen nach hatte Churchill die neuen polnischen Grenzen mit drei Streichhölzern gelegt. Da sollte nicht die Lausitzer Neiße, sondern die Glatzer Neiße weiter im Osten die Grenze zu Polen werden, aber Churchill knickte vor der Weigerung der polnischen Exilregierung ein, die Glatzer Neiße als Grenze zu akzeptieren und fügte sich Stalins eigenmächtiger Festlegung auf die Lausitzer Neiße. Es ist gewiss schwierig, derlei willkürlichen Grenzziehungen zu akzeptieren, wenn es um die eigene Heimat geht. Demgemäß haben viele noch nicht verwunden, dass auf der anderen Seite der Neiße bereits Polen ist, und auch der Taxifahrer redet nur schlecht über das ehemals sozialistische Brudervolk. „Sie mögen die Polen nicht“, sage ich. „Ja“, sagt er. „Die Polen kommen über die Grenze und klauen alles weg.“ Er traue sich kaum, sein Taxi irgendwo am Straßenrand zu parken. „Wenn ich pinkeln muss, fahre ich nach Hause“, sagt er. „Sind Sie denn schon mal bestohlen worden?“, frage ich. „Nein.“

Es ist wohl ein Problem der selektiven Wahrnehmung. Die Ressentiments sitzen tief in der Bevölkerung. Was politisch gewollt und vernünftig ist, Aussöhnung und Zusammenarbeit, kommt nicht gut an beim einfachen Mann. Als der Taxifahrer mich zwei Tage später zurückfährt, erzählt er, auf der Brücke zwischen Görlitz und Zgorzelec sei in der Silvesternacht ein älteres Ehepaar von polnischen Jugendlichen zusammengeschlagen worden. „Aber glauben Sie nicht, dass davon etwas in der Zeitung steht.“ Soll es denn sein, dass die Zeitungen Zensur ausüben, weil es politisch opportun ist, diesmal freiwillig – als Akt des vorauseilenden Gehorsams? Natürlich hat die Region nur eine Chance, wenn man mit den polnischen Nachbarn zusammenarbeitet, aber das geht mühsam, wie sich besonders bei dem verheerenden Hochwasser im August 2010 zeigte. In Polen war ein Staudamm gebrochen, und eine riesige Flutwelle rollte die Neiße herab. In Görlitz feierte man ein Volksfest und wunderte sich, dass auf der polnischen Seite der Neiße Autos mit Blaulicht umherfuhren. Die polnischen Nachbarn hatten wohl eine Warnung nach Warschau geschickt, von dort wurde Berlin benachrichtigt, und von Berlin kam ein Fax, das aber zu spät gelesen wurde, es war Wochenende. Besonders das Kloster St. Marienthal und Ostritz erlebten das schlimmste Hochwasser seit dem Jahr 1897. Die Schäden im Kloster sind gewaltig. Davon später mehr.

Inzwischen ist mein Taxifahrer vom eigenen Jammer gefangen, und ich bin froh, dass er die Windungen hinab zum Kloster meistert. Am Tor will er mich absetzen, aber ich heiße ihn durchzufahren bis vor den Gästempfang nahe der rauschenden Neiße. Die Gebäude ringsum wirken verlassen. Nur im Speisesaal ist noch Licht. Ich bin rechtzeitig zum Abendessen da.

Fortsetzung Ein guter Ort – Abseits der Welt

Trithemius bei den Sachsen (2) – Häuser zum Fürchten

Folge 1 – Deutschland südost

„Wie die reden“, höre ich nicht, denn es ist so kalt, dass selbst die Dresdner lieber den Mund zulassen, damit es keinen Durchzug gibt. Sächsisch soll ja der unbeliebteste deutsche Dialekt sein, nu? Doch ich gestehe, dass ich ihn aus Frauenmund erotisch finde, nur das Wörtchen „nu“ nicht, das wie eine schreckliche Plage in jedem zweiten Satz auftaucht. Auf Sächsisch lautet „Yes, we can!“ – „Nu, mir gönn!“ Demnach ist „nu“ die sächsische Entsprechung der Bestätigungspartikel „ja“ der Düsseldorfer. Der Kölner sagt wiederum „ne“, was ich mir bisher immer als „nein“ übersetzt hatte. Weil es aber dem „nu“ gleicht, könnte es ebenfalls „ja“ bedeuten. Ein sächsischer Witz: Zwei Jungen stehen in Plauen vor einen Auto mit dem Länderkennzeichen „GB“. Du, sacht da da eene, dea is doch ausm Genischreisch Boln. Neee, sochd do da Annere, sei liwa still, dea is vonne Griminolbolizei!

