Retro total – Über die bald mögliche Simultanität der Zeiten und wie sie das Ende der Menschheit bringt

Kategorie KopfkinoWie derzeit das Akustische und Visuelle vergangener Zeiten sehr genau reproduziert werden kann, zeigen Schallplatte und Film aus den 1960-er Jahren. Wie heute sogar dreidimensionale Klänge und Bildwelten sich digital speichern lassen und jederzeit reproduzierbar sind, so könnte es eines Tages gelingen, auch den haptischen Erfahrungsbereich sowie Gefühle perfekt zu konservieren und für spätere Zeiten reproduzierbar zu machen. Zusammen mit Bild und Ton ergäbe das die Simultanität der Zeiten ohne Zeitparadoxon, denn insgesamt schritte der Mensch weiter in der Zeit voran.

Angenommen also, man könnte alle individuellen Erfahrungen digital speichern und über Einspeisung ins Gehirn beliebig reproduzieren. Dann sehe ich den Menschen an irgendeinem Punkt seines Lebens innehalten und zurückgehen in die eigenen vergangenen Erfahrungen. Wenn nämlich die Träume und Hoffnungen der Jugend ausgeträumt sind, wenn das Leben fest gefügt ist und in Alltagroutine verflacht, wendet der Mensch sich gern der Vergangenheit zu. Wäre sie verfügbar, könnte der Mensch aufhören, in seinem Leben gegenwärtig zu sein und völlig in seine Vergangenheit eintauchen, als er noch jung, kräftig, dynamisch und begehrenswert war, während sein alternder Körper in einer Nährlösung liegt.

Zu Besuch im Gestern - Fotomontage JvdL (größer - klicken)

Zu Besuch im Gestern – Fotomontage JvdL
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Welche Konsequenzen hätte das für die Gesellschaft und für die sozialen Prozesse? Weil die Ereignisse, an denen man selbst beteiligt ist, bevorzugt werden gegenüber jenen, bei denen man nur Zuschauer ist, würde jeder danach trachten, sich in kurzer Zeit möglichst viel von den Freuden und Genüssen der Welt anzueignen, um eine große Bibliothek schöner, lustvoller, ja, wunderbarer Erfahrungen anzulegen. In früher Jugend mag der Mensch noch glauben, dass sich die Genüsse von selbst einstellen werden, denn er ist noch voller Hoffnung. Wenn jedoch die Illusionen zu schwinden beginnen, würde der Mensch in Lebensgier verfallen, was natürlich einem planvollen zukunftsgerichteten Leben widerspräche. So ist anzunehmen, dass sich bei vielen Menschen die Erfahrungen des gegenwärtigen Lebens bald zum Negativen verschieben würden. Daher sähen sie sich gezwungen, die Flucht in die Vergangenheit schon recht früh anzutreten.

Diejenigen aber, deren persönliche Erfahrungen reizarm sind, werden auf konservierte Fremderfahrungen zurückgreifen. Deshalb würde sich ein Wirtschaftszweig entwickeln, der reizvolle Erfahrungen produziert und den Armen zur Verfügung stellt. Indem nun diese Konserven ständig aufregender und variantenreicher werden, koppeln sie sich zunehmend von real erlebbaren Vorgängen ab. So werden sie zu Schablonen von idealen Gegenwelten. Von ihnen wird eine derartige Verführung ausgehen, dass viele Menschen auf eigene Erfahrungen in der realen Welt ganz verzichten werden.

Die reale Welt zu gestalten, würde zunehmend unnötig werden, was es aber schwerer machen würde, noch Erfahrungen zu machen, die sich zu erinnern lohnen. Folglich würden die vorproduzierten Fremderfahrungen immer wichtiger werden. Es gäbe paradiesische Musterleben und jeder könnte nach Belieben in die Rolle der Akteure dieser Musterleben eintauchen. Die eigene Identität würde als letztes unnötig. Indem dann die Menschheit nichts mehr hervorbringt, sondern sich nur noch in imaginären Welten aufhält, erlischt ihre Bedeutung. Zum Schluss würde alles um die Aufbewahrungszentren herum verfallen, die wilden Tiere, sich selbst überlassene und wieder verwilderte Hunde würden sich ungehemmt vermehren und die tatenlos herumliegenden Menschen fressen.
ende

7 Kommentare zu “Retro total – Über die bald mögliche Simultanität der Zeiten und wie sie das Ende der Menschheit bringt

  1. Wir sind ja schon auf einem guten Weg dorthin. Virtual reality ist nur ein weiterer Schritt, viele sind schon längst in künstlichen Welten versunken und leben zwar nicht von Nährlösungen, sondern von Tiefkühlpizzen und Kaffee, damit sie auch die Nacht zum Spielplatz machen können. Und warum so pessimistisch? Gibt es irgend ein Ziel, dass wir erreichen sollten? Dann träumen wir eben, dass wir es erreicht hätten. Ob es das Paradies ist, der Kommunismus oder der Gottesstaat, alles ohne Bomben und Kriege, einfach auf Abruf. Schöne neue Welt.

