Jüngst nächtigte bei mir der Kulturwissenschaftler Steffen Gaukler. Er war auf der Durchreise, musste am nächsten Morgen den ersten Postzug nehmen, und ich versprach, ihn rechtzeitig zu wecken, da ich regulär um 5:30 Uhr aufzuwachen pflege. Gegen drei hörte ich ein helles Klingen, war kurz wach und stellte fest, dass es um diese Zeit noch gar keine Realität gibt. Zwar gab es in der Rückfront der Nachbarhäuser vereinzelte Lichter, doch sie waren wohl auf Toiletten versehentlich nicht gelöschte Lampen, also vom gestrigen Tag übriggeblieben. Mir wurde klar, dass die Realität immer am frühen Morgen wieder neu erzeugt werden muss. Sie schrumpft über Nacht zu einer amorphen Masse.
Die Leute stehen irgendwann auf und verrichten ihre alltäglichen Routinen, wodurch die Realität Form gewinnt. Es gibt gewisse Gemeinsamkeiten. Beispielsweise zeigt ein Blick aus dem Fenster, wie hinter den Fenstern der Nachbarhäuser die Lichter aufflammen, und man geht davon aus, dass die Nachbarn ebenfalls begonnen haben, ihre Alltagsroutinen zu verrichten, ihre Realität also gestalten wie ein lebensgroßes Diorama. Eine andere Gemeinsamkeit ist akustisch. Die Vogelwelt ist erwacht und vergewissert sich ihrer Existenz durch Tirili und Gezwitscher. Dabei wiederum zeigt die wiederentstehende Realität ein gewisses Beharrungsvermögen; man könnte es auch das Gedächtnis der Realität nennen. Ringsum in den Bäumen zwitschern Vögel und fliegen hin und her. Es könnten theoretisch auch pfeifende Hasen auf den Ästen hocken und umherspringen. Aber weil es gestern keine Hasen waren, sondern Vögel, ist es heute nicht anders. Diese Verlässlichkeit der physikalischen Realität ist den meisten Menschen selbstverständlich, so dass sie sich über den morgendlichen Entstehungsprozess und die damit verbundene Konstanz ihrer Realität niemals wundern.
Steffen Gaukler lehrt in der Nachfolge von Jeremias Coster an der RWTH Aachen bekanntlich das exotische Fach Pataphysik. Ich verdanke den inspirierenden Gesprächen mit ihm, dass ich die vorangegangenen Zeilen aufschreiben konnte. Aber ich bedauere, dass wir so wenig Zeit hatten. Zwar ließen wir den ein oder anderen Hasen springen, wie Goethe das Hin und her der Gesprächsthemen treffend genannt hat, aber ein wichtiges, höchst seltsames Thema streiften wir nicht. Darüber nächstens mehr.