Ich habe 25 Minuten Zeit, trete nur kurz vor den Hauptbahnhof. Da tut sich das gewaltige „Wiener Loch“ auf. Das existiert bereits 13 Jahre, erfahre ich später bei Wikipedia und hat „zwischen 1996 und 2008 etwa 151 Millionen Euro, davon 87 Millionen Euro Dresdner Eigenmittel und 64 Millionen Euro Fördermittel“ verschlungen. (Anmerkung der Redaktion: Das Loch ist inzwischen geschlossen, kann aber bei Wikipedia noch besichtigt werden.)

Schon im Jahr 1925 beschreibt der Hannoveraner Merzkünstler Kurt Schwitters in der Groteske „Der sächsische Ozean“ ein gewaltiges Dresdner Loch. Der Text beginnt Hochdeutsch, geht dann über ins Sächseln und steigert sich zu einer absurden Form von Sächsisch. Er handelt von der Großmannssucht der Dresdner und der Gigantomanie eines fiktiven Dresdener Oberbürgermeisters. Zum 10. Jahrestag seines Amtsantritts lässt er einen riesigen Ehrenknall abfeuern. Wir lesen einen Auszug aus seiner Ansprache:
Der sächsische Ozean
Es entsteht ein „beispielloser Knall“, der ein 10.000 Meter tiefes Loch reißt, das sich von Rom bis Kopenhagen erstreckt. Wahrscheinlich hat Schwitters ein bisschen übertrieben.

Endlich rollt der Zug nach Görlitz in den Dresdener Kopfbahnhof. Im Abteil der 1. Klasse sitzt ein grauhaariger Mann und löst Kreuzworträtsel. Zwei Zugbegleiterinnen kommen albernd durch und gehen nach vorn in den Lokführerstand. „Nu … nu … nu!“, lacht die eine, und die andere ermahnt: „Nicht so laut, hier sitzen ältere Herrschaften.“ Zum Glück hat sie den Mann mit dem Kreuzworträtsel angesehen. Der hebt den Kopf und grüßt. Man kennt sich, und später steckt die eine den Kopf mit ihm zusammen.

Es geht zügig ostwärts in die Oberlausitz. Außerhalb von Dresden liegt Schnee. Im Sommer mag es hier schön sein, doch im Winter ist die Gegend unwirtlich, und wann immer ich hier war, habe ich gefroren wie ein Schneider, genau wie die Leute, die an den verfallenden Bahnhöfen entlang der Strecke auf den Gegenzug Richtung Dresden warten. Einmal sehe ich unten am Bahndamm ein einsames Haus, zu dem nur ein verschneiter Trampelpfad führt. Zwei Männer haben es gerade verlassen und gehen hintereinander zu einem an der Straße geparkten Auto, der Größere geht vorne. Es ist eine düstere Szene, die meine Phantasie beflügelt und eine Weile nachwirkt, als wäre ich Zeuge eines Verbrechens gewesen. Was haben die beiden im Haus gemacht? Wen mögen sie in diesem Loch gefangen halten? Wahrscheinlich ist die Sache ganz harmlos, nur meine Stimmung getrübt. Ich stehe ganz unter dem Eindruck der düsteren Schatten unter den krüppeligen Bäumen und der vielen verfallenen Häuser. Freilich wird die rohe DDR-Architektur nicht viel besser ausgesehen haben, als sie noch neu waren. Wir fahren der Dämmerung entgegen. In der Ferne hängt ein riesiger schwarzer Schatten über dem Land. Es ist kein außerirdisches Raumschiff, sondern die schwarz bewaldete Kuppe eines mächtigen Hügels. Auf seinen Hängen unterhalb der Bäume liegt Schnee. Im Dunst des Abends verschmelzen diese hellen Flächen mit dem Himmel, weshalb die schwarze Kuppe zu schweben scheint. Im Abteil höre ich ein ständiges Quietschen, als würde das Außenblech von kleinen Kobolden mit der Laubsäge bearbeitet.

Bald sehe ich in dieser schemenhaften Landschaft nur noch die glitzernden Lichter ferner Dörfer. Mein Mobiltelefon klingelt. Mich grüßt eine fröhliche helle Stimme und teilt mit, dass der Gästeempfang des Klosters St.-Marienthal heute nur bis 18 Uhr geöffnet habe, „nu.“ Ein Herr S. werde mich in Görlitz auf dem Bahnsteig erwarten und mir den Zimmerschlüssel übergeben, „nu.“

Da steht er auch und hat die Unterlagen bei sich, die er für mich fotokopiert hat. Er bringt mich zum Taxi und macht die Türen für mich auf, denn im Görlitzer Bahnhof muss man Türöffner drücken. Vermutlich wäre ich alleine gar nicht raus gekommen, denn solche Schalter kenne ich sonst von keinem Bahnhof. Es gibt sie aber in Krankenhäusern. Das Taxi steht auf einer Eisplatte, und indem mich der Taxifahrer warnt, rutsche ich aus und reiße mir an der offenen Beifahrertür einen Knopf vom Mantel.