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    • Das fiel mir ein, als ich auf der Couch lag und im Radio ein alter Song lief, mit dem ich starke Erinnerungen verknüpfe. Als ich anfing zu schreiben, wusste ich noch nicht, worauf alles logisch hinauslaufen würde. Du hast Recht, es gibt einige Ansätze dorthin, aber der entscheidende Schritt wird eine Schnittstelle zum Gehirn sein, so ein Mensch-Maschine-Interface. Wenn die Sache klug angestellt würde, hätte sie zeitweise die von dir genannten positiven Effekte. Auch die Natur würde davon profitieren, weil das Hin- und herreisen unnötig würde wie auch anderer Raubbau an der Natur seltener würde. Freilich geht die Fiktion von einer homogenen Entwicklung der Menschheit aus und einer allgemeinen Zugänglichkeit des Systems. Und es müssten noch Menschen da sein, die alles organisieren und unterhalten.

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  2. Lieber Jules,
    ich finde diesen Artikel wunderbar! Exakt so wird es kommen, aber ich persönlich bevorzuge bis dahin noch die Möglichkeit des Vergessens.
    Ich bin zwar auch ein Technikfreak, bin aber überzeugt, dass von den digital gespeicherten Informationen nichts übrig bleiben wird. Kein Speichermedium ist dauerhaft.
    Darum fange ich jetzt schon an, meine Botschaft an die Nachwelt in Hinkelsteine zu meißeln. 😉
    Gruß Heinrich

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    • Dankeschön für das wunderbare Lob, lieber Heinrich. Weil wir bisher keine besseren Speichermedien als Steine bzw. Tonscherben haben, könnte die Menschheit rasch im Orkus des Vergessens verschwinden. Zuletzt bleibt Ihr Hinkelstein – gewiss eines der besseren Zeugnisse der Menschheit.
      Beste Grüße,
      Jules

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  3. Gut gelungen, die Fotomontagen! Das mach Lust auf mehr.

    „Folglich würden die vorproduzierten Fremderfahrungen immer wichtiger werden. Es gäbe paradiesische Musterleben und jeder könnte nach Belieben in die Rolle der Akteure dieser Musterleben eintauchen.“ – der Anfang ist ja schon gemacht, manche Leute fühlen sich auf dem „Traumschiff“ oder in einer Rosamund-Pilcher-Verfilmung mehr zu Hause als in ihrer eigenen Umgebung.
    Wenn die Manipulationsindustrie es schafft, das jeweilige Bewußtsein in junge und gutaussehende Androide zu verpflanzen, können wir ungeahnte Abenteuer erleben, während unsere sichen Körper von der Gesundheitsindustrie mit der Infusion des Nötigsten am Ableben gehindert werden – dieses Musterleben steht natürlich nur denen zu Verfügung, die sich das auch leisten können … manchmal ist es ganz gut, nicht viel Geld zu haben.

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    • Wir kennen das Eskapismus (Realitätsflucht) genannte Phänomen der Mediennutzung. Schon im 18./19.Jahrhundert wurde die Romanleserei deshalb angeprangert. Eine deutliche Steigerung gab es mit der Rollenspielwelle in der Fantasyliteratur. Der das Genre Fantasy wesentlich geprägte habende R..R.Tolkien hat den Eskapismus verteidigt: „Wieso sollte jemand verachtet werden, der sich im Gefängnis befindet und versucht, herauszukommen und heimzugehen? Oder, sofern das nicht geht: wenn er über andere Themen nachdenkt und spricht als über Wärter und Kerkermauern?“ Und natürlich zielen viele Filme und Serien, wie die von dir genannten darauf ab. Die Leser der Regenbogenpresse gieren förmlich danach, dass Ihnen das Pseudoleben gekrönter Häupter vor Augen geführt wird. Die Unterhaltungsindustrie in meiner Dystopie wird sicher darauf aus sein, ihr Angebot so billig zu machen, dass quasi jeder in den Genuss kommen kann, in fremde Welten einzutauchen. Und ich glaube, die Macher solcher Angebote werden in der realen Welt bald sehr einsam sein.

      Freut mich, dass dir meine Montagen gefallen. Die Anregung kam ja von dir. Ich habe mich damals daran versucht, wusste aber nichts damit anzufangen. Hier im Beitrag passts.

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  4. Es gibt sicher jede Menge Möglichkeiten. Aus aktuellem Anlass würde mir ein Hologramm einer verstorbenen Person angefüllt mit allen Aussagen, die sie je in irgendeiner Form geäussert hat, die Stimme aus Handykonversationen usw. gefallen. Nur als Übergang 🙂

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