görlitz kultourpunktBild links: Görlitz hatte sich Hoffnung gemacht, europäische Kulturhauptstadt 2010 zu werden, war aber um Haaresbreite der Stadt Essen unterlegen. Geblieben von der gescheiterten Bewerbung ist der „KulTourPunkt“ im Görlitzer Bahnhof. „KulTourPunkt“ – allein wegen dieser Sternstunde des Wortspiels durch strunzdoofe Orthographieverhunzung ist Görlitz zu Recht als Kulturhauptstadt gescheitert. – Schlecht fotografiert von: Trithemius (Größer: klicken)

Der Taxifahrer sieht aus wie Heinz-Rudolf Kunze. Nachdem wir los gefahren sind, frage ich unvorsichtiger Weise: „Wie lebt es sich denn in Görlitz?“ Da habe ich ein Fass angestochen. Heinz-Rudolf Kunze läuft leer. Der ganze seit Jahrzehnten aufgestaute Jammer läuft aus. Doch davon später mehr. Während der 20-minütigen Fahrt nach Süden fühle ich mich bald an Sławomir Mrożeks Groteske „Der Dienstmann“ erinnert. Da kommt ein Fahrgast auf einem einsamen Bahnhof an, hat zwei schwere Koffer und muss noch weit ins Land hinaus. Auf dem Bahnsteig wartet ein alter Dienstmann, der sich anbietet, dem Reisenden das Gepäck zu tragen. Unterwegs durch die Felder fängt der Dienstmann an zu jammern, wie schlecht es ihm geht und wie weh seine gichtigen Knochen ihm tun. Der Reisende bekommt Mitleid und nimmt dem Dienstmann einen Koffer ab. Doch der gibt keine Ruhe, bis der Reisende auch den zweiten Koffer trägt. Jetzt trottet der Dienstmann neben ihm her und quengelt weiter, denn die Füße tun ihm weh. Am Ende nimmt der Reisende zu den Koffern den Dienstmann Huckepack. Der ist plötzlich gar nicht mehr müde, sondern packt den Reisenden bei den Ohren und dirigiert ihn in die schreckliche Einöde hinaus.

Fortsetzung „Wir wussten ja nichts!“ oder Ein Eimer Dreck, zwei Eimer Kohle

Trithemius bei den Sachsen (1) – Deutschland südost

Vor ziemlich genau fünf Jahren verschlug es mich dienstlich nach Sachsen, und zwar zum Kloster Marienthal im entlegendesten Zipfel Deutschlands, direkt an der Grenze zu Polen. Damals lag die Flüchtlingskrise noch jenseits unseres Horizonts, und auch von rechtskadikalen Umtrieben wurde nur spärlich berichtet. Vorurteile gegen Sachsen hegte ich noch nicht, denn ich war in den Jahren zuvor schon oft in Marienthal gewesen, und meine einzigen Probleme dort waren gewesen die Saukälte und an den Tabak zu kommen, den ich damals rauchte. Ich veröffentliche meine Reportage in Folgen unverändert und unfrisiert, damit man sich ein Bild machen kann, wie sich mir Sachsen damals präsentierte.
kloster marienthal
Kloster und Begegnungsstätte Marienthal, Ostritz – Foto: Trithemius

Tief im Osten hat sich ein mir völlig unbekannter Journalist ins Krankenhaus gelegt und mir damit eine unerwartete Dienstreise in den südöstlichen Zipfel Deutschlands beschert. Ich Notnagel bin zu früh am Hauptbahnhof von Hannover, und nachdem ich mir zwei Paar neue Handschuhe gekauft habe, sinke ich in einen roten Ledersessel der DB-Lounge. Man sitzt hoch über dem Bahnhofsvorplatz und hätte einen schönen Blick auf das geschäftige Treiben dort unten, wenn nicht die Sessel entlang der Fensterfront dem Plebs den Rücken zuweisen würden. Ich muss an einen Ostfriesenwitz denken: Warum fliegen die Zugvögel über Ostfriesland auf dem Rücken? Damit sie das Elend dort unten nicht mit ansehen müssen.

Man ist in der DB-Lounge ein 1.-Klasse-Mensch, wird am Eingang von freundlichen Damen begrüßt und verabschiedet wie ein gern gesehenes Familienmitglied, kann sich kostenlose Getränke nehmen, Zeitungen sowieso und natürlich persönlich beraten lassen, wenn man ein fahrplantechnisches Fürzchen quer sitzen hat. Den Parkettboden haben die 1.-Klasse-Menschen der Republik ziemlich abgelatscht. Es muss mehr von Ihnen geben als man denkt. Die meisten jedoch sind Geschäftsleute, auf Firmenkosten unterwegs wie ich, schauen wichtig in ihr Notebook oder führen bedeutende Telefongespräche.

Neben mir
lassen sich ein junger Mann und eine junge Frau nieder. Sie sind offenbar Bauingenieure und arbeiten für die Bahn. Der Mann klappt einen meterlangen Plan mit Gleisanlagen der Bahnsteige C und D aus, der als Leporellofalz in einem dicken Aktenordner klemmt. Worüber sie sprechen, das ist noch viel länger, nämlich „satte 200 Meter Leitung“, sagt der Mann. Ein kleiner Dicker im blauen Anorak kommt herein. Der trägt sein gut umhülltes Cello wie einen Rucksack. Das ist der Unterschied zwischen dem Bahnhofsvorplatz und der DB-Lounge. Auf dem Bahnhofsvorplatz werden die Instrumente ausgepackt und so lange gequält, bis einer was in den Hut wirft. Der Mann in der DB-Lounge muss das nicht, weil ein ausgesuchtes Publikum ihn irgendwo erwartet, weshalb er hier als wandelnde Hochkultur glänzen kann. Da verzeiht man ihm auch einen blauen Anorak. Mir ist sowieso aufgefallen, dass namentlich Konzertmusiker sich ausgesucht schlecht kleiden. Grausam gekleidet zu sein, ist quasi das Prädikat der E-Musiker. Es gibt an, dass diese Leute nur der Musik verpflichtet sind und mit irdischen Dingen wie Kleidung nichts am Hut haben – zumindest außerhalb der Konzerthäuser.

Ich steige in den IC nach Dresden. Derzeit hat die deutsche Bahn viel altes Material auf den Schienen, weil die neueren Züge und Waggons in den Werkstätten herumstehen, und so hat auch der IC nach Dresden noch einen alten Abteilwagen. Ich habe dummerweise eine Reservierung für einen Platz im Abteil. Denn kaum habe ich mich am Fenster in Fahrtrichtung niedergelassen, kommen drei junge Männer herein, kurzgeschorene Haare und Riesengepäck im Seesack. Nur einer hat eine große Sporttasche und trägt passend dazu den Pitbull-Smoking von Addidas. Dieser junge Mann spricht zwar perfekt Deutsch, hat aber einen russischen Akzent. Die drei sind offenbar Bundeswehrsoldaten aus dem Ruhrgebiet und fahren nach Dresden-Neustadt zu einem Lehrgang.

Sogleich packen sie ihre Notebooks aus und beginnen ein Ballerspiel, worin sie Panzer und Waffen generieren müssen und zum Schluss sogar über Atombomben verfügen. Dabei sind sie durchaus manierlich und haben sich allesamt Ohrhörer reingesteckt, weil sie mich nicht mit lästigen Tönen nerven wollen. Es ist doch gut, wenn so manierliche junge Männer sich in ihrer Freizeit in der Kulturtechnik des Mordens üben. Bedachtsam sind sie auch, denn sie lassen es während der gesamten Fahrt nicht zum Atomschlag kommen. Zwei von ihnen sitzen dicht nebeneinander, der andere sitzt links von mir an der Tür. Er wird von den beiden ein bisschen geschnitten, ist aber auch keine ansehnliche Erscheinung. Einmal klappt er sein Portemonnaie auf und zeigt den beiden ein Foto seiner Freundin. Der eine schaut hin, als könnte er gar nicht glauben, dass sein Gegenüber überhaupt eine Freundin hat, und was wird das für eine Schabracke sein? Der im Pitbullsmoking schaut erst gar nicht vom Bildschirm auf, weil er gerade irgendwelche Okkupanten wegballern muss. Die Mutter seines Nebenmanns ruft an, und er sagt artig: „Ja, Mama, das mache ich in Ruhe, wenn ich zu Hause bin.“ Mamasöhnchen mit Feldhaubitze. Draußen zieht bald eine öde Landschaft vorbei, Felder und Wiesen, auf denen große Wasserlachen stehen. Die Sonne lässt sie aufblitzen, und da sie direkt gegen das dreckige Abteilfenster scheint, ist alles in gelben Dunst getaucht, obwohl der Himmel wohl blau sein will. Meine Stimmung sinkt, und auch die Titanic ist schlecht, jedenfalls muss ich nicht schmunzeln.

Nach Dresden wird man geschaukelt, mal sitze ich in Fahrtrichtung, mal entgegen, dann wieder anders rum, und auch Dresden hat einen Kopfbahnhof. Als wir glücklich aussteigen, sagt das Mamasöhnchen: „Jetzt müssen wir gleich ein paar Mädchen ansprechen, mal hören, wie die reden.“

Fortsetzung Häuser zum Fürchten